Donnerstag, der 11. Mai 2006.

7.05:
[Villa Concordia Bamberg, Blick in die weiße Sonne, die mir leicht über Augenhöhe ins Gesicht strahlt.]
Ich komme und komme derzeit nicht früh hoch; es war wieder ein K a m p f mit den Weckern und Weckprogrammen. Es wird wirklich Zeit für Selbstdisziplinierung.
Saß gestern abend mit zwei Studenten draußen, die ich bei Alexandra kennenlernte, als ich Ratzfelix wieder abholte. Louise war nicht gekommen, keine Ahnung, was los ist; aber mir ist das wiederum ja nicht unlieb. Hab zweimal bei ihr anzurufen versucht, zweimal eine kurze Email geschickt, nun ja. Die beiden Jungs hatten viele Fragen, waren neugierig auf ‚den Schriftsteller an sich’, der eine Wirtschaftsinformatiker kurz vorm Abschluß, der andere hat gerade sein Germanistikstudium begonnen. Beide in einer Verbindung, das ist >>>> Titania Carthagas Thema, ich bin neuierig, leider schlagen sie nicht, also so was schaute ich mir s c h o n gerne einmal an: Roßhaare in die Degennarbe gelegt, damit auf immer ein Schmiß bleibt. Jedenfalls fragten sie, ob ich auch vor ihrer Verbindung einen Text lesen würde – weshalb nicht? sag ich mir. Von Literatur-als-Kunst ist bei beiden nicht viel Kenntnis: Dan Brown, Terry Pritchard (schreibt man ihn so?), auch Thomas Mann und Hermann Hesse. Was i c h dann nannte an Namen, kannten sie entweder ungefähr (Grimmelshausen) oder gar nicht (Döblin, Niebelschüz, Pynchon). Aber die Neugier ist groß, hier kann man säen. Heute werden sie beide in die Buchhandlung gehen. Dann werd ich etwas ‚stützen’ müssen, wenn sie in die Texte nicht hineinfinden. Der Dichter als ästhetischer Missionar – offen, freundlich, ohne Rancune. Soviel zu meine Arroganz.

Die Villa Concordia ist – für die Arbeit – sozial gefährlich; es entstehen Nähen, die ich genieße. Das genau geht aufs Werk, weil man mehr beisammensitzt, als daß man etwas tut. Ich merke deutlich dabei, wie wenig ich imgrunde Einzelgänger bin, wie gerne ich Gesellschaft habe; das verlangt dann aber eine ganz besonders disziplinierte Struktur, wenn einem nicht das Arbeitspensum zerbröckeln soll. So schwimme ich momentan. Denn eine Seite ARGO täglich ist entschieden zu wenig. Zumal jetzt der Mozart-Auftrag der Salzburger Festspiele dazugekommen ist, zumal ich die Kaschmir-Geschichte schreiben muß, zumal der Deutschlandfunk auf eine Idee wartet, damit ich dieses Jahr noch einen Hörstück-Auftrag bekommen kann. Und >>>> RHPP wartet auf das Libretto. Von alledem ist noch gar nichts da.
Und heute abend, Leser, wird im Barockgarten gegrillt; dem werd ich mich auch nicht entziehen wollen. Hm. Die Isolation meiner Berliner Arbeitswohnung hat einiges für sich. S o gesehen.

7.32 Uhr:
Mir fällt gerade, erschreckend, ein, daß ich das a u c h noch bedenken muß: Am Dienstag abend treffe ich >>>> zu einer ARGO-Lesung EA Richter in Oldenburg. Das bedeutet entweder, morgen nach Berlin fahren, um den Jungen abends wieder mit hierherzubringen, am Sonntag nachmittag dann zurück nach Berlin, den Montag in Berlin bleiben und am Dienstag früh nach Oldenburg weiterfahren, am Mittwoch früh nach Bamberg (was tu ich nur dann mit der Ratte?) – oder aber, ich fahre morgen nach Berlin und bleibe dort bis Dienstag früh – ach, was ein Hin und Her! Wie soll man da Struktur bekommen? Gut, daß ich die DTs’ aufgegeben habe; sie weiter zu entwerfen, würde allmorgens zu logistischen Knobeleien…

11.35 Uhr:
Gut vorangekommen wieder mit ARGO, dann wurde die Unruhe groß, ich schrieb eine fragende SMS; es kam eine furchtbare, emotional furchtbare Antwort zurück. Ich antwortete meinerseits und revidierte das Tagebuch; zwei Einträge nahm ich ganz heraus.
Und sitz nun hier und weiß nicht weiter.
Wollte frühstücken. Aber der Magen ist zu. Ich werde dennoch frühstücken. Und gegen das innere Chaos anarbeiten -: Ich stell mir grad vor, die Texte hinauszuschleudern, so, wie Arnulf Rainer zu Zeiten gemalt haben soll. Die Kraft, die dieses Elend hat, umlenken, sie nutzen – wie ein Kämpfer im asiatischen Kampfsport, aber nicht g e g e n jemanden, sondern für e t w a s: die Kunst. Nicht dieses Gefühl die Vorherrschaft gewinnen lassen, alles sei vergeblich.

(Ich erinnere mich eines Geschehens mit meiner Mutter, das nicht unähnlich war. Ich war ungefähr siebzehn und nicht mehr zu halten. Beide klauten wir, mein Bruder und ich. Ich blieb nachts lange weg, besoff mich. Die Mutter sperrte die Türen zu, damit ich nicht mehr reinkam. Ich kletterte durchs Fenster. Usw. Da stellte sie mich vor eine Entscheidung: Entweder ich gebe dich in ein Erziehungsheim, oder du ziehst zu deinem Vater. Den kannte ich damals noch nicht; ich hatte ihn zuletzt gesehen, als ich vier oder fünf war. Nun schrieb ich ihm einen Brief, Familienzusammenführung und so. Er war beglückt. Wir kamen sehr gut, wir kamen p r ä c h t i g miteinander zurecht. Doch eines morgens, völlig aus heiterem Himmel, mußte ich meinen Schlüssel abgeben, das Telefon wurde mit einem Schloß versperrt. Ich begriff nichts, fragte, er schwieg. Schwieg bis über unsere abermalige Trennung hinaus. Erst dreivier Jahre später erfuhr ich, was geschehen war. Meine Mutter hatte ihn nachts angerufen und ihm erklärt, weshalb ich eigentlich zu ihm gezogen war. Da scheint für ihn eine Hoffnung ein Glück zusammengebrochen zu sein. Und er wurde völlig abweisend und kalt. Blieb das, bis wir uns – nahe Bramstedt auf einem Bahnübergang – verprügelten. Und ich wegzog. Und meine Mutter erreicht hatte, was sie offenbar wollte: zeigen, daß ein gutes Zusammenleben mit mir unmöglich ist. Wir waren ihr beide, mein Vater wie ich, auf die Schippe gesprungen.
Es ist wahrscheinlich dieses ungute Schweigen, V e r schweigen, das mich dazu bringt, dieses Tagebuch derart offen zu führen.)

15.22 Uhr:
Ein schlimmer Tag. Es ist herrlich draußen, aber der Tag ist schlimm. Wie bekommt ein Vater, der liebt, Distanz? Wie bekommt er Distanz, ohne sein Kind aufgeben zu müssen? Ich habe das Gefühl, die Geschichte m e i n e s Vaters nun zu wiederholen, in einem sich permanent drehenden Gefängnisrad zu laufen, „du mußt nur die Laufrichtung ändern, sagte die Katze und fraß sie“. Heute abend kommt Göttinseidank >>>> June in den Messenger, ich werd mich von dem Grillfest dann absentieren, brauche emotionale Hilfe, eine F r a u muß mir raten, ich komme sonst überhaupt nicht mehr klar. Was ich mir für heute vorgenommen hatte – das Arbeitsvorhaben ist schon kaputtgegangen. Ach, die Psychoanalyse hat so g a r nichts geholfen. Bin völlig in meinen Emotionen verloren. Strudle wirble herum, schlage mit den Armen und schlucke dauernd brackiges Wasser. Wenigstens sind die zwei ARGO-Seiten von heute früh da.
(Nebenbei hab ich noch das Gefühl, Der Dschungel Opfer bringen zu müssen, keine beliebigen, sondern intensive, nahste. Daß ich gefordert bin: Bist du korrupt? Verrätst du eines – und sei es n o c h so wichtigen – Vorteiles wegen Deinen Beruf? Sie mögen es, Leser, an den Haaren herbeigezogen finden, aber für mich ist diese Frage auf das intensivste mit der Geschichte des Hitlerfaschismus verknüpft: auch da arrangierten sich Menschen mit der Unmenschlichkeit, weil sie ihre Lieben schützen wollten. Hätten sie sich n i c h t arrangiert, flächendeckend nicht, alle zusammen, es wäre zu einem solchen Unheil kaum gekommen. – Die seinerzeitigen Greuel sind ganz sicher nicht mit einer privaten Misere zu vergleichen, wohl aber sind es die Strukturen.

Der Profi neulich: „Du bist wie Kohlhaas.“ Und ich: „Kohlhaas war doch im R e c h t. Wieso wird das immer vergessen? wieso so untern Tisch gekehrt?“
Und ich denke jetzt: Ganz weggehen, ins Ausland gehen. Damit jedoch wiederholte ich erst recht meines Vaters Geschichte. D a gegen: Einen riesigen Dank an die Freunde. Es waren immer s i e, die da waren, es war n i e die Familie.)

20.01 Uhr:
Auch das ist die Villa Concordia in Bamberg, man faßt es einfach nicht: Eine Stipendiatin mußte unterschreiben (!!!), daß jeder Teller, der während der gerade stattfindenden Grillparty zerbreche, den Stipendiaten vom Stipendium abgezogen werde: jeder Teller und jedes Glas. Liebe Leser, f a s s e n Sie das?

6 thoughts on “Donnerstag, der 11. Mai 2006.

  1. Lieber Herr Herbst, wenn Sie bitte eine sehr spontane Äußerung
    gestatten: Echte Zweisamkeit kann nur entstehen,
    wenn ein beiderseits respektierter Privatbereich
    möglich ist. Ein auch zu Zweisamkeiten geführtes
    öffentliches Tagebuch steht dem entgegen. Und
    so gehen die veröffentlichten Zweisamkeiten
    kaputt.

    Herzlicher Gruß aus Berlin
    R.

  2. Paukboden & Mensur Mein lieber Alban, d a s zu organisieren wäre ja nun nicht das Problem (via Herrn Heinz z.B.) – wenn dabei Zuschauer zugelassen sein sollten. Daran habe ich allerdings so meine Zweifel. Ich werde das eruieren.
    Und ich warte sehnsüchtig auf Deine Antwortmail bzgl. Rom… lächelt

    1. Übrigens – wegen Pratchett – ich erinnere mich, dass Herr Heinz mir einst auf meine Frage hin, was er z.Zt. lese, mit niedergeschlagenen Augen antwortete: Pratchett. Ja ja, sag nichts, ich weiß… Und lächelte.

  3. Terry Pratchett heißt er genau. Es ist traurig, wenn er in einem Atemzug mit Dan Brown genannt wird. Terry Pratchett ist intelligent, amüsant und verkörpert jenen Humor, der in der englischen Sprache besonders trocken und effizient transportiert werden kann.
    Zu Dan Brown fällt mir nur sein Satz aus dem DaVinci-Code ein: (sinngemäß) Obwohl Da Vinci homosexuell war, besaß er doch einen brillianten Geist.
    Dass die Franzosen den Jardin de Tuileries dem Central Park von New York nachgebaut haben, mag zum amerikanischen Allgemeinwissen gehören:)

    Die drei in Klammern kenne ich auch nicht außer den Namen von Döblin, gelesen habe ich aber nichts von ihm. Das würde ich nicht überbewerten Die Frage ist eher: wieviel wird überhaupt gelesen?
    Und was wird gelesen, was früher einmal neu war.
    Wer kennt z.B. einen Owen Barfield? Gut, da gibt es jetzt einen Kongress in Leipzig, aber generell ist Tolkien mittlerweile “in”. Die beiden gehörten zur gleichen Gruppe der Inklings. Usw, usw,…

  4. du musst das laufrad verlassen …. und einen anderen weg finden…sagte eine freundliche maus…

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