Wie fang ich nach der Regel an? Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (33).

Wer als neuer Leser in ein Literarisches Weblog einsteigt, schlägt einen Riesenroman i r g e n d w o auf; das ist, als lernte er jemanden Neues kennen, der bereits viel Leben hinter sich und einiges noch vor sich hat: Sein Charakter muß erst erlesen werden, die Zusammenhänge sind meist unklar, und zwar, je ausgefeilter das Literarische Weblog, je komplizierter also die Form ist, auf die sich ein bislang Fremder einzustellen hat. Er wird nicht darum herumkommen, zu schmökern und Spuren zu folgen. Einen Anfang wird er kaum finden. Deshalb muß es an dem Autor des Weblogs sein, ständig neue Türen zu öffnen, was einerseits die alten Leser nicht langweilen darf, andererseits den neuen ermöglicht, wenigstens aufs Trittbrett zu springen, von dem man sich dann in den Waggon hangeln kann. Das ist ein poetologisches Problem, das sich so rigide erstmals in einem Medium stellt, das Netz-Literatur genannt werden könnte.
Nun gibt es selbstverständlich Romanleser, die immer schon irgendwo zu lesen angefangen haben und sich dann achronologisch durch den Text bewegten und bewegen; für die ist es sicher kein Problem. Das Gros aber will den nachvollziehbaren (erläuterten und erklärbaren) Zusammenhang. Den verweigert das Literarische Weblog nahezu von allem Anfang an, indem es zwar einerseits fast radikal persönlich ist (Tagebuch), andererseits aber ständig die Objektivierung sucht und ausformuliert. In die Spanne zwischen alleine diesen beiden Polen – es sind erheblich mehr – tritt nun der neue Leser ein, die Spanne geht als Energie quer durch ihn hindurch, ohne daß er anfangs die Ursachen wüßte; er muß es aushalten, nie auf der Höhe der Publikationen zu sein, die einander ja teils sogar widersprechen, so daß man sich nicht einmal auf normative Aussagen verlassen kann. Hier f l i e ß t wirklich alles, zumal der Autor eines Literarischen Weblogs seine oft spontanen Einfälle nicht nach “Abhängen” revidiert oder moralisch zurechtstutzt, sondern ziemlich sofort in die Cyber-Meere wirft; hielte er es anders, das eigentliche Element des Netzes wäre verfehlt, und man schriebe herkömmlich Literatur. Was ganz gewiß nicht falsch ist, aber in den Bereich einer anderen, einer tradierten Publikationswirklichkeit gehört, nämlich in ein Buch (oder in einen Film, in ein Bild usw.). Im Gegensatz zur Netz-Publikation kann sich das Buch aber nicht entwickeln, sondern ist immer schon fertig und verändert sich nur noch auf den Seiten der Rezeption, nicht mehr der Erfindung. Der Schaffensprozeß ist in einem Buch stillgesetzt. Das Literarische Weblog hingegen dokumentiert ihn nicht nur, sondern er s e l b s t ist zugleich Form wie Sujet. Das führt zu neuen ästhetischen Notwendigkeiten, auch zu einer anderen Rezeptionshaltung, die vorausgesetzt werden oder gereizt (‘gelockt’) werden muß. Damit das gelingt, also Leselust erzeugt wird, bedarf es ungewohnter poetischer Stimuli. Vorausgesetzt immer, es geht in dem Weblog um Kunst – das bloggende Chatten ist eine hiervon streng geschiedene Kommunikationsform, die halt plaudern, nicht aber schaffen, also nicht künstlerisch schöpfen will. Das hat sich der Literarische Blogger deutlich vor Augen zu halten, auch und gerade, wenn das Medium dazu verführt, die Bereiche einander überlappen, ja durchdringen zu lassen. Es ist eine lockere Disziplin erfordert, für die es noch keinerlei Koordinaten, also keine gelebte Tradition gibt. Inofern gilt hier poetologisch schärfer als sonstwo:



„Wie fang ich nach der Regel an?“
„Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann.“

Wagner, Meistersinger

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2 thoughts on “Wie fang ich nach der Regel an? Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (33).

  1. beim hastigen vorbeischauen … … nur um noch einmal mein interesse am weblog-als-roman zu bekunden. und, zugegeben unverbindlich, allgemeine & moralische solidarität unter literaten.

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