Unstrukturiertes Arbeitsjournal (1). 2. Februar 2005. Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (34).

8. 37 Uhr:

Abermals den Wecker überschlafen. Ich merke deutlich, wie die Depression sich wieder anschleicht oder sogar schon, aber noch nicht klar greifbar, im Raum steht. Indem ich mich hier öffentlich zu einer zu beschreibenden Figur mache, habe ich sie (nämlich beide) noch im Auge; auch die Depression wird so zur Figur, fast zu einer Person. Es ist, als machte man den Feind, der sich tarnt, durch seine Formulierung sichtbar. Deshalb darf ich auch in den unproduktiven Zeiten wie jetzt nicht davon ablassen: Ich bleibe so am Text, entferne mich nicht z u sehr. Dabei wäre es so einfach, direkt an ARGO weiterzuschreiben. Aber täte ich das, es bliebe wieder alles andere liegen.

Und n o c h ein wichtiger Gedanke, diesmal aus der Analyse nachgetragen:
“Wieso”, fragte der Analytiker vorgestern, “fällt es Ihnen so schwer, vor einem Amt Ihre Vermögensverhältnisse aufzudecken, wenn Sie doch zugleich nicht die geringste Scham haben, das in einem völlig öffentlichen Weblog zu tun?”
“Weil das Amt eine mir aufgezwungene Autorität ist – eine Anmaßung. Ich a k z e p t i e r e keine solche Autorität, absolut keine; es sei denn, sie ist durch Wissen und Persönlichkeit für mich evident. Ich beuge mich nicht vor Leuten, die nicht die geringste Ahnung haben, was künstlerische Arbeit bedeutet.” Ich hätte auch sagen können: Ich beuge mich nicht vor Leuten, die Pop und Schlager hören, ergänze aber: “Das Weblog hingegen ist meine freie Entscheidung und ein Teil meines Produktionsprozesses. Für die künstlerische Produktion ist Scham keine Kategorie.”
Tatsächlich habe ich bei einem Weblog genau das gleiche Gefühl wie beim Verfassen eines poetischen Textes, nämlich zu einem idealen Leser zu sprechen – diesmal jedoch nicht als strukturierender Autor, sondern als literarische Figur aus einem Roman. Und ich bemerke, daß die Bewegung des Literarischen Weblogs dazu geführt hat, diesmal das Tagebuch d i r e k t zu einem Paragraphen der Kleinen Theorie des Literarischen Bloggens werden zu lassen. So daß zum ersten Mal zwingenderweise die Kommentarfunktion bei einem Tagebucheintrag geöffnet bleiben muß. Es zwingen aber nicht mir fremde Personen oder ein mir übergestülptes soziales Gesetz, sondern die F o r m fordert es. Und das ist akzeptabel.

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23.55 Uhr:

Langes, sehr intensives Gespräch mit Eigner nach selbstgekochter Suppe und vielen Bieren. “Wo alles stimmte”, sagte er in Beziehung auf die Liebe, “geschah das Unglücklichste.” Oder, a u c h so ein Satz: “Wo wir alle Frauen überzeugen, da merken sie doch: Wir sind nur charmant.”

Das Unrecht, das wir anderen – und vor allem denen, die wir lieben – nur durch unsere Art zufügen, radikal zu sein und es sein zu müssen; andernfalls wäre die Arbeit schlecht. “Mach es dir endlich klar: Wir sind zu guten Ehemännern nicht geschaffen! Und wenn wir uns das n o c h so sehr wünschen.”

16 thoughts on “Unstrukturiertes Arbeitsjournal (1). 2. Februar 2005. Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (34).

  1. a, b , c. a) Sicher ließe sich verzeihend sagen , daß die durch und durch unsinnige Frage Ihres Analytikers , Sie immerhin dazu gebracht hat Ihren Standpunkt unmißverständlich darzulegen. Diese Differenz sollte einem denkenden und empathischen Analytik-er bekannt sein , insbesondere , wenn er mit Ihnen spricht.
    b) Falls Sie sich des kränkenden Amtsbesuches nicht entziehen können , bleibt als einzige Möglichkeit diese Erfahrung in Geschriebenes umzubiegen , zu -formen. Ist ja eh das nicht gerade neue , doch , immer wieder das neue erste Gebot der Kunst , lebenslänglich.
    c)Zu Wolfgang Rihm , noch : Ich habe seit langem kaum noch Musik hören wollen. Vor ein paar Tagen habe ich zum ersten Mal die Kurzgeschiche Robert Musils ” Das Fliegenpapier ” ( 1913 , GW , Bd.7 ) gelesen , und dann auch bald an Rihms ” Gesungene Zeit ” gedacht… , vielleicht höre ich mir die nocheinmal an in den nächsten Tagen , und schreib’ dann ” etwas ” dazu. Jetzt ist es so , daß ich immer wieder an die Landschaft / Natur meiner Kindheit denke , denke ich an Rihm. Die Gegend um Kehl , kleiner Ort an der dtsch.-franz. Grenze , Straßburg gegenüber. An diese Landschaft als Musik. Zum Beispiel an einen freistehenden Bunker , g e s p r en g t , oben noch , schief , die Kuppel… , und diese und die anderen Teile , gegeneinander schlagend , u.a. , wie in Rihms Tutuguri die Trommeln. Denke auch an den Satz Nonos , den mir ein Freiburger Mäzen , der schon früh Partituren Rihms erworben hat , mal erzählt hat. Nono sagte zu Rihm , anläßlich , nach der Aufführung v. Tutuguri , meine ich , er sagte : ” Wolfgang , Du brauchst eine Krise ! ”

    1. Zu Kehl. Das läßt mich aufmerken. Wie Sie als Andeutung >>>> h i e r lesen können, spielt Kehl in ARGO eine entscheidende Rolle; angelegt ist das bereits in THETIS (1998). Ich kenne die Gegend, nicht aber Einzelheiten. Erzählen Sie mir von diesem Bunker mehr? Das klingt nach einem Fundstück, das ich selbst so nie haben könnte, aber mir einen G e r u c h vermitteln kann, der unbedingt in ARGO hineinmuß, sozusagen die Erfindung mit der (indirekten) Anschauung erdet. Ein paar Einzelheiten würden reichen.

      Ich hab zur Veranschaulichung eben noch einen weiteren Kehl-Ausschnitt >>> d a h i n eingestellt.

    2. Muß meine Antwort verschieben, meiner Zahnschmerzen wegen , ich melde mich. Bin überrascht , daß Kehl
      diese Bedeutung einnimmt in ARGO. Gruß !

    3. Bunker. Zur Lage des Bunkers : Aus der Innenstadt Kehls kommend , eine breitere , zweispurig befahrbare Straße , die nach rechts direkt in einen abgelegenen Stadtteil führt , fährt man aber geradeaus ,sich plötzlich verschmälert , mehr ein Weg. Gerade zunächst , an 2,3 Wohnhäusern vorbei , stehen anfangs noch Obstbäume , rechts und links , dann ist die Landschaft offen : Felder , Mais , Weizen… , Wiesen , großer offener Raum , mit weitem Himmel. Der Weg nimmt dann irgendwann einen geschwungenen Verlauf , an den Feldern vorbei , und endet in einem neuen Stadtteil an einer vielbefahrenen Straße : Lastwagen etc. Sehr laut. Dort Gasthaus ” Zum Grünen Baum ” , etwas entfernter Gasthaus ” Zum Wilden Mann “. Etwa in der Mitte der Strecke d. Bunker. Nicht mitten in einem Feld , mehr in einem kleinen ” eigenen ” , um ihn herum. Umgeben von Erdhaufen , einzelne kleinere Bunkerteile liegen da , und obwohl der Bunker gesprengt wurde , wirkt er wie ganz , trotz tiefer Einriße , Spaltungen. Die , sehr breite Kuppel , auch sie , wie die Seitenwände , gespalten , aber nicht wirklich zerstört , sondern , nach wie vor fast , mächtig breit rund , nur ein bißchen schief. Sehr hoher Bunker , insbesondere für mich als Kind damals , aber nicht turmartig in die Höhe , mehr in die Waagrechte , Breite. In die der ebenen Landschaft. Die Wölbung der Kuppel ein Betonhimmel , unter ihm. ( Schreibe nachher , oder morgen weiter. Ist über 30 Jahre her. )

    4. Bunker ( 2 ) Am Himmel , in ihm , sehr klein , gleitend , Bussarde , manchmal , hoch oben.Einmal ein Zeppelin , bis auf den Schriftzug , den ich nicht lesen konnte damals , ” Goodyear” , die gleiche Farbe bzw. eine sehr ähnliche – dunkles Grau. Der Bunker war etwas heller , es sei denn , es hatte geregnet. In Bunkernähe habe ich nie Feldhasen über die Felder laufen seh’n. Einmal , aus einer Höhle , Erdhaufen ,eine warzige , braune große Kröte mit einem Stecken rausgeholt… Sehr schwer , die Kröte hat sich nicht bewegt , erst , dann , kaum.

    5. Oh, ich danke Ihnen. Dieses “Goodyear” ist großartig. Das w i l l erzählt sein. Und dieser (perspektivische) Kinderblick aufgefangen. Wie, weiß ich noch nicht. – Und das mit der Kuppel; ich muß spontan an Tarkowskis “Nostalghia” denken. D i e s e r Geschmack…. Ich habe Ihre Beschreibung erst einmal in die Materialien zu ARGO kopiert. Der junge Jason Hertzfeld könnte in dem Bunker eines seiner Mädel treffen – und den Bussard imaginieren, der über dem durchbrochenen Dach der Kuppel kreist. Als er eine Brust in der Hand hält, die Wärme spürt, das Drängen der sich zusammenziehenden Brustknospe, da hört er den heiseren Schrei und sieht hoch. Sowas.

    6. Ich werde das fortsetzen , muß mich jetzt hinlegen. Wichtiges , das Sie unterstützen könnte , fehlt noch. ( Hab’ leider keine Ahnung von ” Jason Hertzfeld ” , muß ich erst… erlesen… Die 2 Teile zu Kehl finde ich hochinteressant . D a s lauert hier , dort… , sehr lange schon , äußere mich noch dazu. ) Danke.

    7. Stelldichein und Raubvogel “Als er ihn aber reinsteckt, wird sie wild und fuchtig, kratzt ihn mit abgebissenen, sägescharfen Fingernägeln über Beine, Schultern, Arsch. Der rücksichtsvolle Slothrop versucht, sich zu beherrschen, bis auch sie soweit ist, als ihm plötzlich etwas Schweres, Gefiedertes, Kralliges ins Kreuz schlägt und wieder hochprallt, und in diesem Augenblick kommt’s ihm und Geli auch ZONNGGG! huiiii … zum Donner! Flügel flattern, und Wernher – denn er war’s – entschwebt in die Dunkelheit.” Pynchon, Die Enden der Parabel, S. 461 (Wernher ist ein Eulerich, der sich mit Schokoriegeln füttern läßt – Assoziation von wegen Stelldichein und Raubvogel)

    8. Ich kenne den Text. Habe ein Hörstück über Pynchon geschrieben, das im DLF, BR und SWR lief. Leider kann ich es aus rechtlichen Gründen nicht als Tondokument auf die fiktionäre Website stellen. Aber in “Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen” (siehe Bücherreihe oben) ist zumindest das Typoskript publiziert. Wenn Sie mögen, schick ich Ihnen auch eine CD-Kopie.

    9. Hörstück. Ja , das würde A beißt Z … schon freuen , nur , wie kann ich Ihnen meine Adresse zukommen lassen ? ( Meine e-Mail möcht’ ich hier nicht öffentlich machen , und , soweit ich den Dschungel überblicke , sind Sie auf diesem Wege ebenfalls nicht zu erreichen ? )

    10. Bunker ( 3 ) Ich bin mir sicher , daß ich , daß wir – denn wir waren mindestens zu zweit immer dort , manchmal auch zu dritt , Freunde – daß wir diesen Bunker berührt haben müssen. Mit den kleinen Fäusten draufgedrückt , immer so , gab es Widerstand , oder drücken mit der offenen Hand dagegen. Auch mit den Fingerspitzen berührt sicher , und in den Löchern , Fingernagel , gekratzt , es versucht : denn auch dort , wo diese Betonmasse nicht noch glatt und geschlossen dicht gewesen ist , sondern breiig aussah , mit den Kieseln , Steinen drin , war diese einfach nicht zu bewegen , und das hieß , du hast verloren , hast keine Chance , dieses ” Ding da ” antwortet nicht. ( Atmet Dir nicht zu. ) Wie etwa die Felder , oder das Motoren- , Fahrgeräusch eines Autos , fuhr denn mal eines vorbei.
      Überhaupt : sehr fern dort , von den Erwachsenen , den Spielverderbern… , also Schwerverbrechern , und doch dauernd damit zu rechnen , man wird entdeckt , u. verscheucht , ermahnt , bestraft… Verbote , immer wieder , dort hinzugehn.
      Schon begründet : wär man von der Kuppel gefallen… , unten ja kein weicher Boden , wie im Rheinwald u. den dortigen Bunkerresten , die aber ” kein Dach ” , keine Kuppel mehr hatten.
      Einmal haben C. und ich auf die Kuppel geschifft ( = uriniert ) , ” Komm’ , Baumleiter ! ” auf ein angelehntes Seitenteil hoch , über C.s Schulter , ich ihn dann hochgezogen , von da aus rauf auf die Kuppel. Schlechter , weil zu runde Oberfläche , und unsicher , Angst , schlechter Stand… Mein einer Schuh , d.h. die Socke , Sandalen, hat was abgekriegt. Dennoch : Stolz. Trotzdem : dieser Bunker war unerreichbar , hat meine Lebendigkeit , Freude gemindert , genommen fast , manchmal sicher auch wirklich genommen…
      Kann mich nicht erinnern , daß wir dort etwa gecatcht hätten. Kein Schwitzkasten , kein ” Gibst Du auf …? “. Oder : ” Bist Du mein bester Freund ? “.

    11. Bunker ( 4 ) Nirgends lag auch Müll um den Bunker , oder in ihm , der zu entdecken gewesen wäre , und bunt. Auch keine benutzten Kondome , wie auf der Kiesbank mitten im Rhein. ( Auf der Kiesbank auch kleine Tomatensträucher. Sonst Weidenbäume , vorwiegend. Manchmal hing eine Frau Wäsche auf , auf dem vorbeifahrenden Schiff. Das machte auch das Wäscheaufhängen an Land etwas unmächtiger. Steine von der Kiesbank in’s Wasser werfen , und nach Frankreich rüber , nicht geschafft , aber sehr weit. )

    12. Bunker ( 5 ) Im Sommer war die Kuppel des Bunkers oft so heiß , daß das erste Knie schon mit dem man sich abstützen mußte , schmerzte , dann auch die Hand kurz , zog man das Knie weg , wenn es nicht mehr auszuhalten gewesen ist. Bedrückter Rückzug , und vom Pfeiler springen , ohne Gelungenes zudem , und so tief runter. Aber immer wieder hin.
      Von diesem Bunker aus konnte das ganze Gelände vor dem Hochwasserdamm beschossen werden. ( Hinter dem Damm : der Rheinwald , in ihm weitere Bunker , dann der Rhein. )
      Kürzlich ein Photo ersteigert , bei ebay. Bunkeranlage versteckt. Grasbewachsen , Gestrüpp , Bäume drüber. Offener quadratischer Eingang , Mondrian , Erdvagina , oder , Dialekt f. ” Erde ” , Grundvagina.
      Dieser Bunker meiner Kinderzeit hingegen , mehr ” Bauch “. Keine Tiefe runter. Daher : schwangerer Betonbauch. Der Bauch , die Kuppel , zum Himmel hin.
      Buddha ohne Gesicht. Also kein Lächeln , aber auch sonst nichts , keine Mimik. Nichts Bewegtes , nichts Hörbares. Keinerlei Verbindung , kein ” Hin ” – zu Hörbarem , zu Bewegtem. Auch kein Aufnehmen.
      Aber diese Schönheit und Wucht , gesprengt selbst noch.
      Du bist schön und tot.Immer noch da , Mutter.

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