„Kindertage“. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 1. Juni 2013: Fahnenpause. Und ein interdisziplinäres Labor im Haus der KUlturen der Welt.

„Kindertag“, ach, wie lange liegt das für mich zurück!
Bis Adrian zwei war und *** ich noch nicht getrennt
waren, habe ich auch immer einen gehabt, immer sonntags;
„Familientag“ nannten wir das. Um nicht aus der
Kontinuität meiner Arbeit zu fallen, gewöhnte ich mir
in dieser Zeit an, um 4.30 aufzustehen; dann hatte ich im-
mer, bis die anderen wach waren, ungefähr vier Stunden
Zeit für den Schreibtisch. Ach, lange her. Grad, als ich das
Wort las, wrang mir wer kurz das Herz aus.
(An meinen Verleger. Soeben um 5.45 Uhr.)
5.50 Uhr:
[Arbeitsjournal. Martin, Ballade für Violoncello und Klavier.
Dauerregen.]

ArgoFahnen-Pause. Kindertag sei heute, schrieb mir mein Verleger, und morgen der heilige Sonntag. Das bremst mich nun aus, macht mich fast ein bißchen hilflos. Bis Seite 404 bin ich gestern spätabends gekommen und erwartete für heute eigentlich den nächsten Schwung. Jetzt muß ich irgendwie umdisponieren und wohl doch noch während der Fahnenarbeiten an das Neapel-Hörstück, das aber sowieso drängt, schon finanziell, um nicht im August nach der Rückkehr aus Italien mit leeren Händen dazustehen. Außerdem darf ich nicht vergessen, daß über mir allezeit das Schwert des Steuerbescheides kreist – schon viel zu lange über Wolken, die es unsichtbar machen, wiewohl die Drohung spürbar ist; aber in diesen Tagen hängen die Wolken derart tief und dicht, daß ich dazu tendiere, sie zu verdrängen. Auch aus seelischen Gründen; solche durchregneten, ja durchgossenen Tage schlagen mir aufs Gemüt, zumal, wenn sie wie gestern mein Lauftraining unterbrechen, weil sie zu aller Nässe auch noch kühl sind. Dann muß nur noch eine Kleinigkeit hinzukommen, und ich bin so quasi hilflos wie jetzt: Sonne macht optimistisch. Jedenfalls hat mir das Wort „Kindertag“, als ich es – den ersten Latte macchiato vor mir – eben las, ganz unversehens zugesetzt. „Nun, Phantasie! laß deine Adler fliegen“, >>>> schreibt Gottfried Keller; ich hatte immer die Zuversicht, daß der danach folgende Vers nicht stimmt.
Dauerregen, Dauerregen. Zwar war ich mit meinem Sohn für gestern mittag zum Laufen verabredet, und zwar kam da auch mal für ein/anderthalb Stunden die Sonne etwas durch, so daß es ein wirklich guter Zeitraum war, aber der Bursche verspätete sich, bis massiv der Regen eingesetzt hatte; der hätte jedes Dauerjoggen zu einem Unternehmen gemacht, für das man zwischen den Zehen Schwimmhäute braucht, oder man läuft gleich mit Taucherflossen los. Also war ich ärgerlich und grummelte noch bis zum Abend vor mich hin und fraß dann auch wieder Schokolade gegen den Frust. Jetzt hoffe ich für heute auf wenigstens eine Stunde Regenruhe; sowie die einsetzt, laufe ich los; werde mir sogar, damit kein Zeitaufschub entsteht, die Sportsachen anziehen und mit ihnen am Schreibtisch sitzen. Auch fürs Training gilt für mich das oberste Gebot der Kontinuität; Pausen machen mich nervös, zumal, wenn ich wegen des Wetters sowieso schon an der Kante der Melancholie entlangschramme.
Möglicherweise wird es den ganzen Sommer über kalt und naß bleiben; die Prognosen stehen gegenüber einem „wirklichen“ Sommer auf 1:1. (Die unangebrachte Kühle ist eine Folge der globalen Erwärmung; ich schrieb es bereits in einem früheren Arbeitsjournal: Am Nordpol schmilzt die Eisdecke, weshalb die wärmere Luft dort zunimmt; die steigt auf, und die schwerere Kaltluft unter ihr kann zu uns hindurchziehen – was sie auch tut, weil sie nicht menschlich und ja auch überhaupt nicht denkt, geschweige mitfühlt, sondern ihrem am Tropf der Naturgesetze hängenden Instinkt folgt, der, wenn’s eine Trasse gibt, sie auch entlang will: Vakuen müssen sich füllen.)

Immerhin, um fünf aufgestanden, nachdem ich bereits um halb zwölf im Bett lag; und eine Trainingspause soll ja gesund sein. So laß ich denn die Rationalität statt meiner Adler fliegen. Viel Mut allerdings verschaffen mir >>>> solche Zuschriften, auf die >>>> solche noch ziemlich starke Siegel schlagen.

12.52 Uhr:
[Noch außer Atem, schwitzend noch:]
Das hat mein Gegrummel nun völlig besänftigt: Unversehens hörte es zu regen auf. Ich sofort meinen Sohn angerufen, der aber noch, hieß es schlafe. „Dann weck ihn auf.“ – Zwanzig Minuten später drüben gewesen, den Burschen abgeholt, ab auf die Bahn. Wo nicht nur er dann wirklich gut lief, sondern auch ich: statt meiner dreizehn (einhalb) Runden tatsächlich fünfzehn (einhalb), also statt fünf sechs Kilometer, wenn auch nicht sehr schnell: 43 Minuten. Ich war mal bei zehn Kilometern in 52 Minuten; da käm ich auch gern wieder hin. Dann Krafttraining, teils dort, teils hier an den Hanteln. Jetzt unter die Dusche und eine Stunde Mittagsschlaf. Und danach zurück an den Schreibtisch. Immerhin haben wir, >>>> Schulze http://parallalie.twoday.net und ich noch eine klasse Idee für den Giacomo Joyce ausbaldowert. Lassen Sie sich überraschen.

Sehr gefreut heute früh hat mich aber auch >>>> Marc Reichwein. Und ich habe die sehr schöne Site von Moritz Gause entdeckt, den >>>> paratonnere, dem ich nicht nur deshalb viele Leser- und Betrachter:innen wünsche, weil die Wetterlage unsres frühen Scheinsommers nach einem solchen geradezu jammert.

15.10 Uhr:
Geradezu bedrückend schön ist Frank Martins Requiem, das ich eben erst kennenlerne. So erschließen uns >>>> gelungene Opern– und Konzertabende, wenn wir sie auch über sich selbst hinaus begreifen, mit einem Mal ganze Werkcluster. Dieses Requiem geht bereits im Introitus so ergreifend los, danach kann man geradezu bildlich hören, was unter „freitonal“ zu verstehen ist. Auch und gerade in diesem Zusammenhang ist mir >>>> dieser kurze Beitrag, nämlich zur Verbindlichkeit, ausgesprochen wichtig: Verbindlichkeit & Engagement; das wieder hängt mit meiner ausgeprägten Empfindlichkeit gegenüber Haltungen zusammen, die korrupt sind oder sich der Korrumpiertheit nähern. Für mich wird das ein ewiges Thema bleiben, sei es in der Ästhetik, sei es in den alltäglichen Anpassungserfordernissen.
Komisch aber, daß es in Der Dschungel heute so ruhig bleibt. Es scheint tatsächlich sowas wie Wochenenden zu geben. Immerhin hat mich Broßmann vorhin noch >>>> daran erinnert: Bild – Wissen – Gestaltung: Ein interdisziplinäres Labor. Zumal im Haus der Kulturen der Welt, das zu meinen liebsten Gebäuden in Berlin gehört. Um 17.30 werde ich hinradeln. Falls Sie mich also treffen wollen.

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