Auch Eine kleine Trauermusik ODER Die Väter und die Gene. Das Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 5. September 2012. Dazu Erinnerungen.

4.54 Uhr:
[Arbeitswohnung. Schumann, 2. Sinfonie (>>>> DCH).]

Zu Robert Schumann habe ich immer noch nicht wirklich ein Verhältnis; ich höre das Konzert in der digitalen Konzerthalle, weil meine gestrige Früharbeit mitten in ihm aufhörte, ich mich dann anderem, eben auch anderer Musik, zuwandte, ich sie jetzt aber „abschließen“ will. Ich denke (fühle) oft in Zirkeln. Außerdem ist der alte Abbado beeindruckend. Ich erinnere mich, daß mir vor zweieinhalb Jahrzehnten, vielleicht ist es sogar ein wenig länger her, vor der Alten Oper Frankfurt die Tränen kamen, weil ich keine Karte mehr ergattern konnte, als er dort Mahlers Fünfte dirigierte; da war noch er, nicht Rattle, gewählter Chefdirigent der Berliner Phiharmoniker: sie waren s e i n Orchester, nachdem sie über Jahrzehnte Karajans gewesen. Keine Karte mehr heißt: keine, die für mich erschwinglich gewesen wäre. Ich schrieb damals noch keine Musikkritiken, kam also nicht an Pressekarten, sondern kaufte Ticketts immer für die billigsten Plätze und setzte mich dann um, wenn ein besserer Platz freiblieb. So hielt ich es, seit ich siebzehn war, auch mit der Oper. Wenn man zwei- bis dreimal die Woche hinging, war das als ein junger Mann anders gar nicht möglich, der BAFÖG bekam und einfach keine Zeit hatte, sich noch anderswo Geld hinzuzuverdienen. Weil er doch schrieb. Abbado war jedenfalls an die Weltspitze der sinfonischen Musik aufgestiegen, neben, damals, Solti in Chicago; beide hochbedeutende Mahler- und Wagner-Dirigenten; Bernsteins wichtige, für sie prägende Zeit mit den New York Philharmonic war bereits über ein Jahrzehnt vorüber. Zu dem habe ich immer ein bißchen Distanz gehabt, weil ihm für meinen Geschmack U und E allzu durcheinandergingen; zugleich habe ich ihn heimlich immer ein bißchen bewundert. In jedem Fall kenne ich keine sowohl intensivere wie gleichermaßen so unmittelbar eingängige Einspielung von Bergs Violinkonzert als die seine mit Isaak Sterne. In meiner – kurzen – New Yorker Zeit stand ich, ohne das beabsichtigt zu haben, plötzlich vor seinem Grab auf dem Green-Wood Cemetery. Ein paar Steinchen lagen frisch darauf.
Mein Herz schlug sehr für Solti, mehr als für Abbado. Aber der war doch zugleich der Mahler-Apologet Europas. Und er hatte mit Nono und Pollini die sinfonische Musik, jedenfalls in jungen Jahren, politisch aufgefaßt. Also wollte ich hin. Unbedingt. Er imponierte mir. Nun kam ich nicht hinein. Ich erinnere mich: 50 Mark sollte die Karte kosten, die ich noch bekommen hätte. Völlig unmöglich. In keinem Verhältnis zu meinen sonstigen Ausgaben und Möglichkeiten. Später und noch am nächsten Tag bekam ich immer wieder Wutanfälle; Do erinnert sich vielleicht. Daß Solche mit Leidenschaft ausgeschlossen sind, die mit Geld aber nicht. Es müsse für Afficionados Sonderregelungen geben, Sonderregeln überhaupt; das sei ein Menschenrecht. In diesem Sinn. Bis heute wirkt das in mir nach,
der ich wieder zehn Minuten zu spät, um zehn nach halb fünf nämlich, aufgestanden und deshalb ein wenig in Verzug bin mit meinem Arbeitsjournal (Latte macchiato, erste Morgenpfeife). Ich werde Argo deshalb heute nachstellen und gleich an die Lektoratsübertragungen für den Essayband gehen; bis heute abend will ich fertig sein, um das Dokument noch vor der Wiesbaden-Reise an die >>>> Kulturmaschinen abgeschickt zu haben. Nur „zwischendurch“ noch den achtzehnten >>>> Giacomo Joyce übersetzen, damit der Zug erhalten http://bleibt.in diesem Projekt.
Wir waren afrikanisch essen gestern abend, die Löwin, passenderweise, und ich. Sie, auf meine Empfehlung, Springbock, ich Zebra. Zebra muß man nicht haben. „Bitte sehr, Ihr Esel“, sagte der schmalgelenkige äthiopische Padrone, als er den Teller vor mich stellte. Vorher hatte ich die Zwillingskindlein hiergehabt; sie hatten unbedingt, statt Pizza essen zu gehen, Spiegeleier zum Abendbrot haben wollen, von mir, hier in der Arbeitswohnung. Manchmal geht mir ein bißchen das Herz zu, weil ich nicht wirklich der Vater beider bin. „Vielleicht kommt es gar nicht darauf an“, sagte die Löwin. „Sie sind für die beiden seit ihrer Geburt da, in zwanzig Jahren wird d a s zählen. Auch und gerade für die beiden.“ „Ich werde i m m e r für sie dasein“, sagte ich, „daran gibt es keinen Zweifel. Und dennoch kommt es darauf an.“ „Worauf?“ „Auf die Gene“, sagte ich. Vielleicht ist das für Frauen weniger nachvollziehbar als für Männer, denn sie sind in jedem Fall die genetischen Mütter. Sagen wir: für einige Männer. Vielleicht spielt auch hier Dominanz eine Rolle. Ich kann dem nur nachspüren, was da in mir ist, es noch nicht ganz erfassen – ganz heißt: nicht nur im Kopf. Da ist es absolut kein Problem, und sowieso steht da meine Entscheidung vor. Ein Rest ist aber Traurigkeit. Manchmal erschrecke ich leicht, weil ich denke: wenn deinem Sohn etwas passiert… was tust du dann? Dann ahne ich eine riesige Leere, wie sie mich erfassen und in sich hineinsaugen würde, leersaugen würde, wie alles dann zusammenbräche, auch meine Arbeit. Vielleicht will man deshalb ein, wenigstens, noch zweites Kind: um sich vorzuschützen.
Daß ich an Mahlers Kindertotenlieder denken muß.
Der Schumann ist vorüber, das Publikum tobt. Warum? Was gab ihm die Musik? Kann aber auch sein, sie ovatieren dem vorigen Musikchef des Hauses. „Wie er die Hände hob, damit es im Publikum ruhigblieb, als die Sinfonie“, der Profi berichtete von einer Aufführung Mahler IX., „so leise ausgeklungen war“, „morendo“, sagte ich, „wie da“, sagte er, „wirklich minutenlang Stille -“
Ich hab so die Blicke des Zwillingsmädleins im Herzen, die machen‘s mir grad etwas schwer. „Ist aber nicht wirklich ein Problem“, sagte ich übers Essen hinweg. „Nur manchmal steigt das auf. Daß ich nicht wirklich befugt bin. Daß das so sein Recht hat. Das zu akzeptieren muß ich lernen.“

[Hindemith, Nobilissima visione. (>>>> in der CDH.]
11.06 Uhr:
„So schön habe ich das noch nie gehört“, sagte ich der Löwin, als sie eben in meine Kopfhörer hineinfragte, was denn lossei… – und >>>> schrieb es. Ich saß >>>> an dem Joyce und hörte zugleich die Musik, da brachen die Tränen heraus, wirklich Tränen. Ich kenne das Stück sehr gut, innigst, aber das jetzt eben – hat mich fassungslos gemacht. Wie diese ganze Frau, Magdalena Kožená, imgrunde schon seit >>>> Rattles/Sellars Matthäus-Passion. Aber das jetzt war nicht mehr irdisch.
Ich brauche jetzt ein bißchen Zeit, um irgendwie wieder ins Lot zu kommen.
Arbeit.
Arbeit hilft.

18.45 Uhr:
Bis eben an den Lektoratskorrekturen gesessen, unterbrochen von anderthalb Stunden tiefschlafender Mittagspause. Bin auch fertiggeworden. Nur die Reihenfolge der Essays „steht“ noch nicht. Aber darüber kann ich mir morgen auf der Fahrt nach Wiesbaden Gedanken machen. (Muß überhaupt mal einen Zug raussuchen).

Noch einmal, weil auch die Löwin das hören muß, die Kožená. Danach geht‘s in die Bar. Treffen mit dem Profi, von dem ich schon gern wissen will, als was er die Löwin nun angeheuert hat.

4 thoughts on “Auch Eine kleine Trauermusik ODER Die Väter und die Gene. Das Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 5. September 2012. Dazu Erinnerungen.

  1. oh ja, es kommt drauf an. Auf die Gene. Interessant, dass Sie für die mich durch-wirbelnden Gefühle Worte v-er-fassen, die ich wiederum aufsauge und dem Echo in mir nachspüre. Ich wurde Mutter. Vor wenigen Jahren. Keine Morgenübelkeit, keine entodermialen Choreographien, die ihre Steppschritte auf Körper, oder Seele hinterließen. Den nun pubertierenden Sohn gebar mein Gatte in mein Leben. Da ist er. Fertig. Unfertig. Die Liebe breitet sich wie ein Infekt in mir aus, überwindet Wenn.s und Aber, kreiert neue gefühsgetränkte Wirklichkeitskonstruktionen. Letztens, als ich ihn im Schlaf überraschte, er in so einer verletzlichen, offenen Unschuld sich unwissend feil-bot, da überkam mich zärtliche Traurigkeit Ich deutete selbige als eine abArt einer bis dato mir an mir unbewußten Okkupationsdynamik. Rückblickend werde ich nie das Werk seines Selbst mit der Hinzugabe meiner physischen Bauelemente erklären können. Meine Seele mag ihn fluten, umspülen, seine Ufer tränken, evtl befruchten.

    Die Dominanz hängt mir nun nach… ich versuche sie einzufangen und hoffe, einen passenden Kescher zu er.finden. Ich selber vermute Sehnsucht in mir… Sehnsucht nach einem Kind. Einem Kind, dass sich aus den Strängen meines Fleisches und Blutes webt. Ein Teppich, dem ich Webstuhl sein mag. Ich sollte diesem bizarren Wunsche nachgehen, ihn durch-leuchten und heim-suchen, bis ich ihn los.lassen und verstehen kann, was er mir verrät. Über mich. Und meine Dominanz.

    1. “Meine Seele”@Falkin”mag ihn fluten, umspülen, seine Ufer tränken, evtl befruchten. ” Das ist, ums mit dem Parsifal zu sagen, “ein andres” – – hier die – Liebe. Wie sie uns anfällt und einnimmt, bisweilen wirklich plötzlich, bisweilen aufkeimend, über die Jahre, und wir sehen ihr zu, wie sie wächst und dann – eine erste Blüten treibt, vielleicht die einzige. Da waren wir dabei. Nicht dabei waren wir, wenn wir uns verliebten. Das, wenn es richtig ist, geschieht, wir selbst, imgrunde, sind dafür egal. Es realisiert sich: nicht anders, als das, was ich immer wieder als Allegorien wirken sehe.
      “Meine Seele mag ihn fluten, umspülen, seine Ufer tränken, evtl befruchten” ist ein, Falkin, ganz wundervoller Satz. Und der Ausdruck “zärtliche Traurigkeit” auch: wundervoll auf, eben, traurige Weise. Was ich hingegen bei meinem “wirklichen” Sohn beobachte und oft heimlich betrachte, ist die Synthese, die er aus seiner Mutter und mir ist: wie da ein Drittes entstanden ist, das ganz es selbst und doch aber von deutlicher Herkunft ist, einer, die wir nicht anerziehen, sondern gleichsam instinktive Verhalten, auch kleine Ticks, besondere Gesten, seltsam nahe Blicke. Wir erkennen Muster, und sie machen uns glücklich und stolz, auch dann, wenn sie uns grad mal wütend machen (“Muß das denn auch noch sein?” – Ja, muß).
      An unseren sozialen Lieben arbeiten wir: tun etwas für Nähe. An den genetischen tun wir gar nichts. Sie sind einfach da. Das genau ist das Wunder. Ob die Geliebten bei uns sind oder nicht, ob sie verläßlich oder unverläßlich sind, ja selbst: ob sie uns wiederlieben: wir lieben s i e. Ohne irgend ein eigenes Dazutun.

      Dank Ihnen für Ihren poetisch-schönen Kommentar.

  2. springbock ist sehr schmackhaft, aber springbock ist auch unglaublich schön, wenn man ihn springen sieht in gruppen. fleischverzehr ist mir über die jahre immer unwichtiger geworden, wenn ich auch weniger orthodox geworden bin, aber ich vermisse es einfach nicht. merke ich, wenn ich mal wieder was gegessen habe, auf fisch zu verzichten fiele mir ungleich schwerer. ähnlich mit kindern, die man nie hatte, sie vermisst man irgendwie auch nicht, wenn man andere kinder sieht, die wird man nur vermissen, wenn man welche hat. manchmal frage ich mich, wie ist das leben für eltern, die solche wie mich ihre kinder nennen, die irgendwann einfach weit weg gehen, sicher auch nicht einfach, bei meiner mutter sehe ich, sie macht nun das, was ich auch tue, sich um dinge kümmern, die ihr freude machen, schach, literatur, hund, freunde. und wenn ich dann denke, dass man den körpern der frauen ja auch einiges zumutet mit schwangrschaften, was dann ja auch oft folgeschäden verursacht, dann hab ich schon oft gedacht, warum nicht einfach eier legen und ausbrüten. und, ihrem sohn passiert nix, wieso sollte es das, er wird sich mal beim skaten den knöchel verstauchen, und nach dem ersten kiffen mal kreislaufprobleme haben, aber das wars dann auch schon. als jugendlicher lebt man irgendwie ewig und weiß von endlichkeiten wenig und das allein schützt einen vor vielem.
    und, wie las ich neulich im spiegel, trotz familiärer ähnlichkeiten, der genpool fordert tatsächlich ein völlig neues drittes zu tage, das freut einen ja auch so als individuum, wenn ich meine eltern auch ziemlich gut finde, aber ein abbild möchte wohl keiner sein, manchmal, wenn sich mütter und töchter sehr ähneln, oder väter und söhne, was ja vorkommt, finde ich das ein bisschen spooky, auch, wenn man bei aufwachsenden kindern sieht, dass sie irgendwie jedem in der familie mal ähneln, oma, opa, geschwistern, bis sie dann ganz sie selbst werden, ist schon irre, wie sehr man sich in den ersten 20 jahren andauernd verändert äußerlich, und trotzdem hat man ein starkes gefühl davon, dass man man selbst sei, die ganze zeit, vielleicht so stark, wie nie wieder danach.

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