Jamesville/Paradise (جنّة ). Im erschreckten wieder-Argo-Journal des Dienstags, dem 24. Juli 2012. Doch ein Ritter der Künste darin.

8.32 Uhr:
[Arbeitswohnung.]

Ich habe etwas gebraucht, um mich vom Erschrecken zu erholen, das gestern, als ich nachmittags meinen Briefkasten leerte und diesen Absender sah, in mich gefahren ist – so sehr, daß ich für den Rest des Tages gelähmt zur lebensgroßen Puppenfrau starrte, die auf meinem Ofen sitzt, den Wolpertinger und ein Päckchen im Schoß, worinnen, nach wie vor verpackt, Dessous, die vor Jahren als ein Geschenk nicht angenommen wurden. Das wirft man nicht weg, man schenkt es auch nicht andern, selbst, wenn sie paßten, sondern man bewahrt‘s: so werden sogar „Körbe“ Poesie.
„Bitte nehmen Sie am Mittwoch den Flug nach Jamesville/Paradise, das dortzulande Dschanna heißt.“ In bestem Deutsch formuliert, wenn auch ein wenig altertümelnd, sagen wir: altfränkisch. Aber Jamesville. wo soll das liegen? Ich hab es nicht gefunden, also keines mit dem Zusatz „Dschanna“, bzw. Paradies, auch nicht in der arabischen Schreibversion. Der Flug aber ist bestätigt unter meinem Namen, die Buchungsnummer stimmt; ich hab in Tegel angerufen. Nur daß er nicht etwa in diese ominöse Stadt – oder was immer das sein soll – führt, sondern nach – Beirut. Man werde mich am Flughafen abhole, ich möge mich um mein Visum kümmern, Berliner Straße 127, Pankow, also nicht weit von mir. Mein Antrag sei bereits avisiert, man brauche nur noch meinen Paß.
Ich muß meinen Leser:innen, denke ich, nicht eigens erzählen, wer die Nachricht, besser: Aufforderung geschickt hat; auf so etwas wie „Paradies“ kann >>>> nur einer kommen und, fürchte ich, es auch umgesetzt haben. Es gebe in den Bergen ein kleines Areal, schreibt Le Duchesse (der eigentlich Contesse heißen müßte; ein wahrscheinlich nicht mehr zu revidierender Fehler der in dem Buch erzählten Realität), bzw. hat er schreiben lassen, das noch aus französischen Zeiten als eine Art privates Kolonie‘chen verblieben (wie das wohl auf Französisch geklungen hat?) und väterseitig in seinen, des Gräfin, Besitz gekommen – darin wiederum ein, so steht es im Brief, „freies gebundenes Haus“. Und jetzt, wirklich wörtlich: „Man wird Sie darin prüfen.“

Sprachlosigkeit, ja. Aber auch Ärger. Zum einen über diese Anmaßung, zum anderen wollte ich endlich, nach >>>> der langen Reise, meine Routine wieder aufnehmen. Wenn meine Gegner davon erzählen, daß ich „workoholic“ sei, nicht zu leben verstünde, besessen sei usw., weil das Leben nicht dazu da sei, dauernd zu arbeiten – so ist ihnen eben zu entgegnen: ist man nicht diszipliniert, kommt wenig dabei raus. Ja, es drängt mich an den Text, außerdem ist enorm viel anderes noch zu tun, zu schreiben, Aufträge, Fahnenkorrekturen, und dann eben nicht nur Argo, sondern auch die Neue Fröhliche Wissenschaft, deren Umfang und Bedeutung mir allmählich über den Kopf wächst; ich habe also gar keine Zeit, eigentlich, zumal, heute früh… endlich bekam ich‘s wieder hin, früh aufzustehen, früh genug jedenfalls, Viertel nach fünf, und saß auch gleich mit dem Latte macchiato am Schreibtisch und – ich faß es selbst kaum – durchjagte geradezu einunddreißig Seiten des Romans, auf S. 780 von den 855 Typoskriptseiten bin ich jetzt, würde gerne weitermachen. Aber ich kann mich der Aufforderung nicht entziehen, auch wenn das unverschämt ist, enorm unverschämt, daß mich da einer „prüfen“ will. In was denn wohl? Und überhaupt!
Andererseits. Im Libanon bin ich noch niemals gewesen. Schlägt man so etwas aus? Nein, nicht der, der lebt, nicht einmal dann, wenn die Umstände zweifelhaft, vielleicht sogar anrüchig sind – und wohl auch g e r a d e deshalb nicht. – Übrigens wurde der Flug auf meinem Herkunftsnamen gebucht, nicht auf ANH, was mich überdies ärgert. Man weiß doch bei dem Gräfin nie –

Was nehm ich mit? Ich habe bei Le Duchesse angerufen, hab ja seine Bürotelefonnummer. Aber niemand nahm ab. Auch heute hat noch niemand abgenommen.

Wieder den Rucksack packen. Ein bißchen Geld genug, für einen Notfall, ist rechts im Tabak versteckt, hinter der Schreibtischtür. Das nehme ich mit. Um 9.30 Uhr morgen früh hebe ich ab – welch Doppelsinn der Formulierung! Daß aber ausgerechnet Germania fliegt, kann ich nicht umhin, für eine besondere Bosheit zu halten. Immerhin habe ich heute früh, endlich!, die Löwin einmal wieder ans Telefon bekommen; sie sei zurück in Wien, tue ihr leid, alldie Termine… Doch: „Selbstverständlich fliegen Sie hin! Sie sind Schriftsteller, da läßt man sich sowas nicht entgehen.“ (Ich hätte sie gerne dabei, aber sagte es nicht. Einmal, weil das auf die schnelle nicht ginge, zum anderen kann sie‘s hier lesen. Das reicht.)

Ich muß mich sputen. Die Botschaft hat nur bis 12 Uhr geöffnet.

15.01 Uhr:
Ich sitze am Cello, schon knapp anderthalb Stunden, da warnt meines Ifönchens Wecker: „Essen mit Delf Schmidt in neun Minuten“. – Ich aber auf und sowas von weg.

Zurück jetzt. Er ist jetzt, für seine Verdienste um die französische Literatur inj Deutschland, zum Chevalier de l‘ordre des arts et des lettres ernannt worden, wie er stolz zugleich erzählte wie voller Selbsironie; Kniefall und Ritterschlag folgen. „Ich hoffe, Du kommst, wenn ich einladen werde.“ Das hat was von einem Kinderwunsch: Ritter habe ich immer geliebt.
Jetzt muß ich aber an diue Redaktion meines Braunschweiger Vortrags zu Paulus Böhmer, das muß vor Beirut auf jeden Fall noch raus: der Text wird >>>> in den nächsten horen erscheinen, die nach Tammens Rückzug nunmehr bei Wallstein erscheinen und neu von Jürgen Krätzer herausgegeben werden. Aber einen Latte macchiato bereite ich mir vorher noch.

>>>> Die Reise ODER Roissy en Liban.

6 thoughts on “Jamesville/Paradise (جنّة ). Im erschreckten wieder-Argo-Journal des Dienstags, dem 24. Juli 2012. Doch ein Ritter der Künste darin.

  1. Ach …. … geben Sie es doch zu! Sie wollen einfach wieder raus! Weg! Da kommt man aus dem Urlaub, merkt wie schwer es ist, in diesem D-Land wieder in die Alltagsroutinen zu gelangen, da lässt man sich dann gern von seinem Gräfinen-Doppelgänger in die Welt schicken.

    Nun, ich verstehe es ja. Reisen Sie gut. Die selben Dinge täglich, bringen bekanntlich langsam um, neu zu begehren hilft die Lust der Reise.

    Wir erwarten Ihre Berichte, PHG

    1. @PGH zum Doppelgänger. Der Gräfin wäre meiner? Gewiß nicht (und bewahre!).

      Die Alltagsroutinen sind unumgänglich, lieber Gogolin, wenn man denn etwas fertigbekommen will – und es ist hier einiges aufgelaufen, von dem auch eines Sie betrifft. Ich gerate also in Druck, ohne daß ein Druck dabei schon herauskäm, jedenfalls nicht so. Dennoch, das “Paradies” hat etwas arg Verlockendes, >>>> Triskelisches, möchte ich sagen, fast. Und das gleich neben Syrien.

  2. …werden Sie um diesen Trip beneiden; starker Tobak erwartet Sie, wohl bekomm’s! Vielleicht kommen Sie ja doch noch auf den Geschmack und kehren als ein heiterer Herr Herbst zurück.

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