Die Zikaden und der Tod in Olivier Silligs Erzählung Skoda. Aus dem Französischen übertragen von Claudia Steinitz und verlegt von Ricco Bilger.

[Geschrieben für den Saarländischen Rundfunk.
Dort gesendet am 19. Mai 2012.]

Nach Sonnenuntergang deckt der Lärm der Zikaden alles zu. Die Hitze sinkt nicht mehr drückend herab, sie kehrt um und steigt erstickend vom Boden auf. Überall, so weit das Auge reicht, Garigue; Heidekraut, niedrig, aber dicht, durchsetzt von wilden, unverwüstlichen Gewürzkräutern; ein paar Bäume, klein und gedrungen, vor allem Erdbeerbäume oder verschiedene Arten von Eichen. Es gibt eine Straße. Eine unbefestigte Piste. In dieser pastösen, aber markant skizzierten Landschaft kommt der junge Soldat Stjepan zu Bewußtsein. Seine Kameraden sind tot, liegen neben ihm, blutend. Auf der Piste steht ein Auto.
Stjepan ist wie durch ein Wunder unverletzt geblieben. Was geschehen ist, erfahren wir nicht, weil wir es uns denken können.
Er erhebt sich langsam. Er denkt. Aber er denkt nüchtern, ruhig, ganz so, wie die Sprache ist. Nichts in diesem kleinen Buch geschieht aufgeregt, alles hat den Duft von Ergebenheit – oder den Geruch. Je nach Leserperspektive. Vor einem Geruch schlössen wir aber die Nase. Duft läßt uns weiterlesen. Und weil diese Sprache virtuos gar nicht sein will, sondern nur so nah wie möglich den Dingen, können wir zu lesen nicht mehr aufhören. Bis das Buch zuende ist.
Ein schmales Buch, freilich, gerade achtzig locker gesetzte Seiten hat der edle Zürcher Kleinverlag Ricco Bilgers da verlegt, Olivier Sillig hat es auf Französisch geschrieben und Claudia Steinitz voll einer leisen Liebe ins Deutsche übersetzt. Ganz selten gibt es Redundanzen, zum Beispiel das „so“ in dem Satz: „Sein Beruf, Schildermaler, wird in diesen Zeiten nicht so oft gebraucht“, „nicht oft gebraucht“ wäre bittrer, weil ohne Rethorik. Doch das sind Beckmessereien. Die hintere Tür, die zum Randstreifen, steht offen. Frauenbeine ragen heraus. Sie sind nackt. Diese nackten weißen Frauenbeine machen Stjepan plötzlich wütend; wegen Milivoj, Dragan, Ivan und Ljubo, die tot sind. Er möchte gern etwas Anstand verlangen. Aber er beugt sich vor und streckt den Kopf in Innere. Es ist eine junge Frau. Auch sie ist tot. Auch sie, wie Dragan, Milivoj, Ivan und Ljubo. Sie war dabei, ihr Kind zu stillen.
Damit ist das Thema der Erzählung angeschlagen – Erzählung ist das, nicht Roman, wie auf dem Titel steht. Stjepan, nach etwas Zögern, ja nachdem er schon weitergegangen war, nimmt den Säugling an sich, den er nach dem Auto „Skoda“ nennt; das könne, denkt er, Mädchen- wie Jungenname sein. Er möchte das Baby nicht ausziehn. Hat die Zivilkleidung des ebenfalls toten Fahrers angezogen, die Uniform versteckt. Die Liebe zu dem Kind wächst nicht, sie ist da, sowie er es trägt.
Das ist eine der besonderen Schönheiten dieser Prosa: was sie behauptet, bleibt immer äußerlich. Der Krieg bleibt äußerlich. Er geht die Menschen nichts an. Ihre Seele schweigt und läßt sie handeln, wie es nötig ist. Selbst die Ermordung der einem Nächsten dringt gar nicht recht ins Herz vor. Sie wird allein konstatiert. Stjepan spürt, daß seine Geschichte hier enden wird. Sie werden ihn erschießen. Ganz banal. Für einen Moment sagt er sich, daß er nichts damit zu tun hat. Aber die Frauen (haben es) auch nicht und die Kinder noch weniger. Skoda wäre vielleicht besser bei seiner Mutter geblieben.
So wird auch die in einer Mischung aus Verachtung und Menschlichkeit erlebte Vergewaltigung Stjepans erzählt, fast auch sie ist pastös. Denn der Vergewaltiger, andererseits, hilft Stjepan und dem Baby weiter, er fälscht ihm sogar seinen Ausweis und gibt ihm Geld. Die daraus entstehende hochgradige Ambivalenz läßt Stjepan sich vornehmen, den Mann zu hassen. Auch das bleibt entfremdet. So reagieren, heißt es, Menschen mit tiefen Traumata. Solche wie die hier im Krieg. Jasna steht vor dem Mann. Sie nähert sich mit den Lippen. Er wird sie nicht abweisen, er ist im Begriff, sie zu küssen. Stattdessen fällt er nach hinten, weil ihm ein Dolch den Bauch aufgeschlitzt hat. Dabei hat sich Jasna kaum gerührt sie hat sehr schnell gemacht, ihre Hand war sehr sicher.
Das sehen wir quasi durch Stjepans Augen, der bei der Familie vorübergehend Unterschlupf fand, ja schon mit dem Gedanken spielte, dort zu bleiben. Als die anderen Soldaten erschienen. Da ist selbst das, sich ihrer zu erwehren, ein Vorgang ferner Fremde und die kaum später geschilderte Beerdigung schon ganz für sich allein ein meisterhaftes Stück der kleinen Prosakunst. Ich möchte es Ihnen nicht vorwegnehmen, ebenso wenig wie die große Liebesszene, die geradezu, ebenfalls in ihrem Pragmatismus, eine Erlösung ist durch das, was hier auf dem Balkan überall fehlt: schlichte Normalität.
Auf dem Balkan spielt die Erzählung, zur Zeit des Bürgerkrieges, in dem Jugoslawien zerfiel, weil sich die Nachbarn meuchelten, die über Jahrzehnte miteinander, oft auch freundschaftlich, gelebt. Wir erfahren nicht, wem wir da in Stjepan folgen, ob einem Serben, einem Bosnier, ob einem aus dem Kosovo. Das ist ganz egal.
Nicht egal ist die, bei aller Ergebenheit sämtlicher Personen, der aggressiven wie der milden, in Silligs leiser Sprache leuchtende Menschlichkeit: wie unerwartet Beziehungen aufblühen, wenn immer auch nur kurz, sehr bald von irgend einem Stiefel schon zertreten, und wie es stets, letztlich, darum geht, das Leben zu bewahren, dessentwegen am Ende des Buches eine Tankladung Milch fließt.
Die Milch fließt immer noch. Sie erreicht den jungen Mann, strömt über ihn hinweg. Der Körper ist zusammengekauert, die Beine nah am http://Brustkorb.In dem Raum dazwischen liegt ein Baby. Die Milch läuft um es herum, das Baby schlürft.

Olivier Sillig
Skoda
Bilgerverlag Zürich
80 Seiten in Dario Benassas‘ sehr kunstvoller Umschlaggestaltung.
17 Euro
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2 thoughts on “Die Zikaden und der Tod in Olivier Silligs Erzählung Skoda. Aus dem Französischen übertragen von Claudia Steinitz und verlegt von Ricco Bilger.

  1. Skoda Danke für diesen Tip. Ich habe die Erzählung gelesen, fesselnd bis zum letzten Wort. Und erschütternd. Es ist schön, daß Sie so oft auf die Werke anderer Schriftsteller hinweisen. Ich bekomme durch Sie viele Anregungen, es eröffnet sich mir eine geistige Welt, die mir sonst verschlossen geblieben wäre.

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