Die Meere und die Wellen. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 13. September 2017.

Er hat >>>> ganz recht, der Herr Deters. Es wird Zeit für wieder Arbeitsjournale. Mindestens das.
Weshalb ich pausierte, ist „alten“ Dschungelleser:innen klar; weshalb so lange, mag die Schwierigkeiten der Umstände zeigen. Zuletzt war auch Unwille dabei, manchmal eine Art Ekel: Man hatte versucht zu zeigen, man hatte in dem Projekt über Jahre probiert, sich nicht zu verstellen, man war übers on fait und on ne fait pas sehr bewußt hinaus und bekam dann die gesellschaftliche Quittung.
Es hing ja sowieso – und hängt – Die Dschungel an dem >>>> verbotenen Buch. Dieses war Grund, sie zu gründen. Nun, da es in seiner ursprünglichen Gestalt >>>> wieder freigegeben wurde, gilt es eine Nagelprobe: Ist, wofür Die Dschungel stand und steht, auch unabhängig davon literarisch und kunstästhetisch überhaupt von Wert?
Wir können sagen, sie sei ein >>>> gallisches Dorf, sei‘s in der Sprache, sei es in ihrer Verwendung; sie setzte zunehmend auf Komplexität, wo doch der Weg allen Mainstreams und also des Erfolgs in die Regression des sogenannten Realismus‘ hineinlief, eines Ansatzes, der das Unwägbare ausschließt und Konkretion favorisiert, sogar fetischisiert hat, – der aber auch das möglichst ungefiltert Persönliche als eben Persönliches herausnehmen will und sich der Erkenntnis verweigert, daß hier sich der Boden eines jeglich Politischen breitet: unübersehbar. Der Aufstieg von >>>> Arturo Uis AfD zeigt es deutlich, nur daß es jetzt Tausende Uis sind, gebündelt in einer Partei. Kurz, weltweit feiert der Nationalismus seine Uiständ‘, wo wir noch nicht einmal ein Europa erreichten, das sich in seiner kulturellen Identität gleich – oder doch ähnlich – verankert weiß.
Freilich, das hängt mit dem, um Ernst Bloch zu zitieren, „Hauptbuch des Kapitalismus“ zusammen, das sich nirgends so studieren läßt wie in seinen Registern des Pops. Unterdessen, denn wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, haben dies selbst die Fußballfans begriffen – eine erkleckliche Anzahl weißGöttin, die nur den Kopf wenden müßte, um dasselbe Unheil in ihrer geliebten Musi zu finden. Nur da tut es offenbar nicht weh.
Ach, wie altbacken geradezu wirkte Michael Gielens „die glocken sind auf falscher spur“, als ich neulich das Stück bei >>>> France Musique contemporaine wiederhören durfte, dieses nicht nur habe der Konsument einen Anspruch an die Kunst, sondern sie auch an ihn. Heut klingt das von weit, weit her wie den Fischen gepredigt.
Ja, ich habe das Projekt der Moderne fortschreiben wollen und will es noch immer. Doch wir brauchen nun Tricks, weil das Intellektuelle-an-sich desavouiert ward. Ich bestreite nicht, daß sie, „die“ Intellektuellen, selber mit Schuld daran tragen; es war zuviel elitäres Gehabe im Spiel, zu wenig Bereitschaft, sich zu erklären, vor allem: Kenntnis durch Begeisterung zu übertragen. Ihnen war das Gefühl suspekt – eine Erbschaft freilich des Hitlerfaschismus, der jegliches Pathos verdächtig gemacht hat. Nur, ich schrieb es schon häufig, lieben wir alle pathetisch oder lieben n i c h t.
Der Beischlaf – das Innigste, was wir sinnlich kennen, und zugleich die Bedingung unser‘ aller Existenz – ist, wenn ironisch, Eisenholz. Also wanderte das Gefühl in den Pop und wurde dort wiedergefunden, pathetisch wie je. Die Neue Musik schloß es aus, schloß also die Menschen aus. >>>> Allan Pettersson hat es früh gesehen, lange noch bevor sich Penderecki umwandte, geschweige denn daß >>>> „Neue“ Meister sich im Klangschwulst als „Classic“ suhlen. Ach über die Schweine im Wohlklang!

Wie Sie lesen, bleib ich meinen Themen treu. Ich bleibe es auch >>>> Meere.

Ich weiß, liebe Freundin, es interessiert Sie sehr, wie es zur Wiederfreigabe kommen konnte.
Sehen Sie, es war doch ja लक्ष्मी, die das Verbot einst bewirkte. Für mich ein Eingriff ins Werk, der mich noch weiter isolierte, als ich ohnehin schon isoliert war. Denn für Meere gab es, anders als für >>>> Billers realistisches Esra, keinen oder nur sehr wenig Zuspruch. Ich war als Autor – und wohl mehr noch als Person – ja schon vorher nicht gehätscheltes Kind; da kam das Verbot den Gegnern gelegen. Nun konnte man jemanden flächendeckend mundstill machen, der es zum Entsetzen der Betriebler bis zu Rowohlt geschafft hatte und dann auch noch ein, sagen wir, Genre bespielte, das für nicht vornehm galt, die Science Fiction und/oder, im weiteren Rahmen, Phantastische Literatur.
Es waren die Jahre, in denen die Weichen umgestellt und auf den Realismus (oder was so heißt) festgeschweißt wurden. Da störte jemand wie ich. Er störte, weil diese Bücher – ohne daß sie „rein experimentell“ gewesen wären, etwa >>>> konkret, also in dieselbe Nische gehörten, die von der Neuen Musik und ihren wenigen, bezeichnenderweise fast durchweg elitären Päpsten verwaltet wurde – … kurz, meine Bücher störten, weil sie einerseits das Projekt Moderne fortschrieben, andererseits aber sich dem Pathostabu nicht ergaben und sich zum dritten aber auch dem Pop verweigerten – der bei meinen Anfängen so noch nicht hieß. Adorno noch verwendete das Wort von der Kulturindustrie, trefflich und treffend bis heute.
Döblin war schon Ikone, zu späten Lebzeiten aber quasi verbannt und verpönt. Ein Katholik, man stelle sich vor! zumal… jüdisch. Da war jemand von seinem Volk konvertiert. Für den deutschen Protestantismus ein Grauen, nur daß er grau nie war. Schon eine einzige Zeile >>>> Berge, Meere und Giganten wischte fünf Jahre der späteren bundesrepublikanischen Literatur vom Tisch. Was von der Ikone bis heute blieb, sind Alexanderplatz und Butterblume.

Mich interessierte immer die Sinfonie, literarisch gesprochen: der Roman. Die Kammermusik kam erst später, in der Literatur zum Beispiel die Novelle, später dann, so gut wie nie rezensiert, die Gedichte.

Also ich störte. Störte von der Erscheinung, störte von der Ästhetik, störte vom Temperament. Kein Pastorenzögling eben und keiner, der still war und seine Fingernägel bebiß. Danach dann störte meine Sinnenlust, die ich so wenig verbarg, wie daß ich – endlich, endlich! nach Jugendjahren voller Verklemmung – gerne Mann war. Das kam bei meinen zunehmend verunsicherten Geschlechts- … tja, –genossen?, –kameraden? nicht so gut an. Thomas Hettche etwa warnte Kollegen davor, ihre Frauen neben mir Platz nehmen zu lassen. Da zuckst Du, Thomas, gell? weil ich es sage und…. – dies war das nächste, was mich hinauskatapultierte: Namen sage.

Das, Namen zu nennen, hatte ich von >>>> Karl Kraus. (Es lohnt sich, sich dort zu registrieren; Sie werden Wunderwerke des Mutes erleben.)
Ja, daß ich Namen sagte! Früh schon hielt ich es so, eben w e i l eine Krähe der andern kein Auge … – wer will denn Krähe schon sein, wenn er jung ist und voller Glaube an Dichtung und Kraft?
Noch hatte ich sie, ich war zwanzig. Dann schon fünfundzwanzig. Ich wußte, sie würde nicht währen. Also schlag Deine Pflocks ein und tu es s o, daß Du in späteren Jahren nie mehr zurück kannst! auch dann nicht, wenn die Kräfte geschwunden.
Es war eine echte Vornahme.
Als Strategie ging sie auf – wenn auch nicht zu meinen Gunsten. Einzwei Jahrzehnte später war eine „Besinnung“ schlicht nicht mehr möglich, erst recht kein Kompromiß. Ich hatte mich ins Aus zementiert. Denn in der Tat, es gehört sich ja nicht, wenn man anklagt, auch zu sagen wen. Man soll sich auf den Umstand beschränken.
Ach die Zeiten sind schlimm, was sollen wir tun? Schuld sind immer die Umstände. Da muß man Verständnis haben. Deshalb verbietet es sich, Namen zu nennen. Nur daß ein Umstand einen Mord ganz allein nicht begeht. Das tun immer nur Personen.

Halt den Mund, Herbst! (>>>> „Komm, Heller, komm, du mußt dich arrangieren“… 1972 war ich siebzehn; da prägt sowas entscheidend).

Also ich war auch v o r Meere bei der Kritik schon nicht sehr beliebt.
Es war ein Außenseiter auch er – unbestechlich, hart im Urteil -, der alles wendete, wenn auch nur für dreivier Jahre, dann schnalzte (abermals ein Hellerzitat:) der Hosenträger in die Ausgangslage zurück. Doch immerhin. Und also: Danke, Professor Wilhelm Kühlmann. Denn immerhin. Von nun an schaute die Literaturwissenschaft, und zwar mit anderen Kriterien als die Kritik, komplett anderen. Allerdings wird sie vom Betrieb auch nicht zu Schnittchen eingeladen.
Wie auch immer, das Meere-Verbot kam den Leuten ganz recht. Christoph Hein verglich mich mit einem Vergewaltiger, Volker Hage, im Spiegel, ließ es drucken. Iris Radisch goß ihre Jauchekübel über mich aus, auch über Biller; an Sascha Anderson hatte sie’s vorher geübt. Dann kamen noch all die erotisch Verklemmten, als hätte es nie vorher Autoren mit ähnlichen Obsessionen gegeben. (Dante, übrigens, in der Göttlichen Komödie, hat all seine Gegner ins Inferno getan – namentlich).
Ich verlor meine Verlage; anfassen jetzt wollte niemand mich mehr. So schwand der letzte Rest meines, nun jà, Aufstiegs dahin. Ich fiel zurück in die Kleinverlage – von nicht nur kundigen, sondern auch mutigen Frauen und Männern geführt.

लक्ष्मी habe ich den Prozeß nie verübelt. Ich verstand sie ja, verstand ihren Schock. Sie hatte sich getrennt, hatte einen neuen Lebenspartner. Der sollte nicht wissen. Die Familie sollte nicht wissen. Wahrscheinlich, und mit Recht, wollte auch sie selbst nicht mehr wissen. Als Partner hatte ich tatsächlich versagt – so versagt, wie im Roman Fichte. Daß Fichte und ich nicht derselbe sind, spielt in dieser Lage keine Rolle.
Doch wir haben ein Kind. Das stand ohnedies vor allem. Und wir erzogen es gemeinsam weiter. An eine wirkliche Trennung war insofern gar nicht zu denken, egal ob Prozeß. Ein Problem, nochmals übrigens, für alle unsere späteren Partner. Einige Beziehungen sind daran gescheitert. Die großen Feste begingen wir weiter gemeinsam, jedenfalls wieder, nach einiger Zeit. Bis heute sind wir einander vertraut.

Wir gehen zuweilen spazieren und reden.
Da, vor einem halben Jahr, sagte sie: „Wenn ich wegen Meere doch die Zeit zurückdrehen könnte! Ich war noch so jung, war mir überhaupt nicht im klaren, was dieses Verbot bewirken würde.“
Ich ließ etwas Zeit verstreichen. Dann fragte ich: „Würdest du das Buch heute freigeben?“
Sie zögerte nicht einen Moment.
„Ja.“

Die Geschichte ist aber n o c h irrer.
Sie erinnern sich, Freundin, an die „Persische Fassung“, die 2008 dann herauskam?
Sie stammte schon von 2003.
Ich war auf dem Weg nach Frankfurt am Main zu meiner ersten Lesung aus dem noch freien Buch. Im Zug bekam ich einen Anruf:
„Ich bin der Anwalt von Frau Soundso. Gegen das Buch ist eine einstweilige Verfügung erlassen worden. Ich verbiete Ihnen die Lesung.“
Nun konnte es Werweißwer sein, der mich da anrief. So reagierte ich auch und legte auf. Wäre der Mann helle gewesen, hätte er die Einstweilige Verfügung ins Literaturforum im Mousonturm gefaxt. War er aber nicht.
Es wurde die einzige Lesung, die ich bis heute aus diesem Buch hatte.
Sofort meine erste Talkshow dann, ZDF. Ich las, aber der Ton wurde weggedreht. Die Zuschauer hörten minutenlang nichts. Unten liefen, wie eine Durchlaufzeile an der Börse, die Titel aller verbotenen Bücher seit Ovid. So kam Meere in die Geschichte.

Aber worum ging es eigentlich? Ich sah mir die Begründung der Verfügung sehr genau an und setzte mich noch in derselben Nacht hin, um die monierten Stellen zu ändern. Anders als die Presse nahezu unisono trompetete, ging es um die Sexualszenen gar nicht, sondern allein um persönliche Erkennbarkeit, und zwar nicht gegenüber der Öffentlichkeit (wie das Gesetz es will oder damals wollte), sondern gegenüber im nahen und weiten Sinn Bekannten.
Das ist für Literatur das eigentliche Problem: Denn Sie können, wie Sie nur wollen, verfremden, – Bekannte werden immer erkennen, das große Publikum wird es nicht. Wenn jetzt die Bekannten zum Kriterium werden, ist jede Form autobiographisch grundierter Literatur tabu.
Es ging de facto um ein Sachproblem.
Also schrieb ich eine komplett neue Familiengeschichte. Aus der indischen Herkunft wurde eine persische, bzw. iranische. Das ließ sich gut begründen. Nun war es eine Migrantenfamilie. Da es in Mumbai noch eine große Gemeinde Parsen gibt, ließen sich auch die in Indien spielenden Szenen erhalten. Wichtig war, daß ich in einem ungefähr ähnlichen Kulturraum blieb, weil unsere Prägungen unsere Handlungen zumindest deutlich mitbestimmen. Deshalb konnte Herbert Wiesners, des damaligen Leiters des Literaturhauses Berlin Fasanenstraße, Vorschlag nicht verfangen, aus der Halbinderin eine südamerikanische Katholikin zu machen.
So schrieb ich nun direkt in die aktuellen Zeitläuft‘ hinein.
Und sandte meine neue Fassung erst an die gegnerische Instanz, die sie sofort akzeptierte, dann an den Verlag. Er aber wollte nicht – mit einem nachvollziehbaren Recht. „Wir brauchen hier eine Grundsatzentscheidung“, sagte mir Nikolaus Hansen, der damals Herausgeber der Reihe war. Er wolle, wenn es sein müsse, bis zum Bundesverfassungsgericht.
Aber solche Prozesse sind teuer.
Der Verlag stieg dann aus. Es hätte ihn die Existenz kosten können. Woraufhin ich meinen eigenen Prozß, der geschlummert hatte, nicht aufnahm, nein mich außergerichtlich einigte. Zusammen Hand in Hand traten लक्ष्मी und ich vor den Richter; ihr Anwalt freilich tobte. Für ihn war ich das Ungeheuer, für das ich ja längst schon im Literaturbetrieb galt. Doch es war nichts zu machen, लक्ष्मी war entschieden, ich war es auch.

Neues Gewirbel im Pressebetrieb. Abermals Meere. Spiegelinterview, nun nicht Volker Hage und Hein, sondern Hage und ANH.
(Jahre später, nachdem Iris Radisch Hage aus der Zeit gedrängt hatte, so daß er zum Spiegel gegangen war oder vielleicht sogar gehen mußte … Jahre später also, da war er schon berentet, trafen wir uns in Hamburg, und fast das erste, was er sagte, war: „Welch ein großes Buch!“ – Geschrieben hat er‘s bis heute nicht.)
Jetzt meldete sich Volltext. Thomas Keul, der Herausgeber, wolle die neue Fassung komplett in seiner Zeitung abdrucken, Auflage 43000. Es geschah. Zum ersten Mal wieder seit Rowohlts legendären Rotationsromanen anspruchsvolle Literatur als Zeitung.
Die Lizenzausgabe der Persischen Fassung ging an >>>> Dielmann; mare selbst wär es zu heikel gewesen. Man durfte dort zu Meere ja keine Verfügungen treffen. So daß ich sie direkt mit Dielmann traf.
Jetzt kamen auch die ersten klassischen Rezensionen – aber so gut wie alle kaprizierten sich entweder auf die Verbotsgeschichte oder, nun jà, die losgelassene Sexualität. Die Faktur des Buches beachtete so gut wie niemand, von >>>>> Julia Encke abgesehen, die sich aber auf den Perspektivenwechsel konzentrierte, der in Meere bisweilen in den einzelnen Sätzen geschieht. Sie beginnen personal, enden aber auktorial, und umgekehrt; manchmal auch mittendrin. Das war schon ungewöhnlich genug. Die Leitmotivik, die das Motto bereits anschlägt (Kiplings >>>> Lukannon-Klage) und dann indirekt zitierend durch den ganzen Text geführt wird, bemerkte niemand, ebenso wenig wie daß es ganze Absätze gibt, die nach Art des An- und Abwogens des Meeres an den Küsten rhythmisiert sind (etwas, das ich ebenfalls von Kipling gelernt hatte; lesen Sie, Freundin, sein Lied von der Welle – auch dieses wird immer wieder im Roman zitiert).
Es ist schlichtweg so, daß das ästhetische Primat des sogenannten Realismus‘ alle Kunst auf ihren Gegenstand, in der Literatur den sogenannten „Plot“, reduziert – also auf das, was 1 zu 1 verfilmbar ist. Daß in Meere fast alle der auch harten sogenannt pornografischen Szenen rigoros durchrhythmisiert sind, fällt ebenso aus dem Raster wie der oft sangliche Klageton selbst dieser Stellen. Beides erschließt sich nur denen, die, wenn sie lesen, auch hören, was sie lesen.
Das gilt bei meinem Werk geradezu durchweg, es ist zu einem Großteil fast mehr Musik als ein Text, ungefähr zu vergleichen mit einer Partitur. Deshalb war es seit meinen Anfängen so, daß, wenn ich vortrug und -trage, die Menschen in aller Regel höchst berührt sind; ich kenne ja den Klang. Und vielen fällt es hinterher sehr viel leichter, selbst zu lesen, als wenn sie mich nicht gehört hätten. Denn sie haben dann meine Diktion im Kopf.
Dabei ginge es auch einfach. Sie müßten nur laut lesen. Vieles, das für manieriert gilt – ein irrerweise fast Hauptschimpfwort des gesamten Betriebs -, erschließt sich mit einem Mal als geradezu einfach. Das liegt daran, daß ich Sätze oft so baue, daß nur die von mir gemeinte Metrik den Text zum Klingen bringt und wohl auch sinnvoll macht. Nicht nur ich habe, sondern auch Helmut Krausser hat bisweilen darüber geklagt, daß wir für Literatur keine ausgeklügelte Notation haben.
Wie auch immer, Meere wird durchweg auf das angebliche Skandalon der sexuellen Grenzüberschreitung gelesen – wobei, was eine solche Grenze zu sein habe, durchweg nicht besprochen wird. Es mag aber sein, daß es heut anders sein wird. Denn etwa der Einzug des Sadomasochismus in die Popkultur, ja die ganzen Szenen, die es mittlerweile da gibt, haben Empfindlichkeiten wahrscheinlich schrumpfen lassen – auch wenn vorgestern >>>> Florian Weyhs Kritik etwas anderes befürchten läßt.
Auch er begeht übrigens den Fehler, Fichte mit Herbst gleichzusetzen. Spätestens dort, wo er jenen für einen schlechten Vater hält, wird die Differenz aber schlagend. Fichte verschwindet nach der Trennung, er flieht, gräbt sich im Ausland ein; Herbst hingegen blieb in Deutschland immer bei seinem Sohn. Ich hätte das Buch anders gar nicht schreiben wollen.
Wenn also Weyh so weit geht, Fichte – und mithin mich – ein Schwein zu nennen, fallen er und sein Urteil der Indifferenz zum Opfer, ganz abgesehen davon, daß er den Zusammenhang des Leidens an Geschichtsschuld – einer für Fichte schuldlosen Schuld – und dem künstlerischen Wüten unterschlägt, das ja gerade gegen die wohlfeile Verarbeitungs„kultur“ gerichtet ist. Wie die funktioniert, hat aufs deutlichste >>>> Hans-Jürgen Syberberg angeprangert – auch er, indem er Namen nannte, und auch er – wiewohl sogar international längst reputiert – wurde aus dem Betrieb getreten, und zwar schon vor seinem politischen Rechtsruck, der möglicherweise aber genau davon eine Folge ist. Man vergesse doch nicht, er war Schüler von Brecht und Bloch.

Aber was ist denn tatsächlich „pornographisch“ an dem Buch? Wirkliche SM-Stellen gibt es vergleichsweise selten. Häufig aber sind genaue Beschreibungen der physiologischen Vorgänge. Schleim wird Schleim genannt, etwa bei der öffentlich oft inkriminierten Fellatioszene. Dahinter steht ein Nichtwissenwollen, wenn man auch weiß, ein klägliches InDenKitschReden wollen oder der Ruf nach dem Vorhang. Sex gehöre zum Schönsten, heißt es allgemein, was wir Menschen haben, aber zeigen darf man nicht, wie er ist – und schon gar nicht auch noch berauscht davon sein, erst recht nicht als Mann. Klaus Kinski, igitt.

Gut, warten wir nun also ab, was sich weiter begeben wird. Mein Stand in diesem Betrieb wird sich wahrscheinlich nicht bessern oder erst dann, wenn ich so alt geworden sein werde, falls ich es werde, wie Paulus Böhmer und also nicht mehr zu fürchten ist, ich könne weiterhin mit Dauererektionen irgendwelche Partnerinnen aufmischen, die obendrein noch schön sind. Aber da kann ich meine Gegner längst beruhigen: Lange Zeiten der Niedergeschlagenheit und Depression haben mich weidlich geschwächt; daß ich auf die 63 zugehe, macht das Faktum nicht besser. Meine Erektionen des Geistes freilich nehmen die Zeiten mir n i c h t.


ANH Arbwohnung 070217 (c Gaga Nielsen)
(Fotografie (© 2017):
>>>> Gaga Nielsen]

ANH, Berlin
13. September 2017, seit 7 Uhr in der Frühe
(Ich liebe die Zahl 13).

P.S.: Was aber nicht vergessen sei: Mittlerweile ist eine ganz neue Generation nachgerückt, die von den stockfleckigen Verklemmtheiten der Alten sich befreit haben und nunmehr – wiewohl wir in Sachen Pop meist auf gegnerischen Seiten – Meere ganz neu lesen könnte. Und nicht nur dieses Buch.

6 thoughts on “Die Meere und die Wellen. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 13. September 2017.

  1. Kurzer Nachtrag zu Biller und Esra. Daß Esra – eben grundsätzlich anders als Meere – bis quasi in die Hausnummer realistisch erzählt ist, halte ich für eine notwendige Folge seiner Ästhetik. Auch wenn ich sie nicht teile, muß ich hier sagen, daß Biller sie künstlerisch konsequent verfolgt, und zwar auch im Persönlichen. Pop (jedenfalls sein Mainstream) und der Realismus sind, schrieb ich an anderer Stelle, die Ästhetik des Kapitalismus. Biller nun preist ihn. Genau das läßt in meinen Augen sein Werk ohne jede Heuchelei sein. Ich teile nicht seine künstlerische Meinung, aber achte sie als künstlerisch weder naiv noch unbillig.
    In vielen anderen Fällen ist dies aber anders. Der sogenannte Realismus wie der Mainstream-Pop stoßen mir eben dort auf, wo sie sich kapitalismuskritisch geben, aber ihm affirmativ ihre Strukturen zubeugen.
    Alles übrige sind ästhetische Glaubens-, bzw. Überzeugungsfragen.

  2. Danke für diese guten und klugen Worte, ein kleiner Poetikessay. Und ich freue mich, daß Sie wieder schreiben: in einem kämpferischen, leidenschaftlichen Ton. Es mag anbiedernd klingen, aber sowas liegt mir fern und unser Denken ist sowieso ganz unterschiedlich: Aber solche klaren Sätze sind gerade im gegenwärtigen Literaturbetrieb wichtig und leider viel zu selten zu hören. Insbesondere zum Phänomen Pop, das jede Regung bald zu durchdringen droht oder schon durchdrungen hat. Und auch in der Literatur zunehmend.

    Daß man der Kunst Vergewaltigungsphantasien und sonst etwas in Vulgär-Psychoanalyse unterschiebt, sagt eigentlich mehr über jene aus, die so denken. Gut zu sehen gerade wieder am Gomringer-Gedicht auf der Fassade der Alice Salomon Hochschule. Es soll entfernt werden. Unabhängig von der Qualität des Gedichts und den Grenzen der Konkreten Poesie zeigt sich auch hier das Amusische eines rein ideologisch strukturierten Denkens. Nun sind dies jedoch Pädagogikstudenten und keine Literaturkritiker, mag man entgegnen. Da wöge es nicht so schwer. Dennoch meine ich, daß beides gleichermaßen die Kunst beschädigt. Insbesondere Zensur.

    Der Aspekt der Begeisterung ist für die Kunst ganz sicher von Bedeutung. Und auch gelungene Interpretation und gute Literaturkritik entspringen aus Leidenschaft.

    1. Lieber Bersarin, schön, von Ihnen zu hören. Ihr letzten beiden Sätze unterstreiche ich dreifach – mag sie aber gerne auf j e d e n Beruf, der es ist, erweitern. Und was die Kritik anbelangt, so kann sie in der Literatur, Musik und allen anderen Künsten sogar dann großartig sein, wenn sie in der “Sache” selbst irrt. Ihr Wert, der überdies bilden kann, kommt dann von ganz anderswo als von den Urteilen her. Es ist ein ästhetischer. Aber auch dies finden wir zunehmend selten – schon deshalb, weil Ästhetik für das kritische Tages(ecco:)geschäft keine Rolle mehr spielen soll. Auch hier gilt ein Primat der, wie immer falsch sie auch sei, Faktizität.

    2. Ich hatte schon mehrfach Anläufe für eine Kritik versucht: Sowohl für „Traumschiff“ als auch für „Meere“ und „Sizilianische Reise“. Aber immer wieder gab es da einen Punkt, wo die Kritik scheiterte und abbrach. Es schreiben sich solche Texte für mich nicht auf die Schnelle und im Handumdrehen. Als Leser kann ich intuitiv nur soviel sagen: Ein Roman wie „Traumschiff“, aber auch „Sizilianische Reise“ und „Meere“ haben lange bei mir nachgewirkt, noch Monate nach dem Lesen drehen sich Bilder aus dem Text in den Kopf, mischen sich mit eigenen Phantasien. Insofern haben Sie das schönste getan, was ein Schriftsteller bei seinem Lesern anstellen kann: Seine Imagination befeuert.

      Romane, die nachklingen. Das passiert nicht allzu oft.

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