Zweiter Aufnahmetag. Die Vorhänge der Wirklichkeit (5). ARD Haupstadtstudio Berlin.

Die Jungs waren pünktlich hier, meiner sogar einen Tuck früher als Broßmann; ich meinerseits hatte Argo >>>> für heute abgeschlossen und statt zu frühstücken in der Hack-Zentrifuge mir einen halben, fast dreiviertel Liter Milchshake mit einer halben frischen Ananas bereitet und getrunken, am Küchenfenster stehend, hinab auf den zweiten Hinterhof schauend, wo der Flieder zun blühen beginnt. Im Kopf die Szenen noch einmal durchgegangen, dann ging schon die Tür, „zieh gar nicht erst die Schuhe aus, wir radeln gleich los, Sascha steht ganz bestimmt bereits unten.“ So auch war‘s.
Über die Stragarder angeschrägt in die Schönhauser, schon rechts die Kastanie hinab bis zur Tor; darauf; linke Fahrspur gleich und quer durchs hintere Mitte, ganz entlang die Alexanderstraße der neuen Galerien, die oben auf die Oranieburger trifft, und links ab in die untere Friedrichstraße, die dort einmal wild gewesen, unterdessen gezähmt ist. Der Bahnhof schon in Sicht. Über der Brücke gleich rechts die Spree entlang. Und wer geht da, elegant, und zieht den Handkoffer hinter sich. Chohan, schon bereit für eine Wochenendreise; gleich nach der Aufnahme will sie aufbrechen, tut‘s dann auch.
Wir sind ein wenig früh und sitzen noch etwas in der Sonne.
Dann pünktlich ins Studio.
Ein neues Gesicht. Mit vielen Toningenieuren und Technikern habe ich hier schon gearbeitet, mit René Bosem noch nicht. Eine Kulturjournalisten muß noch schnell Bilder, ihrer Tondatei hinterher, an den Südwestfunk Baden Baden senden, „‘tschuldigung, ich brauche die Zeit bis zehn“. „Lassen Sie sich nicht hetzen.“ Aber zur Strafe muß sie mir einen der Sätze ins Band sprechen, die ich von den insgesamt dreizehn „Zufalls“stimmen noch brauche; auch Bosem ist später dran, entweicht mir genau so wenig, wie unten am Eingang Pförtnerin und Pförtner.
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Zuerst soll der Junge einmal ganz seine Parts einsprechen.

Für ihn ist alles – noch – ungewohnt; überdies braucht seine helle Stimme ein anderes Mikrophon. Während Bosem es einrichtet geh ich pinkel, um die Toilettenszene aufzunehmen. Klappt alles, ich ‚kann‘ sogar. Prima. Der Wasserhahn noch und dreiviermal die Tür: öffnen, schließen, öffnen. Aber als ich dann wieder in der Arbeitswohnung bin, ist die Szene nicht auf dem Band; möglicherweise habe ich die Pausentaste nicht gelöst. Also morgen noch mal. Dabei war der Ort ideal; eine Kneipe kann ich wegen der ganz anderen Geräusche nicht nehmen, es muß so etwas wie ein öffentliches Gebäude sein. Vielleicht ein Museum, das wäre das von hier aus nächste, jedenfalls am Sonntag. Bis ich alles im Kasten hab, werde ich mit Platzhaltern arbeiten, also die noch fehlenden Zufallsstimmen selbst sprechen, ebenso die Toilettenszene hier bei mir aufnehmen und diese Platzhalter in einer gesonderten Spur in der Montage anlegen, so daß ich sie später austauschen kann.
„Bitte, erst der Junge, dann alle vier Sprecher gleichzeitig, Chohan halblinks – links ist die Herzseite; der Junge in der Mitte, ich selbst halbrechts, Broßmann ganz rechts.“
Bis Seite drei kommen wir, dann ruft mich Bosem in den Regieraum.

„Wir haben ein Geräusch, wenn ich alle vier Mikros gleichzeitig offen lasse.“ Wir fahnden, es ist aber nicht viel Zeit, die zwei Stunden sind eng bemessen. „Sie müssen aber nicht schneiden, das mach ich selbst am Computer.“ Was enorm viel ausmacht, bestimmt die Hälfte der Zeit.
Das Geräusch kommt von der Klimaanlage, ein sehr hohes Pfeifen, unter dem ein bassiges Rauschen liegt. Das Problem hatte ich im ARD HS schon mehrmals; auf hörspielartige Arbeiten ist man hier nicht ausgelegt; aber alle Mitarbeiter an den Aufnahmegeräten sind froh, wenn so etwas einmal kommt, wenn es wirklich um Gehör geht. Unter anderem deshalb liebe ich es, hier aufzunehmen.

Wir sind gegen zehn nach halb zwölf, etwas später, durch, und nehmen sicherheitshalber noch einmal die ersten drei Seiten des Typoskriptes auf. Die Datei wird im ARD-System gespeichert, etwa für ein Vierteljahr; ich selbst bekomme sie auf den Stick.
Chohan bicht auf. Wie jedesmal: Wundervoll als Sprecherin, geradezu perfekt im warmen Timbre ihrer zugleich höchsten Sprechkultur. Alles kommt ganz aus dem Innern; es ist wie ein Zauber.
Broßmann und mein Junge radeln heim.
Ich spaziere noch die gesamten Unter den Linden bis zum Alex, sicherheitshalber, um auf weitere O-Töne zurückgreifen zu können. Oft macht man bei sowas Glücksfänge – wie gestern, als minutenlang das Glockenspiel des Französischen Domes musizierte. Das könnte ein feines akustisches Leitmotiv werden.

Einfach probehalber das Gerät laufen lassen, als ich aufs Rad steige – bis in die Duncker hoch. Viel Gutes wird dabei nicht herausgekommen sein, weil der Wind die Aufnahme stört… aber wer weiß? Ich habe ein riesiges Archiv solcher akustischen Zufallsfunde mittlerweile; auf vorgefertigte Geräusche bin ich so gut wie nicht mehr angewiesen.

Dann hier, am Schreibtisch, als erstes alle Töne auf den Computer überspielt, je kurz hineingehölt und, was sehr wichtig ist, signifikante Namen vergeben, sowie je das Datum an den Namen gefügt. Danach alle Dateien auf einer externen Festplatte doppelgesichert. Während meiner Hörstückproduktionen mach ich das mindestens einmal am Arbeitstagesende, auch wenn es ein bißchen zeitraubend ist.
Zum Schneiden allerdings bin ich heute nicht mehr gekommen.

Galouye 4 <<<<

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