6 thoughts on “Dreiundzwanzig.

  1. Zu Franz Kafka, besonders seinen Tagebüchern. Sowie der Malte und Aragon als Weichenwärter Andersens.

    Immer waren sie Ideallektüre für jungintellektuelle Verklemmte, die sich grad dauersublimieren, und sie werden’s ewig bleiben: die Dichtungen Franz Kafkas. Ich möchte heute noch seufzen, mit >>>> Rilkes Malte, ach hierher kämen die Leute, um zu leben; ich meinte eher, es stürbe sich dort… – Der Malte, nichts sonst von ihm, gehörte dann schnell auch zu meinen Lektüren, nachdem mich, auch noch mit fünfzehn, Kafka erfaßt hatte und nahezu zehn Jahre lang gepackt hielt, nach meinem, glaube ich, achtzehnten Jahr nicht mehr ausschließlich, aber doch permanent an meinem Grund. Daß ich von ihm loskam – heute sage ich gerne: ich sei von ihm, wie Jahre später von Adorno, erlöst worden -, hing direkt mit meinem erotischen Liebesleben zusammen; ich verdanke es zuerst einmal B., welche die erste Frau war, bei der ich sexuelle Besessenheit erlebte, danach und zwar sehr gleich vor allem Do, mit der ich, allerdings nicht immer treu, über dreizehn Jahre zusammenblieb. Beide Frauen brachten das Leben in mein Leben – während der kurzen Affäre die schlanke, sehnige B. als meine sich rollende, mich umschlingende, dann wieder in lüsternen Rapten erstarrende Initiatorin, und für so lange Zeit die wendige und aufmerksame, ja extrem seismographische, dabei gleichermaßen innige wie tiefgebildete Do. Da war für einen keine Zeit mehr, besonders aber kein Platz, der seiner geliebten Milena endlich, endlich, nach so vielen Briefen, persönlich begegnen, der sie besuchen will – doch steigt aus Feigheit auf halber Strecke aus und fährt nach Prag zurück. Ich habe ihm das nie verziehen, noch heute kann ich darüber nicht hinwegsehn.
    Aber er gab mir, als ich noch anders, als ich selbst noch furchtsam war und geduckt, das Gefühl, einen Wert zu haben, und zwar gerade über seine permanenten Unwertsbeteuerungen. Es ist bezeichnend, was ich damals, mit späten fünfzehn oder frühen sechzehn, anstrich, etwa das:

    Dies alles las ich, wie schon >>>> den Freud und das heute völlig zerfaserte Schloß,

    in den engbedruckten Ausgaben der Fischer-Taschenbücher, deren Seiten kaum einen Platz für den gegenhaltenden Daumen ließen – ein Ausdruck noch der nachkriegsbedingten Papierknappheit. Auch das hat mich geprägt. Da ich entscheidende Leseerlebnisse in Bleiwüsten gehabt habe, bin ich bis heute unempfindlich gegen kleine Drucktypen, ja finde einige Setzer-Gebote lächerlich, die auf Weite und Lockerheit achten, und so habe ich immer gewollt, daß auch meine eigenen Bücher möglichst eng gedruckt wurden, so weit es die Käufergewohnheit nur irgend erlaubte. Die Unart Suhrkamps und später Schöfflings, aus 130-Seiten-Typoskripten 400seitige Bücher zu machen, ist mit einem Wort: unlauter.
    Also ich las als Verklemmter den stilistisch wahrscheinlich bedeutendsten Verklemmten, den es jemals gab; wenn ich zurückdenke, habe ich den Eindruck, wir rochen sogar gleich, Franz Kafka und ich: eine Mischung aus Stockigkeit und saurem Milieu, besonders zwischen den Beinen. Wie Sie merken, ist meiner restlos anhaltenden Bewunderung für Kafkas Dichtung ein Abscheu beigemischt, der aber, anders als gegenüber Céline, nicht moralischer, sondern sinnlicher Natur ist. Denn im Gegenteil speist sich meine Bewunderung auch heute noch aus der lebenspraktischen Caritas, von der Kafka bewegt war, was bis zu Erfindungen reichte, an denen er herumknobelte, um ihm anvertraute Menschen vor Gefahren zu schützen. Für sein Brot arbeitete er bekanntlich für die böhmische Arbeiter-Unfall-Versicherung.
    Was mir Kafka indessen vor allem anderen gab, damals, als ich noch nicht einmal ein Adolszenter gewesen, sondern im Herzen nach wie vor Kind, das war der Stil – der meine hätte durch allzu viele Abenteuerbücher zunehmend verderben können – und war die Macht einer Innenschau, die nicht zerfließt und levitatorisch einem Luftballon gleich den Himmel sucht, bevor er, der Ballon, als schlaffes Säckchen zurückfällt und aufklatscht, sondern in diesen Büchern erhält jeder Bild gewordene neurotische Komplex harte sprachliche Dinglichkeit. So wird er konkret. Das Psychotische daran liegt in der Dynamik solcher Metamorphosen; sie brauchen es, um leuchten zu können.
    Spannend ist in meiner Erinnerung ferner, daß es eben weniger, bei all ihrer soghaften Kraft, die Romane und Erzählungen Kafkas waren, was mich so band, sondern vor allem seine Tagebücher las ich wieder und wieder. Wozu sie sich schon deshalb eignen, weil sie gelegentliches Lesen erlauben, ein Herumschmökern, dessen zweiter Wortteil indes zu verniedlicht, um die Intensität solcher Lektüren beschreiben zu können. Anders als bei >>>>> den Dämonen, mit denen ich rang, legte ich mich in Kafka hinein; ich bettete mich in ihn und ließ mich von ihm streicheln. Eine seltsam bibliophile Homoerotik war das, die sich zwischen mir und den Lettern versteckte. Wie erstaunlich nach alledem, daß ich, anders als andre so Attrahierte, niemals versucht habe, mein Idol zu kopieren. Es hat, mag sein, Spuren in meinen Büchern gelassen, von Füßen auf längst überwachsenen hufschmalen Pfaden, aber sicherlich nicht viele. Praktisch in mein Werk gewirkt haben Dichter, zu denen ich viel distanzierter war – und sie, schon während des Lesens, zu mir. Die mich zurechtwiesen oder sich gänzlich verweigerten, schon allein, indem sie, wie Aragon vier Jahre später, mich nur mit „junger Mann“ ansprachen, wodurch die Distanz wie ein Wertunterschied ständig präsent blieb, der nicht nur aus der Fülle erlebter Jahre rührt. Es waren meine Väter. Kafka hingegen war BruderIdeal.
    Parallel las ich “>>>>> Tarzan selbstverständlich weiter und die>>>> Science Fiction, Karl May aber nicht mehr; an dessen Stelle war zum einen>>>>> B. Traven getreten, dessen, mein Exemplar ging mir leider verloren, Totenschiff mir nicht völlig unverwandt mit Kafkas Romanfragment Amerika vorkommt, im Nachhinein freilich, ohne das jetzt nachzulesen – aber was uns an den Büchern prägt, läßt sich in uns schimmernden Erinnerungen vergleichen, die auch nicht immer stimmen. Wobei Travens Romane gewissenmaßen einen Kompromiß realisierten, nämlich den Handschlag meiner inneren Abenteuer mit der sogenannten Ernsten Literatur. Außerdem sympathisierte ich wie er mit dem idealistischen Anarchismus, was sowohl die politische wie auch, eng damit verbunden, eine philosophische Haltung bedeutet. Ganz wenige Jahre später repräsentierte sie für mich Otto Mühsam, mehr noch Gustav Landauer, dessen pantheistische Mystik meinem Naturell nahestand und wahrscheinlich immer noch -steht.
    So ernst, übrigens, war Kafka nicht, und zwar auch dann nicht, wenn seine Briefe auf dem Weg zu Milena von Geistern ausgetrunken wurden – Bilder der Sprache, vor denen ich noch heute Kopf und Knie beuge, -, sondern es gibt eine höchst berechtigte Lesart, die ihn den Humoristen, wenn auch schwarzen, zurechnet, diese eben oft, und aus bitterer Erfahrung, jüdischer Herkunft gewesen und weiterhin sind, an welche Kafka selbst eine zitternde Ambivalenz band. Man kann von einer seelischen Bondage sprechen, die außerdem sehr wehtut. So gefesselt wird man nicht aus Freiheit, sondern ist in die Fesseln ‚geworfen‘. Da kann man dann nur ausharren; es läßt sich ja sowieso nichts bewegen, kein Arm, nicht ein Bein, schon gar nicht kommt man von der Stelle. So hat mein inneres Auge nie den… ja: F i l m seiner Prosa verloren, worin er die Beschneidung eines Säuglings erzählt. Auf Anhieb finde ich die Stelle wieder:
    Die gleichsam emotionslose Exaktheit ist es, was hier wirkt, weil kein sezierender Blick ohne Perversion ist. Andererseits: der Humor. Er hat nicht wenig von>>>> Pirandellos. Bei meinen Lehrern am Gymnasium, wo Kafka selbstverständlich durchgenommen, bis zum Kotzen interpretiert und damit den meisten ein für allemal so ausgetrieben wurde, daß ich noch jetzt eine Absicht dahinter wirken sehe, – also bei meinen Lehrern war mit dieser Haltung kein Durchkommen, was mir ein weiterer Grund war, den Schulunterricht zu meiden. Wer Kafka kaputtmachte, hatte weder Fähigkeit noch Recht, sich als einen Lehrer auszugeben, den man dann auch achtet. Selbstverständlich war diese meine innere Argumentation auch wohlfeil, weil ich nach Gründen nur so suchte, der Schule fernzubleiben. In Wahrheit ging ich aus Angst nicht hin und weil ich schreiben, dichten, wollte.
    Indessen noch eine weitere Weiche hat mir Kafka gestellt, vielleicht die wichtigste von allen. Daneben stand der Weichenwärter. „Da entlang“, er zeigte in die Richtung, „haben Sie zu gehen“. So sprach er. Und fügte an: „junger Mann“. Das war im Wortlaut Aragon: „Allez par ici, jeune homme!“ Aber da war ich schon neunzehn oder zwanzig und von der Schule längst runtergeflogen. Doch abermals war die Phantastik gemeint, an der, um ihr folgen zu können, ohne Kafka zu plagiieren, noch ein bißchen was fehlte. Davon werde ich in den nächsten Tagen erzählen, allerdings noch nicht morgen: denn d a bleib ich noch bei Stilistik, bzw. dem Zusammenhang zwischen ihr und dem Denken; er ist kaum vermittelt, ‚vermittelt‘ in hegelschem Sinn. Jedenfalls ist das eine These, der nachgegangen werden kann.
    Rilke also, Malte Brigge und die Zeit:

    die stehenbleibenden Uhren (da hinein gehört parallel, selbstverständlich, Brügge, woher der Name Brigge könnte genommen worden sein: >>>> Rodenbach also und Korngold danach), aus denen Kafka rückwärts gehende macht – ein Bild, in dem auch Andersen, Hans Christian, mitschwingt. Auf diesen möcht ich morgen kommen. Er weist zu Thomas Mann voraus, den Zauberberg, den ich direkt, mit sechzehn, nach Rilke las, wenn auch nur, weil in einer sekundärliterarischen Schrift dieser sowie Kafka und Mann, nämlich über den Zeitbegriff, direkt aufeinander bezogen wurden. Denn wenn ich einen Autor las, las ich jetzt auch über ihn. Und er, Andersen, deutet zugleich bis fern in meine Kindheit zurück, die v o r den Dämonen noch lag, eine aus inneren Rittern und Hunderten, aber, heidnischer Geister, teils solchen, die mich bedrohten, teils denen, die mich umschmeichelten. Ich habe ihnen dafür später den >>>> Wolpertinger auf ihren von Tannen umdunkelten Gabentisch gelegt. Das läßt sich sehr wohl eine Danksagung nennen. Weiter indes als mit diesem Roman läßt‘s sich kaum von d e m hier entfernen:
  2. Diese Serie erfreut die Leserin. Ich hoffe, Ihnen selbst bereitet die Reflexion Ihrer Lese-Biographie ebenso viel Vergnügen.

    So wird doch für einmal ein Sprichwort wahr, dem ich immer besonders misstraut habe: aus der Not eine Tugend machen.

  3. Türwächter Lunkewitz Wie lange wird man eigentlich noch geprägt von Literatur? Ist das nur in Kindheit und Jugend so? Bis zum Abitur? Bis zum Ende des Studiums? Wird ein im Beruf stehender verheirateter Erwachsener von einem Buch „geprägt“? Wenn sich bisher nicht gehabte Erkenntnisse einstellen – man erfährt sich plötzlich als ein eisumschlossener Kapitän Ahab, dessen Panzer nur selten schmilzt – kann man das vielleicht sagen. Aber wenn die abgeklärte, lebenskluge Dame („nur“) intellektuell oder gefühlsmäßig begeistert war von einem Buch, dann auch „geprägt“?

    Die Bücher von Franz Kafka ziehen sich durch mein ganzes Leben. Allerdings habe ich die von Ihnen, lieber Herr Herbst, hier herausgestellten Tagebücher noch nicht gelesen. Es fing bei mir mit den „Erzählungen“ an, schon in der Schule, „Auf der Galerie“, sagte mir nichts. „Kafka ist schwer“, raunte mein alter Freund und Banknachbar. Von Prägung keine Spur.

    Nach der Schule war Armee. Und die Freundin im Deutschleistungskurs auf ein Theaterstück aufmerksam geworden. Kafka. „Bericht an eine Akademie“. Die Darstellung des „äffischen Vorlebens“ war so beeindruckend, wir lasen dies nach, lasen viele der Erzählungen. Die Faszination für einen Schriftsteller war geboren, für die Verrätselungen der Welt. Großartige Geschichten. „Die Verwandlung“. Begeisterung. Jahre später sah ich in der Met Michail Baryschnikow den Gregor Samsa tanzen, kriechen, krabbeln, die vier Extremitäten wie acht, die Leute standen auch den Stühlen, und ich natürlich auch. Kafka. Ein Wunder. Ein Rätsel. Von Prägung keine Spur.

    Dann war lange anderes maßgeblich, das Leben, auch wollten andere Schriftsteller gelesen sein. Aber mitten im Leben, mitten in dem, was ich beruflich mache, machte ich etwas für Bernd F. Lunkewitz. Ständig mit ihm am Telefon, war manchmal am Ende Platz für literarischen Austausch, und SIE, lieber ANH, ahnen, es kam, was kommen musste, er erklärte mir (!) die Legende vom Türwächter, so wie er immer etwas erklärt, unentziehbar.

    Wer die Türwächtergeschichte liest, liest auch den ganzen „Prozess“, und wer das macht, ist verloren, dieser Sogkraft kann sich niemand entziehen. Eines der größten Bücher aller Zeiten. Logisch, dass dann nicht Schluss ist. Von einer Geschichte über den Regenschirm von Karl Rossmann zum „Heizer“ geführt und von dort hineingezogen in „Amerika“ („Der Verschollene“). Mit K. im „Schloss“. Mit dem Affen erneut im Theater. Von dort zurück zu den Erzählungen, geht etwas über den „Hungerkünstler“? Geht kaum!

    Unverständliche Welt. Vereinsamung. Fremd werden. Komik, ja brüllende Komik oft. Dreistigkeit und Niederlagen, Sieg und Abstürze, Frauengeschichten, Liebesgeschichten. Und all das mit dieser Sog-Sprache, diesen Bilderrätseln in Worten. Wenn man das mag, wenn man den liest, dann will man mehr davon, will man alles lesen. Aber Prägung hätte ich das nicht genannt. Vielleicht falsch. Man könnte es Neigung nennen, Sucht gar?

    Na ja, man kann ja auch Uwe Johnson lesen, oder Thomas Mann, da ist es ähnlich.

    Beste Grüße

    NO

    1. Lieber Dr. No, ich merke, wie Sie mein Begriff der Prägung beschäftigt. Ich habe auf Ihre Fragen >>>> dort schon zu antworten versucht. Es hat aber wohl nicht gereicht, war zu kurz von mir gegriffen oder zu schnöd von mir hingeworfen. Vielleicht gibt Ihnen “mein” Thomas Mann, über den>>>> ich soeben geschrieben, eine Antwort, die Sie mehr erfüllt. Vielleicht aber ist dieser Prägungsbegriff hier etwas Spezielles, das die Künstler angeht, die ihren Ahnen Referenzen erweisen. Denn in anderen Berufen hinterlassen sie nicht ebensolche Spuren, was am Character der Berufe liegt und daß die Spuren geheimere dort sind, die man vielleicht auch gar nicht zeigen möchte oder darf, weil der gemeine, im Sinn des Gewohnten, Beruf eine Trennung voraussetzt, schon indem er mit Begriffen wie Freizeit operiert, die für den Künstler ganz ohne Bedeutung sind und sein müssen, es sei denn, er versteht sich als Manager seines Berufs, was ein Wort ist, das nach wie vor von Berufung kommt und mit dem englischen, besser: USamerikanischen job gar nichts zu tun hat, mit dessen profession aber sehr wohl, in dem nicht von ungefähr die passion klanglich mitschwingt.
      Una passione, das ist auch Das Leid. Ihr kommt die erotische Obsession wohl am nächsten.
      Ich erzähle Geschichte und erzähle Geschichten, ohne die, diese wie jene, nichts denkbar wäre, was ich je zu Papier, Diskette und Festplatte habe gebracht. Und weiterbringen werde. Vielleicht, wenn Sie sich das vor Augen halten, wird mein Prägungsbegriff weniger für Sie prekär

      Was Ihre eigenen Kafka-Erzählungen angeht, so möchte ich mich dafür bedanken. Ich empfinde sie als großen… nein, “Gewinn” ist falsch, denn ich möchte bei sowas nicht rechnen.

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