[Best Western, 508. Keith Jarrett, Rediance (2005).]
Einen ganzen Tag mit den jungen Leuten zu arbeiten, hat es durchaus in sich, um so mehr übrigens, je kleiner die Gruppe ist. Bei mir sind des diesmal nur sechs Leute, von denen einer so die richtige Lust nicht hat; er fliegt immer wieder zu seinem iPhone hin. Auch Frau Junge erzählte, sie sei knapp davor gewesen, die iPhones einzuziehen, während ich anfangs noch gedacht hatte, der Bursche tippe seine Texte darin ein – wogegen nichts zu sagen gewesen wäre. Aber nachdem ich ein Dreiertrüppchen, als die Stipendiaten sich für eine Stunde Textarbeit durch die Räume verstreuen sollten, um für sich jeder und den Laptop oder das Papier einen Konzentrationsplatz zu finden, – als ich das Trüppchen dann beim Billardspiel erwischte… Nun gut, ich selbst hätt das seinerzeit nicht anders gehalten. Man kann, wozu ich sehr geneigt bin, sagen, so etwas gehöre zum Eigenprozeß, also dem, der den eigenen Willen gegen einen, der von außen kommt, positioniert und somit notwendig ist, um Haltungen zu erringen. Denn wiederum alle Schüler sind im übrigen höchst zielorientiert, und ich habe eben eine Gruppe diesmal mit deutlich naturwissenschaftlichem Interesse, dazu sportbetont. Da versuche ich, eine Vorstellung von Freiheit dazuzulegen, die aus dem ungebundenen Spiel mit Fantasie und Sprache gespeist wird. Indem eigene Fantasie losgelassen wird, entsteht die Fähigkeit sowohl zur Empathie (sich fremde Situationen vorstellen, sich hineinversetzen in fremde Willen, Wünsche und Prozesse), als auch zum freien Gedanken an sich – mithin: Vorurteilslosigkeit. Prägungen nicht abschütteln, sondern abgleiten von sich lassen ebenso wie unbefragte Normen. Ich kann schlecht das Potential, zu widerstehen, fördern wollen und zugleich selbst einschränken wollen. Andererseits ist eine Einschränkung – und die Fähigkeit, sie zu spüren – die Voraussetzung dafür, daß man sie abschütteln will. Wer Kindern alles erlaubt, nimmt ihnen die Möglichkeit, sich Freiheit zu erobern und sich am eignen Widerstand zu stärken.
Typische Problemfelder, die bei den Kollegen immer wieder bearbeitet werden, tauchen bei mir eigenwilligerweise kaum auf: Religiosität, verinnerlichte Moralvorschriften aus anderen als westlichen Ethnien. Vielleicht liegt das an mir. Wahrscheinlich sogar liegt es an mir. Oder ich werde als Trainer von solchen Stipendiaten erst gar nicht gewählt, die mit meinem Libertären von Anfang an nicht klarzukommen vermuten. Was an Signalen liegt, die ich gar nicht willentlich ausstrahle. Bei Frau Kiehl habe eine Schülerin oder ein Schüler gesagt, man habe Schwierigkeiten mit „Glatzen“ – womit dann sehr wahrscheinlich ich gemeint gewesen bin. Aus meiner Art, den Kopf zu tragen, wird von Menschen mit Migrationshintergrund verständlicherweise eine andere Codierung herausgelesen, als ich sie hineinaschrieb; deren Bezugssysteme sind anders als meine, der ich z.B. an Foucault denken würde und außerdem vor Augen habe, daß mittlerweile fast halb das männliche Berlin so herumläuft. – Dazu kommt, daß man es als Mann mit schönen Frauen, die auch noch blond sind, zudem ihre ganze Erscheinung eine Geborgenheit versprechende Wärme ausstrahlt, nicht so recht aufnehmen kann. Ich mach ja nicht mal auf mich selbst den Eindruck eines, der liebevoll umfangen will: mir steht die Einzelheit schon im Gesicht.
Dennoch, wir kamen schließlich gut voran. Ich lege einen Wert auf Kontinuität. Wir beginnen, jede:r, nach einigem Sprachspiel, einen Text, und wir bleiben an ihm dran über die zwei Tage: Auskleiden des gewählten Fiktionsraums anstelle immer neu und neu angeschnibbelter Fiktionsräume. Die geb ich immer nebenher noch hinzu: Nebengeschichten, unter denen die jeweiligen Hauptgeschichten aber konsistent immer hindurchlaufen, von denen nicht abgelassen wird, wenn einmal die Entscheidung für sie fiel. Bei den nächsten Seminaren werde ich das noch früher fokussieren müssen, so daß eine Dringlichkeit entsteht, sich für ein bestimmtes Thema zu entscheiden, das wirklich ein eigenes ist, eines, mit dem man innerlich zu tun hat.
Nachher Nachbesprechung der nunmehr ausgedruckten Texte.
Bis zum Mittag wird das gehen, dann fahren wir alle wieder auseinander. Ich aber bleibe noch bis zum Abend in Leipzig, >>>> deshalb, worauf ich mich sehr freue, auch wenn dieses Mal k e i n e Frau, die ich liebe, dabeisein wird. Was etwas Verschenktes hat, wie als beginge man ein Ritual gemeinsamer Erfüllung ganz für sich allein. Indes sollte, da ich über die Aufführung schreiben will, meine Haltung ohnedies etwas distanzierter sein. Andererseits könnte diese neue Kritik eben genau deshalb den Kern des Aufsatzes treffen, den ich, >>>> wie ich es Frau R. geschrieben habe, über den Rosenkavalier eines Tages verfassen möchte – in einem Buch vielleicht, das sich jeder der mich für prägend gewesenen Opern widmet.
Ulf Schirmer dirigiert, den ich noch aus Frankfurtmainer Zeiten kenne und den ich schon damals spannend fand. Bin gespannt, wie er‘s anlegt und durchführt. Um kurz nacht acht nehme ich dann den Zug zurück nach Berlin, so daß ich gegen halb 23 Uhr in der Arbeitswohnung eintrudeln werde. Da werde ich dann sofort Kohlen einglühen müssen, damit es morgen früh wieder warm ist.
>>>> Circes Tochter
(Die Nachträge dieses Tages.)