Die Löwin in Honfleur. Meine Seeabenteuer (12). Des alten Jim Hawkins’ Reisejournal des Mittwochs, dem 18. Mai 2011.

Bist du nicht die oase wo ich träume und die flasche
Aus der ich gierig schlürfe der erinnerungen wein?

Charles Baudelaire, Das Haar
in Stefan Georges Nachdichtung.
8.13 Uhr:
[Raucherdeck, Galerie; Port de Honfleur.
Kai.

Kaffee, Pampelmusensaft, Pfeife (Motzeks Morning 1975).
Ich stehe leicht unter Dope, so mein Empfinden. Gestern abend wogte der grippale Infekt nämlich so blühend auf, daß mich mich bereits gegen 21 Uhr in meine Kabine zurückzog, um vor mich hinzudämmern und von einem Spielfilm, den ich auf dem Laptop hatte, in frühen Schlaf gleiten zu lassen. Gebölke, Schnupfen, leichtes Fiebern, der Kopf in dumpfer Hyperrealität. Wahrscheinlich habe ich mir das im Sturm auf der Biskaya geholt und nur, weil ich am nächsten Tag nicht so sehr gut drauf war, des Heimwehs nach dem Süden wegen. Eine alte Dame, die bis zur Pensionierung Ärztin gewesen, gab mir fürs Bett zwei Tabletten, die ich tatsächlich schluckte. Die Wirkung hält bis eben an. Dennoch stand ich vorhin um sechs Uhr frühe auf, an Schlaf war schon nicht mehr zu denken. Da lagen wir bereits am Kai. Der Lotse sei schon um drei Uhr nachts an Bord gekommen: wegen der hohen Tiden-Unterschiede, ist die Einfahrt nach Honfleur eine Angelegenheit sehr langer Fingerspitzen.
Von alledem bekam ich aber gar nichts mit, sondern schlief wie drei Steine, auf die sich jemand gesetzt hat. Immerhin war mir abends, gerade w e g e n meines fiebrigen Zustands, die Idee zu einem Roman gekommen, über den ich hier aber noch nichtg reden will (schreiben will); wahrscheinlich wird aber wohl e r das poetische Ergebnis meiner nun anderthalb Wochen auf See sein. Nach meiner Rückkehr will ich mit der Lektorin von >>>> mare und mit dem Verleger sprechen. Am liebsten schriebe ich das Ding direkt an Bord auf einer längeren Fahrt; dafür wiederum werde ich mit der Reederei sprechen. Das will ich aber sowieso. Es ist einiges an Projektideen in mir gekeimt.
Jedenfalls. Gegen elf, sagte sie am Telefon, wird die Löwin in Wien ins Flugzeug steigen; dann werd ich meinerseits zum Flughafen nach LeHavre fahren, um sie dort abzuholen. Bis zum Abend dann klinke ich mich hier aus. Doch dürfen Sie gewiß sein, über Honfleur in der frühen Nacht noch zu lesen – die heute an Bord, übrigens, mit einem Klavierabend einsetzen wird: Rachmaninov, Tschaikowski, Beethoven. Dennoch lautet dafür der Kleidungsvorschlag: leger – ein wenig wundersam, da doch, werden nur Schlager gespielt, oft Galan vorgeschlagen wird. Auch dies, übrigens, ein Umstand, der sich poetisieren ließe.

Es ist bedeckt und kühl. Noch. http://Wetter.de sagt nämlich Sonne voraus für den mittleren Tag. Ich bin gegen halb acht auf die Brücke gegangen und habe auch Guernsay nachgeholt: Victor Hugo, der von der Insel seines Exils nach Honfleur blickt, und in Honfleur das Haar Baudelaires.
Muscheln werden wir zu uns nehmen, die Löwin und ich, und werden meine Kabine beleben. Hinter mir werden die Fenster geputzt.

22.10 Uhr continentaler Zeit:
[Aus der Seine-Mündung nach Portsmouth.]
Interessant freilich auch dies: In der Astor-Lounge spielt die Astor-Show-Band zum Tanz auf, und einsam tanzt eine Paar, eine ganz junge Frau asiatischer Herkunft, ein alter Herr, vor den Gruppen völlig leerer Stühle und Tische, während sich zu Yuliya Balashowas „klassischem Klavierkonzert” die Menschen in die Captain’s Bar gedrängt haben; zwar, Evergreens auch hier (Chopins La Valse, Liszts Liebestraum, doch eben auch zwei Préludes Rachmaninovs und drei Stücke aus Tschaikowskis eher unbekannten „Die Jahreszeiten”), aber das Interesse ist eben n i c h t nur Schlagermusik. Die 1969 geborene Pianistin hat ihre Konzertreife in Odessa mit Auszeichnung errungen; heute serviert sie Schiffspassagieren das Essen. Und: „Wie weit sind Sie unter Deck vorgedrungen?” fragte mich heute mein Segler-Bekannter. Geschichten über Geschichten.Der Roman, der mir in den Sinn kam, formt sich immer mehr, ich brauchte ihn imgrunde nur herunterzuschreiben. Noch einmal solch ein Schiff besteigen, für vier Wochen, um ausschließlich dieses zu tun: den Roman zu schreiben. Na, sagen wir: sechs Wochen, dann sollte eine Rohfassung stehen. Den Feinschliff kann ich am eigenen Schreibtisch besorgen.Wir haben Moules marinières gegessen, und Bulots, welches Meeresschnecken sind, sowie einen Lachstartar; dazu gab es Wein; Calvados besorgte ich erst später.
Honfleur ist ein entzückender kleiner, touristisch zwar ziemlich erschlossener Ort; das macht sich an den Preisen bemerkbar, nicht aber an der Architektur. Sie haben großen Geschmack bewiesen, diese normannischen Franzosen, Traditionsgeist mag hinzugekommen sein und immer noch hinzukommen. Was renoviert ist, ist sorgsam zurückhaltend erneuert, der Character des in zwei grüne Hügel hineingebauten alten Hafenorts hat nicht einmal durch den aber auch wirklich gelungenen Bibliotheksneubau verloren, den Bauderlaires, der hier gelebt hat, Satz verhalten ziert:
Mon installation à Honfleur a toujours eté le plus cher de mes rêves.

Man sieht durch die runde Glasfront auf die Bücherreihen. Trotz dieses Einbruchs durch die Postmoderne ist hier gar nichts, anders als in Guernsay, gecleant. Der Ort, für die Augen, ist reiner Zauber. Dafür sind Taxen, vor allem mittags, nur schwer zu bekommen, und für kurze Strecken gar nicht: niemand, der sich sein Mittagessen für mein Trinkgeld stören ließe. Die Löwin und ich mußten ganz um das Becken herum, weil die Fußgängebrücke in Wartung befindlich, und bald danach an gestapeltem finnischen Holz über die trockene Wiese; vor der Wiese wechselte meine Gefährtin die Schuhe, als die Wiese passiert war, abermals. Immerhin war’s noch, jahreszeitlich, zu früh für die Plage der Bremsen. Dann lag das Schiff da.
Ein Vorhang erst, dann finden sie uns auf dem Achterdeck mit einer Flasche Cidre wieder. „Zum Flughafen nehm ich ein Taxi.” Wir ließen es über die Rezeption der ASTOR rufen, nun bin ich wieder allein. Das nächste Ziel ist Portsmouth.

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