Eine Rusalka, die slawische Variante der Nixen, ist nicht, wie diese sind, Naturwesen, sondern ein von einer Schuld unerlöstes Gespenst: eine verlorene Seele, die Begnadigung und Heil sucht. So übermittelt es Corinna Holtz in Bezug auf >>>> Jost Eickmeiers leidenschaftlich-kluges Wasserfrauen-Buch. Meist sind Rusalken in ihren früheren Leben ungewollt schwanger geworden und haben ihrem Leben durch Selbstmord das Ende gesetzt. Wenn sich nun diese spezielle Rusalka, jene aus dem Mythos und in Dvořáks Oper diese, in den Prinzen verliebt und sich um seinetwillen ein Leben ersehnt, das den bürgerlichen Normen entspricht, dann unterscheidet sich ihre Sehnsucht grundlegend von der der andersenschen Kleinen Meerjungfrau. Hier nämlich wird dann um Wiederherstellung gerungen, ja um Wiedergutmachung vielleicht. Dabei ist das nicht nur Erlangung von Seele und Teilhabe an Wiederauferstehung, sondern auch ein Opfer, weil der „Hafen der Ehe” für die dann durchalimentierte Frau quasi völlige Rechtlosigkeit bedeutet. Dafür ist die an der Angel ihres schließlich totgeküßten Mannes hängende Rusalka ganz sicher das nachdrücklichste Bild, das Barry Kosky für die innere Verwicklung aus Sehnsucht und Ambivalenz dieses Wasserwesen-Mythos gefunden hat. Aber das versteht tatsächlich nur, wer die mythischen Hintergründe und ihre Psychologie kennt. Ansonsten nimmt es, wie einige andere Bilder dieser Inszenierung, die Gewalt einer mythischen Erscheinung-selber an –– etwa der in der Tat derart grauenerregende Auftritt des Sohnes der Naturmacht Ježibaba, daß ein Elternpaar, um die davon losgebrochene Panik ihrer Fünfjährigen aufzufangen, fluchthaft das Parkett verließ. Denn weder der Regisseur noch auch der neue Musikchef des Hauses, Patrick Lange, lassen einen Zweifel daran, daß es Dvořáks Oper bei aller märchenhaften Lyrik radikal um Existenz zu tun ist, um ein Existenzielles, das kein Spaziergang ist, für den man Sonnabendabends in die Oper geht.
Patrick Lange läßt sein Orchester gern auch toben; es gibt eine gespürte Verwandtschaft zu slawischem Temperament – was eine gewisse Rührseligkeit einschließt, die Rusalkas Arie an den Mond ein Stück Musical werden läßt: zu purem Kitsch, der nur noch er selbst ist und genau darum packt. Ina Kringelborn singt ihn mit wehmütigster Intensität, was in dieser Inszenierung den Vorteil hat, daß man sie nie für ein naives Mädchen hält. Bereits ihr erster Auftritt, bei dem sie noch Unterleib und Flosse einer wirklichen Nixe hat, läßt sie deshalb mehr nach einer Elefantenkuh wirken, deren träge und zähe Beweglichkeit den Gedanken an eine ungebundene Freiheit von Wasserwesen gar nicht erst aufkommen läßt. Da ist es allein bildlich mehr als verständlich, daß sie diesen gedrungenen Unterleib nur noch loswerden und endlich (wieder) Beine haben will. Nachdem die Anfangsversuche stelzig wie bei Füllen sind, gerät ihr das erste wirkliche Herumlaufen denn auch zur juchzenden Lust.
Die Kitschmomente, die ich als musical-artig empfinde, haben aber nun ihre Berechtigung, insofern >>>> Luciano di Crescenzo Kitsch einmal als „die Abwesenheit von Scheiße” definiert hat; genau das versucht ja ein Kitsch, verlogen zu supponieren. Das hat bei Dvořák Methode in der kompositorischen Faktur; er wollte unbedingt Opernkomponist sein, weil „diese Musik (…) breite Schichten” hören, nämlich ‚das Volk’, „und zwar sehr oft”. Daß das Programmheft seinen unbedingten Willen zum Populismus so betont, ist dabei durchaus zweischneidig, zumal für unsere Gegenwart, die lieber Andrew Lloyd Webber hört und, wenn’s gutgeht, Madonna oder Sting. Die Schwierigkeiten, die ich mit Dvořáks Musik auch hier wieder habe, nämlich daß er nach dem Publikum ständig mit Speckschwarten schmeißt, hebt Koskys Inszenierung durch ihre Radikalität allerdings sehr oft auf, schon weil er die Musik durchschreien läßt (Betonung auf schrei), wider Partitur, und das ganze Stück dramaturgisch aufheizt. Außerdem hat der Kitsch auch insofern angemessenen Sinn, als doch der Rusalkas Schwärmerei für den Prinzen wider besseres Wissen geschieht; sie tut so, als wär sie noch Backfisch; genau so tut die Musik, als wäre sie wirklich große Oper, und wie beim Evergreen tut das Publikum nur allzugern mit. Es hat die Verdammnis ins Plumpe derart auf Rusalkas verlorener Seele gelastet, daß sie nicht einmal die blutverschmierten Hände des Prinzen wahrnimmt, die er in ihr badet – man kann sagen: sich abwäscht – und mit denen er den hellen Saal wieder und wieder beschmiert. Schließlich war er auf der Jagd. Dabei verwechselt er nicht grundlos, nämlich nachdrücklich, sein Wild, das beschwärmte „weiße Reh”, das er doch schießen (!) wollte, bis zu seinem Ende mit dem stummen Mädchen, welches er zu sich, doch nicht an sich nahm, um es zu seiner Gemahlin zu machen. Mit dem er sich aber nicht verständigen kann und das auch seinerseits oft gar nicht begreift, was er von ihr will. So sind beide einander nichts als die Leinwände ihrer verkitschten Projektionen – deutlich genug schon in Rusalka, wenn sie gegenüber dem Wassermann-Vater von der körperlichen Glut und Schönheit ihres Prinzen schwärmt. Tritt der dann wirklich auf, ist es ein anämisch unsicherer Leptosomer, haltungslos und bis zur Schwächlichkeit dekadent. Man muß das brünnhildige Rusalka-Vollweib neben diesem Blaßling nur s e h e n, um die Tragik sofort zu erspüren, in der dieses Wesen gefangen ist. Das sieht ihr Wassermann-Vater also völlig zu recht. Die Musik reflektiert das selbst, nämlich im Jammerton des Prinzen, dem der sehr typisch englische Tenor Timothy Richards’ deutlich Stimme gibt: sie kann nie weit, darf niemals voll sein, anders als der massive Mezzo Agnes Zwierkos, die die Hexe singt, anders aber vor allem als Ina Kringelborn, die >>>> in den großartigen Meistersingern der Komischen Oper Berlin bereits die Eva sang und von der ich keinen Zweifel habe, daß man sie zu recht und bald in Bayreuth hören wird.
Doch auch die über ihre ganze Menschheitsgeschichte hin zynisch gewordene, naturgewaltige Ježibaba sieht diesen Unterschied, die ihr brutales Entsetzen ins irre Lachen ihres Sohnes abgespalten hat, so daß sie vor keiner Bestialität mehr zurückschrecken muß: d e r, nicht sie, trägt die Gehässigkeit aus. „Politisch” nicht unbedingt korrekt, stellt Michel Podwojski ihn als irre und hinkende Mißgeburt dar. Barry Kosky inszeniert das nicht ohne eine trashig-brutale Freude am Horror, die vom Publikum selbstverständlich geteilt wird. Anders als >>>> bei dem von mir favorisierten Bieito – nie, wirklich niemals mehr, werde ich >>>> seine Butterfly vergessen – – also anders als bei dem sind solche Szenen nämlich nicht Provokationen, sondern – mag durchaus sein: notwendige – Affirmationen der in dieser Märchenoper erzählten Conditions humaines. Selbst die geschickt, ja virtuos verborgene, dennoch öffentliche Schlachtung einer Hauskatze wird da nicht als skandalös wahrgenommen. Außerdem bleiben ja alle Darsteller bekleidet; schon dafür ist der höchst gefüllte Saal zu jederlei Zugeständnis bereit. Bezeichnenderweise fing ich in der Pause Gesprächsfetzen auf, die Kosky gegen Bieto hielten.
Problematisch bleibt indes Klaus Grünbergs gleichermaßen protziges wie, als bewußtes Understatement, schlichtes Bühnenbild, das das marmorhelle Entrée eines Palastes zeigt, zugleich eines unter Wasser wie an Land. Nur zweidreimal gibt es hier eine – und dann grandiose – Irritation: er beginnt nämlich für wenige Sekunden zu verschwimmen, was deshalb ein ganz enormer Effekt ist, weil man ihn erst einer Schwäche des eigenen Kreislaufs zuschreibt, so, als würde einem plötzlich schwindlig werden, bevor man den Bühnentrick als nämlich einen Lichttrick begriffen hat; doch erschloß sich mir nicht, inwiefern dieses flüssige Flirren mit dem Geschehen zusammenhing. Denn in der ganzen übrigen Zeit verblieb auch die Unterwasserwelt in marmorner Rührlosigkeit – ein untergetauchter Spiegel der erstarrten bürgerlichen Gesellschaft. Insofern ist der Gleichlaut beider Paläste völlig konsequent; allerdings kennen wir das aus den sozialpolitischen Opern-Interpretationen der letzten vierzig Jahre zum Abwinken und sind dessen, eigentlich, satt. Jedenfalls stieß die bühnenszenische Interpretation, ganz anders eben als die inszenatorische, sehr zu früh an ihre Grenzen.
Ein Wort noch zu dem hellen, herrlichen Baß Dimitry Ivashenkos, der in – siehe Kitsch – tiefster Verlogenheit den Wassermann singt: denn auch an seiner Angel hat Rusalka schon gehangen. Hinter dem, was in der sympathischsten aller Intonationen zu Dvořáks Melos wird, verbirgt sich ein larmoyantes Eigeninteresse, das seine wohlfeilen Prophezeiungen als (quasi) menschliche Klage lediglich tarnt: so gern hört man ihm zu, daß man das ganz vergißt.
Rusalka.
Lyrisches Märchen in drei Akten von Antonín Dvořák.
Libretto von Jaroslav Kvapil.
Deutsche Textfassung von Bettina Bartz und Werner Hintze.
Musikalische Leitung Patrick Lange, Inszenierung Barrie Kosky.
Bühnenbild und Licht Klaus Grünberg, Kostüme Klaus Bruns.
Dramaturgie Bettina Auer, Chöre André Kellinghaus.
Rusalka Ina Kringelborn, Der Prinz Timothy Richards,
Fremde Fürstin Ursula Hesse von den Steinen, Der Wassermann Dimitry Ivashchenko,
Hexe Jezibaba Agnes Zwierko, Wildhüter Peter Renz, Der Küchenjunge Christiane Oertel,
Erste Elfe Julia Giebel, Zweite Elfe Elisabeth Starzinger, Dritte Elfe Caren van Oijen,
Ein Jäger Matthias Siddhartha Otto, Ježibaba Sohn Michel Podwojski.
Die nächsten Aufführungen:
13., 17. März, 09., 28. April, 01., 13. Mai., 14. Juli.
>>>> Karten.
>>>> Online-Ankündigung der Komischen Oper Berlin.
Empfehlung auch für die Spielzeit Herbst & Winter 2011/2012 Nachdem ich gestern diese Inszenierung mit veränderter Hauptrollenbesetzung sah, möchte ich sie an dieser Stelle übrigens nochmal wärmstens empfehlen. Die Veränderung bestand v.a. aus einer nicht nur stimmlich sondern auch im Spiel wunderbaren Asmik Gregorian in der Titelpartie; Ivaščenko blieb als sonorer, ausdrucksstarker Wassermann dankenswerterweise erhalten und Richards gibt den Prinzen nach wie vor glaubhaft als rückgratfreien regressiven Waschlappen (ja, das ist gut so). Zwierkos herrlich spielfreudige Ježibaba fiel demgegenüber überraschenderweise zumindest stimmlich etwas ab, da fehlte mir in manchen Momenten das letzte Quentchen Tragfähigkeit. Von dem im großen und ganzen gut geführten, überwiegend angenehm knackig und schön transparent klingenden Orchester hätte ich mir höchstens noch etwas mehr Biss und Zugkraft bezüglich der schnelleren Tempi gewünscht, die mir gelegentlich noch eine Kleinigkeit zu gemächlich waren. Möglicherweise eine der Routine geschuldete Verschleifung.
Das – übrigens die Innenarchitektur des Hauses selbst (mithin quasi der *dritte* Palast) direkt aufnehmende und fortführende – Bühnenbild hat mich ebenfalls nicht vollständig überzeugt. (Ebenfalls wiederum mit unbedingter Ausnahme der das Gesehene so überraschend wie wirkungsvoll ins Schwimmen bringenden Videoprojektion im 3. Akt.) Erst recht aber, wenn ich mir die (wie üblich) grandiose Arbeit Heike Scheeles in Stefan Herheims vielschichtiger, auch im Wortsinn phantastischer und m. E. nur schwer zu übertreffender Inszenierung in Erinnerung rufe. Auch wenn mir ein Vergleich aufgrund der völlig unterschiedlichen Regiekonzepte nur bedingt sinnvoll erscheint (zumal angesichts der jeweils verfügbaren bzw. nicht verfügbaren ökonomischen Mittel).
Den Vorwurf an Dvořák bezüglich der Speckschwartenschmeißerei finde ich übrigens ungerechtfertigt. Selbiges könnte man ebenso gut anderen vorhalten, z. B. Rossini und nicht zuletzt auch Verdi, der sich der damaligen Gassenhauerqualitäten mancher Arien ja nicht nur deutlich bewusst war, sondern sie auch genau *als solche* (mit-)komponierte – das gehörte zumindest für die italienische Oper schlichtweg auch mit zum Handwerk. Zugegebenermaßen spielt die Ökonomie dort mit hinein, bei mindestens Rossini (den man deswegen aber mitnichten unterschätzen sollte) z. T. auch massiv bis hin zum Zwang. Ich halte das u. a. für vergleichbar mit den Fällen guten Hollywoodkinos, in denen Kunst und Mainstream erfreulicherweise zusammen finden, anstatt sich wie üblich gegenseitig im Weg zu stehen. Ebenso wie, zeitlich etwas weiter zurückliegend, auch beim elisabethanischen Theater: Shakespeare (wer auch immer das gewesen sein mag) und Konsorten wussten *ziemlich* gut, wie auch das breitere Volk zu unterhalten war. Was der Kunst definitiv keinen Abbruch tat.
Der Blick auf’s und die Hinwendung zum Volk, schließlich, sind außerdem unbedingt auch in den Zeitkontext zu setzen (siehe auch Janáčeks aktives Interesse an der regionalen volkstümlichen Musikkultur, die Arbeit der beiden Grimms etc.). Das ist mit heutigem Populismus nicht vergleichbar.