Dies furchtbare Sehnen ODER Unbegrenzt vereint zu sein (4): Wie eine Sinfonie. – Formenskizze des Fundaments.


Da in der Hoch- und Spätromantik, spätestens mit Schopenhauers Überlegungen, für die „Kunst an sich” die Musik gilt und ich diese Vorstellung nach wie vor teile, liegt es nahe, ein Hörstück über „die” Romantik auch einem Musikstück gleich aufzubauen; da ich konstruierend-strukturell aber dem Klassizismus zuneige (formal allerdings der romantischen Spielart einer Postmoderne, die poetisch libertinär ist), liegt es nahe, sich hierbei an Brahms, nicht etwa an der Bruckner-Mahler-Linie zu orientieren, und Viersätzigkeit ins Auge zu fassen. Das ist jetzt erst einmal nur eine grobe erste Skizzierung.



ERSTER SATZ     I n t r o 

Thema, sowohl musikalisch (E-Gitarren-Riff ./. Tristan-Auflösung) als auch diskursiv (William Gibson ./. Novalis) mit jeweils den entscheidenden Phrasen. Auflösung in die Stadtgeräusche.


ZWEITER SATZ     E i n s c h l a f e n 

Beginn des Nachtspaziergangs durch Berlin. Selbstgespäche (Innere Zitate). Die Lockung. Dieser Satz beginnt aber, als Formklammer zum Vierten Satz, mit Gibsons berühmtem Einstieg in Newromancer; das Thema des Erwachens wird von Novalis indes noch verworfen. Historisch-zeitliche Zuordnung hier wäre die Frühromantik zu der in allen Sätzen vorherrschenden, durch die O-Töne des Nachtspaziergangs markierten Gegenwart. Gegenwartshistorisch, für die Auswahl der Zitate: Wandervogel, 20er Jahre, sowie die 60er Jahre.* Hippies, Aufbruch zu Politisierung und Selbstbewußtsein.usw. „Mehr Demokratie wagen” und Friedrich Schlegels emanzipatorischer Ansatz. Fluxus. Aber schon der Beginn des Eskapismus: Hermann Hesse und Timothy Leary als Päpste.


DRITTER SATZ     T r ä u m e n 

Der Spaziergang ff., die Clubs. Zeitliche Zuordnung: Hoch- bis Spätromantik, nämlich politische Restauration bei gleichzeitiger Formenzertrümmerung wie -erweiterung in den Künsten. Entsprechend die Mitte der 80er bis in die 90er und nach unmittelbar heute hinein. Esoterik, New Age usw. Biedermeier zu Design (Romantik-Werbepartikel: der romantische Büstenhalter, das romantische Hotel, die „Wellness”). Helmut Kohl als Metternich mit sämtlichen Schröderfolgen und dann der machtbesessen-biederen Merkel. Eskapismus (der Traum als Furcht vor der Ernüchterung), aber auch die Entdeckung des Unbewußten als Kraftraum und Quelle der Künste. Symbolismus (etwa Baudelaire und Poe ./. Abraham Stoker). Weltweiter Etappensieg des Kapitalismus. Die synthetischen Drogen und der dunkle Pynchon. Das Völkerschlachten auf dem Balkan. Die erstarkten Religionen (dazu Nietzsches Abkehr von der Romantik eben aus diesem Grund). „Abtanzen”. Entpolitisierter, weil gemainstreamter Reflex der Sonnenblumen-Ravers auf die Sonnenblumen der Hippies. Aber auch schon Wolpertinger und Anderswelt mit den klassizistischen Formen, die in den Vierten Satz überleiten: Dämonen nicht in die Säue, sondern in die Maschinen. Rausch, Ich-Verlust (Benn: „Den Ich-Verlust, den süßen…”), Massenbegeisterung (Hitlerjubel, Obamajubel). The Matrix und eXistence. Mir fällt noch die begriffliche „Bourgeoisierung” von Diskotheken in „Clubs” ein.


VIERTER SATZ     E r w a c h e n 

Nebelmorgen (Manfred Hausmann). Der üble Geschmack des Alkohols auf dem Zungenhals. Bisweilen geht das E-Gitarren-Riff noch mal über ein Tramkreischen drüber. Katerstimmung und schwarze Galle, über die fast unmerklich der Tristan schwappt (eventuell in den Krebs kopieren, also sozusagen seitenverkehrt einspielen). Ordnungsversuche, Nach-Echos, Flashs. Das Handy klingelt, Telefonat führen mit müder Stimme. Scherben von Bierflaschen auf den Straßen. Paar Leute eilen schon zur Arbeit oder schleppen sich dahin. Gelächter. Klare Gedichte dazu: Montale, Ungaretti. Sabine Schos Pragmatik. Auch Helmut Schulze.
Dann geht die Sonne auf.

[*: Die zeitlichen Zuordnungen meinen
nur den Akzent, meinen nur eine besonders
betonte Perspektive.
Auch die „Themen” der Sätze sind nur Betonungen. Die
Übergänge sind fließend.]

Nachtrag:
Nach der Überlegung um 15.45 Uhr >>>> dort kam mir zu den Städtebildern der drei Jahrhundertwenden die Idee, einen Text so zu collagieren, daß die jeweiligen Beschreibungen der verschiedenen Autoren direkt ineinander übergehen, ja sogar ganze Satzteile sich ineinanderschieben. Auch hier gilt, daß die Schnitte nahezu unmerklich sein müssen. Und selbstverständlich wird das dann von einer einzigen Stimme vorgetragen… nein, von zwei Stimmen simultan. Eine Mischstimme aus weiblich und männlich, so, wie >>>> Farinelli synthetisiert worden ist, aber hier eben nicht für den Gesang, sondern für eine Prosarede. Ich habe das Verfahren schon einmal angewandt, in >>>> Das Wunder von San Michele, 2006. Hier aber darf die eine Stimme nur ahnbar sein, als eine nicht recht faßbare Irritation.

>>> Das furchtbare Sehnen 5
Das furchtbare Sehnen (3) <<<<

12 thoughts on “Dies furchtbare Sehnen ODER Unbegrenzt vereint zu sein (4): Wie eine Sinfonie. – Formenskizze des Fundaments.

  1. Hexensabbath Das Thema “Aufbruch zu Politisierung und Selbstbewußtsein” ist ohne Zweifel sehr wichtig, und da das politische Thema der literarischen Romantik ohne Zweifel die Französische Revolution ist (auch wenn es davon keine O-Töne gibt), sollte man diese, denke ich, auch direkt thematisieren. Das fehlt mir in Ihrer Skizze noch ein wenig, denn auch dort findet sich Massenbegeisterung, Aufbruch, Hoffnung, sich wandelnd in Gewalt, Fanatismus und Unterdrückung. Das ist immer ein schöner, menschlich-allzumenschlicher Spannungsbogen! Und warum nicht in diesem Zusammenhang die “Symphonie fantastique” mit einbauen (ich weiß: kennt jeder, aber Deep Purple ist ja auch nicht unbekannt), denn ich wage als Musik-Laie mal zu behaupten, da steckt einiges (an “Romantik”) drin, Liebe, Tod, Rausch usw. – der Hexensabbath als Höhepunkt einer durchtanzten Nacht? Why not!

  2. Brahms… … finde ich nicht unpassend. Wenn man sich’s genauer ansieht, stellt man eh fest, dass der Mann im besten Sinne völlig verrückt gewesen sein muss. Äußerlich betrachtet ist alles hübsch und ordentlich, Skelett und Fassade sauber konstruiert, verputzt und gestrichen, nichts bröckelt da. Geht man jedoch hinein… in diese seltsam tanzenden und tobenden Zimmer mit ihren zahllosen Wurmlöchern und Wucherungen… o! oh! aye!

    (À propos: Janáček!)

    1. @Schlinkert und brsma. Berlioz, selbstverständlich (wie in der Lyrik Baudelaire). Es ist sehr naheliegend, muß aber eben auch hörend sofort verstanden werden können (so ein Hörstück wird einmal, und wenn man Glück hat, noch ein- oder zweimal als Wiederholung ausgestrahlt, das geht immer ganz schnell in den Äther hinweg)… also: naheliegend, aber zulässig, wenn man das nicht auswalzt: Im Dritten Satz den Hexensabbath unter einen Techno mischen. Berlioz’ Motiv der idée fixe würde sich selbstverständlich auch als Leitmotiv durch das ganze Stück eignen, aber dann würde es mir zu sehr fin de siècle-betont werden, und zwar zu sehr fin de siècle des 19 Jahrhunderts. Tatsächlich haben wir es mit d r e i “fin”s zu tun: 18. zum 19., 19. zum 20., 20. zum 21. Jahrhundert. Mein Akzent liegt auf dem letzten, wobei ich mich eben deshalb für den Tristan entscheide, weil Wagner hier imgrunde die gesamte Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts in nuce vorwegnahm – bis hin in die großen Filmmusiken, aber eben auch den Pop. Diese Bedeutung hat Berlioz zweifelsfrei nicht.
      Wegen der französischen Revolution: ja, wenn etwas mehr Zeit wäre. Aber ich muß das Hörstück irgendwo beginnen lassen und wähle dafür, auf der intellektuellen Seite, Schlegel. Da ist freilich die Reflektion über die frz. Revolution mit enthalten. Das Thema erschöpfend werde ich aber eh nicht sein, zumal ich ja keinerlei Erklärung in dem Hörstück haben will.

      (Janáček ist eine meiner großen Lieben in der Musik, fast ebenso stark wie Britten. Da habe ich aber spontan für dieses spezielle Hörstück-Thema, außer vielleicht Makropoulos, keinen spontanen Ansatz parat, und Makropoulos machte zudem ein ganz anderes Faß auf, das mehr zu Busonis Faust und Hindemiths Matthis sowie zu Manns Leverkühn gehört. Das sind zwar romantische Themen, aber als solche bereits zu spezialisiert.)

    2. Nachfrage@Schlinkert. Würden Sie solch eine Tour durch die Clubs mit mir zusammen unternehmen und während des Gehens auch dreivier der Texte mit aufs Band sprechen? Ich will auch Brossmann fragen; einen Kontakt von Ihnen beiden stelle ich mir eh als für alle Seiten fruchtbar vor.

      Ich merke nämlich gerade, bzw. das kam mir vorhin als Idee, daß ich zwar vier Profisprecher für die Aufnahme der Grund-Texte brauche, aber gerne vielstimmiger würde und dazu, wie Handkameraführung bei Godard, Momente des Improvisierten und nicht-Perfekten in die professionellen Sprachaufnahmen hineincollagieren will. (Es gibt übrigens bei youtube auch einige Mitschnitte von Open Mikes, auf die ich evtl. zurückgreifen würde; ich muß mich nur erst orientieren, wie das denn rechtlich aussieht, also ob da VG-Wort und GEMA-Meldungen hinreichend sind.)

      Je mehr Stimmen ich zusammenbekomme, desto besser. Möglicherweise spreche ich auf der Straße auch ganz fremde Leute an und bitte sie, kurze Zitate zu lesen. Das kann ich wahrscheinlich auch >>>> in meiner Bar machen;. nur ist das da die völlig falsche Szene.

    3. Füße in der Dschungel, spurlos und leis’ Aug’, das im Dunkel zu sehen weiß!
      Bleckender Fang und rasender Lauf!
      Einmal – zweimal und wieder.

  3. Ick gloob, ick träume, nee ne?
    Ich tu doch nur so, ich weiß doch nicht mal, wie man Zündkerzen wechselt, geschweige denn, wie man Physiotherapeuten verführt. Da sind Sie viel pragmatischer. Im Grunde muss man mir noch die Schuhe binden, aber, psst, nicht verraten, hab ich schlechte Karten bei Kerls, weil, Kerls wollen doch taffe Frauen und selbst Schuhe gebunden kriegen.

    1. lachend@sowieso: Meine Schuhe mag ich schon selber binden… das Entbinden freilich kann reizvoll sei, wenn es damit nicht schon aufhört.

      Aber im Ernst: Ich denke momentan an sea fog oder ein Stück aus den drei Pfauen. Ich b r a u c h e diese sehr poetische Spielart von Nüchternheit, um das Gewebe wieder aufzulösen. Ich hab bei “den Männern” rumgeguckt; das eignet sich alles nicht, ist alles zu hartkantig (für das Hörstück, selbstverständlich).

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