Briefe aus Sizilien (6): ERSTER TEIL. Das Reisejournal des Sonnabends, den 23. Oktober 2010, auf den Abreisesonntag des 24. Oktobers 2010 – nämlich der Fünfte und zugleich letzte Brief an die Leser, abgesandt aber erst in Berlin. Von Agrigent nach Terrasini. Sowie nunmehr vom Aeroporto Punta Raisi über Stuttgart nach Deutschland zum Flughafen Tegel Berlins. – Und: ZURÜCK.

5.18 Uhr:
[Hotel Namenlos, Terrasini (PA).]
Es gibt Hotels, deren Name ich nicht nenne, weil ich sie nich empfehlen mag. Dieses hier gehört, meine Leser, dazu. – Ah, Sie fragen ernstlich, weshalb wir hier dann unterkamen? Weil es an der Nordwestküste schwierig war, noch vor Einbruch der Dunkelheit eine Unterkunft zu finden, die alle unsere Interessen vereinte; weil mein Junge so gern noch einmal ins Meer springen wollte; weil wir gern noch gut zum Abschlußabend essen wollten; weil wir aber schließlich d o c h nicht mehr nach Palermo hineinwollten, um nicht morgens uns eventuell durch eine Marmelade aus Verkehr quälen zu müssen und dann womöglich unsern Rückflug zu verpassen; d a r u m also nahmen wir diesen Kasten hier, der außen so häßlich ist, wie man sich einen Touri-Kasten halt vorstellt, und innen so sehr Passepartout, wie man sich das ebenfalls vorstellt; immerhin direkt am Meer, aber man gab uns, weil ich den Preis hinabhandelte und obwohl die gesamte auch Hauptsaison auch hier mies gewesen ist und auch zur Zeit dieser Laden kaum ausgebucht genannt werden kann, selbstverständlich keinen Meeresblick. Was aber möglich gewesen wäre, und zwar aufs leichteste. Kurz: mir sind auch die Leute, die das Hotel bedienen, unsympathisch, und für sie sind wir Eintagsanzüge von der Stange. Der Preis ist zudem immer noch hoch genug, knapp doppelt so groß wie die Zimmerpreise für jedes unserer bisherigen Pensionen. „Unpersönlich” hat gestern abend C. die Atmosphäre mit ihrem skeptischen Euphemismus benannt. Doch mein Junge und ich kamen noch mal ins Wasser, und eine ausgezeichnete und sehr schön gelegene, allerdings teure Trattoria gibt es gleich nebenan. Nie noch sah ich zuvor eine Dorade von anderthalb Kilo Gewicht; noch nie aber zahlte ich auch knapp 60 Euro dafür (plus Antipasti siciliani, ebenfalls ausgezeichnet, aber teuer; plus Wein plus Wasser plus Caffè & Grappa). Und aber: wir werden zum Flughafen keine zwanzig Minuten brauchen. Hat es geheißen. Gestern abend. Wir werden sehen. Immerhin soll es Kaffee schon ab sechs Uhr morgens geben, also in einer Viertelstunde.
Zurück nach Girgenti. Zuletzt, vor also jetzt, saß ich d a:„… auf den Spuren der Sizilischen Reise” übertitelte ich gestern den Fünften Brief. Nämlich spätestens seit Syrakus war das auch so; dauernd konnte ich sagen: hier hat mein Erzähler… dort geschah meinem Erzähler; und sowieso ist der >>>> Sizilischen Reise an sich wenig hinzuzufügen, außer diesem allerdings, daß sich seit 1995, als ich jene Erzählung schrieb, baulich-restaurierend enorm viel getan hat; die von Europa nach Sizilien gegebenen Geldmittel sind ganz offensichtlich infolgs der Mafia-Clearings der letzten Jahre in seither richtige Kanäle geflossen, oder, wie der Freund es ausdrückte: „Jetzt hat die Mafia die Baufirmen gekauft und verdient zwar immer noch, aber jetzt nur noch am Mehrwert.” Schon in den >>>> Briefen aus Catania war mir aufgefallen, wie leuchtend hell vieles unterdessen geworden, und C. bemerkte, es gebe eigentlich gar keinen Schmutz, alles sei sauber und geputzt – was für die Straßenbilder, die wir auf dieser Reise sahen, sehr stimmt. Oder fast stimmt. Denn verglichen mit deutschen Kleinstädten werden Schmutz, Abfall, Tagesspuren ganz sicher nicht versteckt, und die enge Gassenstruktur wie auch das aneinandergedrängte Leben tun, vermixt mit dem hiesigen Temperamt und der Art, vorwiegend draußen zu leben, ein Übriges, daß kam je etwas erstarrt erscheint: abgesehen von den Zeiten der Siesta. Da zieht sich fast jeder noch immer zurück. Und der Verkehr ist ebenfalls angenehm dicht und gelassen und gegenwärtig und locker geblieben. Freilich, es gibt unterdessen Ampeln, an denen bei Rot auch der heißblütigste Sizilianer hält.
Jedenfalls auf der Terrasse neben unserem Hotelchen in Girgenti habe vor Jahren ich – da gehörte sie noch zu einer jetzt aufgelassenen Taverne (Sie erinnern sich der echsenköpfigen Frau?) – meinem Erzähler erzählt, wer er denn eigentlich ist… war, muß ich schreiben, denn hernach, bekanntlich, ist er ein anderer, ein anderes geworden. Heute gibt es die Taverne nicht mehr; stattdessen eine Jazz-Bar, vor der gestern abend eine Band vierer Instrumentalisten ziemlich gut Chansons interpretierte, allerdings ziemlich auch laut. Was mich überhaupt nicht störte. Gitarre, Baß, Klarinette, Schlagzeug; der Gitarrist sang dazu. Wenn er nicht rauchte. Was er quasi ständig tat, mehr sogar noch als ich. Ansonsten röhrte der junge schöne Mann, schlank und schwarzes Lackhaar, ein Lackschnurrbart dazu, tief und kehlig, dann laut und ergriffen, zum Beispiel ergriffen von Jahnny Cash. Und die girgentische Jugend saß dazu draußen und trank und lachte und diskutierte und futterte auch was. Das ging, als wir lagen, durch alle Räume. Mich aber, und meinen Jungen, mit dem ich umschlungen einschlief, ließ es selbst bei geöffetem Fenster in den Traum gleiten. Er, mein Junge, hatte nicht mehr gemocht, daß ich noch einmal hinausginge, um mit dem Freund einen Grappe zu nehmen.
Dann war es Tag.
Erst einmal Morgen.
Ich nahm, wie ich schrieb, einen Caffelatte, das wurden dann dreivier Caffeelatti, dann schon fünf, schließlich kamen die Freunde und kam auch mein Junge herab. Und wir machten uns auf, den normannischen Dom zu erklettern, der hoch über Girgenti aufs Meer schaut.Das heißt: die Freunde kletterten mit meinem Jungen voran, derweil ich Ihnen meinen gestrigen Brief in Die Dschungel tat. Danach erst kletterte ich hinterher.
Selbstverständlich ist dieses „klettern” übertrieben; aber es macht recht anschaulich, wie die Kathedrale gelegen ist.

6.27 Uhr:
Ich kann jetzt nicht mehr weitererzählen; es muß gepackt werden. Deshalb bin ich eben erst einmal nach unten, um einen Caffelatte zu trinken, und dazu auf die Terrasse sul mare getreten, die dieses Hotel hat. Der da unten jetzt bedient, war sehr freundlich. Alles riecht nach frisch gebackenen Cornetti, so daß ich mit dem Hotel fast schon wieder versöhnt bin, zumal ich eben übern Hafen hin dieses hier sah:Also, Leserin, meinen Sohn sanft wecken, während ich packe. In einer halben Stunde werden wir alle im Frühstückssaal sitzen, etwas essen; danach geht es los.12.08 Uhr:
[Flughafen Stuttgart.]
Wieder in Deutschland. Jetzt haben wir bis zum Weiterflug drei Stunden Aufenthalt, den ich, solange der Akku hält, zum Weiterschreiben nutzen werde. Doch erst einmal stelle ich ein, was bisher geschrieben ist. (Im Flughafengebäude ist ein Temperaturunterschied nicht eigentlich zu merken.)

19.42 Uhr:
[Berlin, Arbeitswohnung. Robert HP Platz, Grenzgänge Steine.]
…welches ein Stück von >>>> Robert HP Platz ist, das ich sehr liebe. Für Sopran, Orchester und zwei Klaviere. Auch nach Henzes Tristan wäre mir. Ich bin zurück. Ich habe überlegt, was ich hören möchte. Da fiel mir dieses Stück Robert Platzens ein. Dann fiel mir eben Henzes Tristan ein. Cigarillo & Talisker, diesen in Stuttgart im Duty Free güstig erstanden.
Als wir, mein Junge und ich, in den Bus von Tegel stiegen, stieg auch Ernest Wichner ein, Chef des Literaturhauses. Kurze Begrüßung, seltsam halbfreundlich. Ich: „>>>> Barbara Stang ist ja mit dir in Kontakt.” Undsoweiter. Nur kurz den Rucksack in der Arbeitswohnung abgestellt und eine Schweinerei beseitigt, die mein sich bisweilen selbstabtauender Kühlschrank, der mindestens dreißig Jahre alt ist, angestellt hatte. Zu mehr bin ich noch gar nicht gekommen. Nur mein Junge sammelte seine Sachen für die Schule morgen zusammen; dann radelten wir zu seiner Mama und den Zwillingskindlein, denen ich aus Sizilien Carretini mitgebracht habe. Ich blieb etwa eine Stunde, dann radelte ich zurück. Morgen früh um Viertel vor acht wird der Junge bei mir klingeln, weil er sein Deutschbuch noch hiergelassen hat. Ich meinerseits werde nach der Morgenarbeit, die ich noch dem Zweiten Teil dieses Briefes widmen will, erst einmal Ordnung und Sauberkeit in der Arbeitswohnung herstellen; seit vier Tagen vor der Buchmesse war ich nun dauerunterwegs. Dann muß mit Volldampf gearbeitet werden. Aber das gehört noch gar nicht hierher. Nur erst noch, daß ich jetzt den Rucksack auspacken will; danach she ich weiter.
ANH, meine Leser, ist wieder im Land. (Der Flug war ruhig und in Stuttgart verspätet. Ich las erst die La Sicilia von gestern aus, las von den 1400 Tonnen Müll von Neapel und den Verstrickungen der Mafia da hinein, womöglich ist Berlusconi beteiligt. Was niemanden ernstlich wundern kann. Dann las ich die Frankfurter Sonntagszeitung, vor allem den Artikel über Pakistan. Dann kamen wir an.)

Ich glaube nicht, daß ich heute hier noch schreiben werde. Tiefer Herbst ist in Berlin.

6 thoughts on “Briefe aus Sizilien (6): ERSTER TEIL. Das Reisejournal des Sonnabends, den 23. Oktober 2010, auf den Abreisesonntag des 24. Oktobers 2010 – nämlich der Fünfte und zugleich letzte Brief an die Leser, abgesandt aber erst in Berlin. Von Agrigent nach Terrasini. Sowie nunmehr vom Aeroporto Punta Raisi über Stuttgart nach Deutschland zum Flughafen Tegel Berlins. – Und: ZURÜCK.

  1. Wenn einer eine Reise tut … und dANHke für den Fisch! Jeijeijei, die Welt geht unter! Totgequatscht, einfach so. Wegfotografiert, auch einfach so. Natürlich, ein Jeder und eine Jede kann Hände schütteln und Bäume umarmen, täglich die Stehrümchen abstauben und die Prenzlauer oder sonst welche Berge bewundern. Alles wie immer und fühlt sich auch an wie immer, wie echt. Isses aber nicht mehr, denn da ist jetzt permanent ein Kommentar, eine Meinung, eine Zustimmung oder Ablehnung, immer quatscht da einer rein, so eine WWW-Stimme, immer hat da einer schon mal ein Foto gemacht und reingestellt, das sieht genau so aus wie meine eigene Erinnerung, immer hat da einer schon mal seine Meinung gepostet, die auch die meine ist, glaube ich jedenfalls, und auch das Gegenteil ist ja immer auch Teil von dem, was so toll ist, daß es geknipst und besprochen und überhaupt in die Welt gestellt werden muß. Und nu’ is’ sie voll, die Welt, und unter geht sie auch noch. Das haben wir jetzt davon, wir ollen Quatschköppe. Eijajei. Ob es wohl trotzdem weitergeht?

    1. Italien, du hast es besser! Und was die Welt betrifft: Sie soll ja nicht untergehen, jedenfalls nicht so bald! Wahrscheinlich wird sie uns alle überdauern. Scheint nur manchmal so, als möchte jeder mit einer Knipse bewaffnete Erdenbürger noch ein paar Erinnerungsfotos schießen, um seine ach so teure Erinnerung damit auszustopfen. (“Sensationen, Sensationen”) Neuerdings wird, nur um ein Beispiel zu nennen, an Sonntagen im Mauerpark aber sowas von drauflos fotografiert – da kann man schon gehörig Angst bekommen. Und was den Müll von Neapel angeht, wird der sicher bald in die Partnerstadt Köln verfrachtet, um dort zwecks Karnevals-Beflockung zu Konfetti geschreddert zu werden. Wahrscheinlich haben Sie recht, wir Menschen sind einfach zu gewitzt, um die Welt, auf der wir rumtrampeln, einfach so kaputt zu machen. Besser is’!

    2. @Schlinkert. Wogegen richtet sich der Spott Ihrer Kritik? Gegens Fotografieren an sich oder gegens Fotografieren auf Reisen? Oder “nur” dagegen, solche Fotos auch zu veröffentlichen? (Mir sind solche Bilder gute Handwerksgrundlagen, wenn ich – nicht selten in ganz anderen Zusammenhängen – Orte zitierend beschreibe. Deshalb kommt es mir auf den künstlerischen Ausdruck, gar den künstlerischen Wert solcher Fotografien gar nicht an; ich schreibe sie sowieso um. Abgesehen davon “trample” ich auf der Welt auch nicht “rum”, sondern bin schon ziemlich, jeweils, da.)

    3. Dasein im Dasein Es gibt so schöne Fotos! Und die ihrigen, selbst die ganz Banales zeigenden, etwa auch von der Buchmesse, gehören oft dazu. Ganz ohne Spott. Noch schöner wären sie allerdings, wenn es sich um Polaroid-Bilder handeln würde, aber das ist nur mein Geschmack und einer alten Leidenschaft geschuldet. Und sicher gehören Sie auch nicht zu denen, die die Welt verfotografieren, sie gleichsam an sich selbst verfüttern, anstatt sie zu sehen und zu erleben. Und wenn Sie schon fragen, mein Spott gilt tatsächlich denjenigen, die eben nicht mit den Fotos arbeiten, ja sie nicht einmal dazu benutzen können, sich wirklich zu erinnern, weil sie selbst den fotografierten Ort nicht erlebt haben. Neuerdings gehen viele Touristen ja nicht einmal mehr ohne Fußgänger-GPS aus dem Hotel, damit sie bloß nicht am “falschen” Ort landen, wo sie tatsächlich dann “da” wären. Doch da sein ist alles, wissen nur viele nicht.

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