Briefe aus Sizilien (5). Das Reisejournal des Donnerstags, dem 21. Oktober 2010, auf Freitag, den 22. Oktober 2010, sowie des Freitags, dem 22. Oktober 2010, auf den Sonnabend, den 23. Oktober 2010. Der Vierte Brief an die Leser. Aus Avola von Syrakus. Mit Alessandro Gianfriddo. Aus Girgenti (Agrigenti) über Noto und Modica auf den Spuren der Sizilischen Reise.

6.27 Uhr:
[Avola, Villa Ionia.]
Vor mir das westliche Meer. Die Brandung geht, ging die ganze Nacht. In einem Zimmer hinter mir schlafen die Freunde, im dahinter nächsten schläft mein Sohn. Ich sitze auf einer erhöhten Terrasse, deren Strombuchsen ohne Strom sind, so daß ich ‚auf Akku’ schreibe. Da es dunkel ist, bewährt sich nun die kleine Einstecklampe für den USB-Anschluß. In der Ferne ahne ich bereits einen Streif der Aurora, die an diesem Ort über das Meer in meinen Blick hineingehen wird. Ein beidseits ummauerter, nur schmaler und unebner Gang, dessen letzte Stufen wie ein kleiner Marmorbruch sind, führt an den Strand, der hier aus feinem Sand besteht, aber keine zwanzig Meter breit ist. Bis dicht an ihn heran die kleinen Kästen der Häuser, die alle drei Stockwerke und auf dem Dach je ihrerseits Terrassen haben. Über mir stehen noch die Sterne klar. Aber der Lichtstreif im Westen, zunehmend, übertönt sie, dessen Horizont direkt überm Wasser fast noch schwarz ist, aber um eine Spur rötlich wird, darüber bereits ein helleres Blau.Um Viertel vor sechs bin ich aufgestanden. Wir kamen erst gegen Mitternacht ins Bett, geröstete Calamari, Wein, sie der Freund und ich mehrere Grappe im Bauch, ins Bett. Ich ging umher, um mir einen Arbeitsplatz zu suchen. Zum ersten Mal auf dieser Reise kann ich draußen schreiben. Hier unten im Südosten Siziliens reicht es, T-Shirt und Jackett anzuhaben und mir einen meiner Schals um den Nacken zu legen. So warm ist es morgens noch, oder wieder: auch wenn man abends dann doch ein kleines bißchen fröstelt jetzt, fast am Ende des Oktobers. Tags prallt die Sonne.
Mir halbschräg im Rücken verläuft die Strada statale, die sich nun ebenfalls belebt. Von Syrakus aus, gestern, als es dunkelte, fuhren wir weiter Richtung Noto. Dem Freund und der Freundin war es nicht nach Stadt. Bis Avola nahmen wir die gut ausgebaute Autobahn, dann lenkte ich unsern durchaus nicht kleinen Wagen zur Küste hinab, und das erste Hotel am Weg ist es dann geworden, unser Nachtquartier. À la card gab es enorm viele Pizze; wir könnten aber auch, so der Padrone, „ristorante essen”. Was wir auch taten. Ich machte mit ihm aus, daß ich nächsten Morgens, heute, bereits um kurz nach sieben Uhr meinen ersten Latte macchiato bekäme. Was schon ein großes Zugeständnis war, weil eine Gruppe junger Erwachsener bis spät in die Nacht Laura bei ihm feierte; auch uns, fürs Dessert, lud man ein. Begeistert war, auf unsre Zigaretten, der Freund über den Hof geschritten, hatte das Gebäude gemustert und dann mit einem dauernden Lächeln die Architektur des Hauses bewundert: „Schaut hier! Alles in Dreierfiguren gestaltet… dort die Fenstersimse, da die Treppen, hier die Balkone. Das ganze Ding ist bis auf den kleinsten Punkt durchgestylt. Man sieht das erst nicht, man denkt erst: jaja, ein Hof… aber wenn ihr dann genauer hinschaut… Und die Wölbungen der Bögen wiederholen sich unter den Fenstern, genau dieselbe Bauchigkeit. Das ist absolut fantastisch!” Verglichen mit dem Luxus von Giardini Naxos bezahlen wir hier viel, aber mit 60 Euro pro Zimmer, also 30 Euro pro Kopf, ist es immer noch billig. Es sei sogar im Hochsommer eine schlechte Saison gewesen, fürchterlich geredazu, hatte mir ein Restaurantbetreiber tags zuvor erzählt, „die Menschen haben kein Geld mehr zu reisen”, oder sie reisen, hatte ich gedacht und mich des Sommers erinnert, nach Kroatien; auch >>>> im August war mir aufgefallen, wie wenig Touristen es selbst an den Stränden gab, oder ob in Orvieto, ob am Lago Bolsena, ob schließlich auf Giglio. Bis Taormina setzte sich das offenbar fort. Das uns dennoch überlaufen vorkam, so, daß der Freund nur wieder fortwollte, wie auch aus Catania, das er zwar „eine schöne Stadt” fand; aber es griff nicht auf ihn, noch die Freundin, so hinüber und so in ihn hinein wie in mich. Aber auch ich nur sah diese Falkin, geschweige daß sie bei den beiden im Fenster oder ihnen gar auf der Schulter gesessen hätte.
Sie ist aber auch nun fort, es war eine kurze Begegnung, zwar, aber dunkel, ja fiebrig. Sehr zerschlagen war ich erwacht, hatte verschlafen gestern, so daß es keinen Sinn gehabt hätte, meinen eigentlichen Plan umzusetzen: der mich den Frühzug nehmen lassen und ans Frühstück in Giardini setzen wollte. Das wäre nicht mehr zu schaffen gewesen. Also eilte ich, nachdem ich Ihnen meinen gestrigen Brief in einem Internet-Café eingestellt hatte, zum Bahnhof und löste mein Ticket nach Syrakus. Wo ich nun, logischerweise, früher als die Freunde ankam, die ich während der Fahrt informierte; das ging ja mit meinem Ifönchen sehr gut. Kurzes fernmüdliches Aufstöhnen in Giardini Naxos: „Aber dann müssen wir ja deinen reisigen Rucksack zusammenpacken und vor allem runter ins Auto schleppen. Außerdem… heute nacht: C. hat einen Schmerzanfall, Zahnschmerz, der Weisheitszahn… Wir bräuchten dich, um simultan zu übersetzen.” „Gut”, sagte ich, „dann werde ich in Syrakus übers Netz nach einem deutschsprachigen Zahnarzt schauen. Geht es jetzt mit dem Schmerz?” „Sie hat Tabletten genommen.” „Ich finde ganz bestimmt ein Internetcafé in der Nähe des Bahnhofs. Wenn ihr ankommt, fahren wir gleich zum Zahnarzt weiter. Seid unbesorgt, ich kümmer mich drum.”
Es ist sehr seltsam, wie sofort alle Verwirrung von mir abfiel, wie sofort mein Wille in die Reaktion zurückfindet, wie so gar kein Platz für Weiterbeklemmtheit oder Melancholie mehr in mir ist, wenn es ums Finden direkter, schneller Lösungen geht. Tatsächlich hatte ich bereits gegen halb elf mit zweidrei Zahnärzten telefoniert, oder es versucht, denn etwa die alte Dame Fletsch, die ich anrief, praktizierte gar nicht mehr, und deutschsprachige Kollegen kenne sie, sagte sie, auf Sizilien nicht. Ein anderer Arzt war umgezogen, aber meine Telefonpartnerin wußte nicht, wohin. Bei wieder einem anderen hieß es, daß es ihn nie gegeben habe. Usw. So daß ich schließlich eine Art Zahnklinik fand, deren Website den komptentesten Eindruck machte. Dann lief ich zum Bahnhof zurück, wo die Freunde aber noch gar nicht angekommen sein konnten. Ich setzte mich hinaus, trank an den hinausgestellten Stühlen der Bahnhofsbar drei Cafè und sinnierte. Was ich bis fast zwölf Uhr tat. Ich hatte den Freunden gesagt, wenn sie die Abfahrt Syrakus nähmen, „nein, auf keinen Fall Siracusa nord!”, führte sie die Landstraße, die in die Stadt hineinfährt, direkt am Bahnhof vorbei. Daß der Freund das finden würde, dessen konnte ich sicher sein. Nur nicht des Zeitpunkts der Ankunft.
„Wieso Sizilien?” hatte die Falkin gefragt. „Der Gräfin will wissen, weshalb du nicht in Paris bist.” „Er sollte selber wissen, wieso. Er will eine Feier geschrieben haben, eine Hymne. Die braucht Kraft.” „Der Sizilianer will den Traum”, erwiderte die Falkin; aber ich wies sie zurecht: das sei ein Lampedusa-Zitat, wie sie ganz sicher selber wisse. „Es ist aber”, sagte sie, „bitterkalt in Paris zur Zeit. Du indes läufst hier im T-Shirt herum.” „Im Himmel ist es kalt”, sagte ich, „aber die Feier braucht die Hölle.” „Du lästerst.” „Nein, ich besorge das Feuer.” In dieser Art gingen unsere Gespräche, die ja schon irre genug waren, weil ich sie mit einem Vogel führte. Da tat nun die permanente Metaphorik ihr übriges noch drauf, überlug die Situation. Doch eben das paßt in dieses Land: ich lieb es ja nicht grundlos. Die Farben der Holzgebälke, die auf den dorischen Säulen saßen, sind nicht zurückhaltend gewesen, wie der Gräfin das wohl gern hätte, sondern sie schrieen über das Meer. Man sah sie von sehr weitem. Auf dem riesigen Altar, der in Siracusas archäologischem Areal mit ausgegraben wurde, wurden zu Festen bis zu 500 Stiere täglich geopfert: welch eine geradezu >>>> nitschesche Entgrenzung muß das gewesen sein, all das Blut, das den Marmor hinabfloß, die Gedärme, der Angstkot, die Pisse, das Brüllen.

7.23 Uhr:Nun habe ich auch meinen Caffè bekommen: calda come l’inferno, nero come il diavolo, ma dolce come l’amore… – auch das hätte ich Jenny sagen können, oder >>>> Edith, die ja nicht grundlos wieder hier auftaucht so plötzlich: wie ebenfalls von Paris herbeigerufen in „mein” Land. Aber ich wollte nicht ablenken. Sondern gegen zwölf hupte es unmittelbar vor meinem Stuhl. Ich schrak auf, war eingeschlummert gewesen. „Papa!” Mein Sohn lief her, umarmte mich. Der Freund stieg aus. ”Hast du was genommen?” fragte er. „Deine Augen…” Und verstummte momentlang. Meine Zustände sind ihm nicht unbekannt, die zwischen meinen Nervositäten immer wieder aushängen, kurz nur, aber deutlich: diese langsamen Phasen meiner Besinnlichkeiten zwischen dem, wovon nicht nur meine engen Freunde meinen, daß es Hektik sei. Das ist es aber nicht, sondern mein Brennen. Auch C. stieg aus und grüßte auf ihre immer ein wenig reservierte Weise. Ich sah ihr an, daß sie eine schlimme Nacht gehabt hatte. Die meine war nicht schlimm, sondern bloß voll Visionen gewesen. Ich war mir jetzt sicher, daß es die Falkin gar nicht gab, sondern daß sie ein Spiel meiner von Sizilien entzündeten Einbildungskräfte gewesen war, wie Le Duchesse ganz sicher auch. Alles war eine Fantasie, auch >>>> die Paris-Erzählung. Ich hoffe sehr, daß Sie das nicht für bare Münze genommen haben. Ich bitte Sie! Ein Pfingstwunder! Also nun wirklich! Lassen wir doch bitte die Kirche im Dorf und wenden uns der nüchternen Realität zu. Die im heutigen Fall sich um Zahnschmerzen drehte. Allein, daß es so etwas gibt, schließt jeden Gott aus. (Spannenderweise allerdings beugte der Freund dann abermals, in Siracusas einzigartigem Dom, die Knie, und er bekreuzigte sich, als er die Kirche betrat und als er die Kirche verließ. Spannenderweise hatte er in Palermo gebetet und spannenderweise würde er nachher erklären, daß er nicht glaubte, „aber ich habe als Kind den Ritus so in Leib und Seele gezogen, daß er in mir lebt.)
„Ich habe eine Zahnklink gefunden. Laßt uns fahren.” Ich nahm meinen Arbeitsrucksack auf, mein Junge, rechts, hing an mir.
„Du bist nicht böse, Junior, weil ich die Nacht in Catania blieb?”
„Aber nein, Papa! Wir haben Maumau gespielt gestern abend. Und ich habe fett gewonnen!”
„Fährst d u?” : der Freund zu mir. Er reichte den Autoschlüssel rüber.
Also in den, um meinen Jungen zu zitieren, ‚fetten’ Mittagsverkehr. Mir bringt das Freude, auf Zentimeter zu fahren, oder daß man ins Gefühl bekommen muß, welche rote Ampel sich überfahren läßt, ja wo das sogar geraten ist, man kommt sonst gar nicht voran, und wo man sie doch besser respektiert, und daß man hier unten im Süden sich die Vorfahrten nimmt, indem man sich Stückchen für Stückchen voranschiebt. Das ist eine Art Sport, die Schnelligkeit und Gegenwart verlangt; hängt man da durch, wird man weggehupt. Zum Beispiel von alten autofahrenden Damen, die bereits das Zittern in den Händen haben, und ihr Kopf wackelt, aber im Straßenverkehr sind sie hochgradig, hätte meine Omi gesagt, „plietsch”. Einmal Temperament, immer Temperament. Ein paarmal lachten wir ob solcher verkehrsteilnehmenden Frechheiten hell auf. Aber mußten Richtung Ortigia nun irgendwie durchkommen: das ist die Halbinsel vor der neuen Stadt, zu der zwei Straßen hinüberführen, nicht mehr, und über die aufs allerengste Gassen kriechen, unterbrochen von barocken Plätzen, der Centro storico… indes die archäologische Zone etwas außerhalb liegt mit diesem Altar und dem griechischen Theater und den Kalksteinbrüchen; das gesamte Gebiet verdschungelt von Oleander und Lorbeer.
Wir kamen durch, fanden gleich einen riesigen Parkplatz etwas unterhalb eines Hafens, und da gab es dann eine grandiose Inschrift auf dem Parkautomaten. „Behauptet nie mehr”, triumphierte der Freund, „ich hätte keine Intelligenz! Hört zu!” Und er las vor:

HÜFTE VON EINEN DER DRUCKKNÖPFE DAS DISPLAY
DIE ZEIT BESTIMMEN MACHT GEWÜNSCHT MIT H HALT
DIE ERFORDERLICHE ZAHLUNG LEISTEN IST, DEN PULSIEREND TICKET ZU DRÜCKEN
DE TICKET UND DAS EVENTUELLEN REST ZURÜCKZIEHEN

„Also w i e soll man sein Ticket lösen? Nun?” „Hüften”, sagte ich, „das ist ein fantasischer Infinitiv: hüften, ‚hüften Sie bitte den Knopf’.”7.52 Uhr:
Immer blauer das Meer, nein, bläuer. Die Freunde schlafen noch immer. Aus dem zwischen meinen erhöhten Terrassenplatz und das Meer errichteten Haus kommt eine junge Familie; der junge Vater läßt den Wagen an, das kleine Mädchen steigt ein, die junge Mama bringt die Mülltüte zur Straße hoch. Es ist eine bildschöne Sizilianerin in sehr engen Jeans, die mit einer Art Tuch, das schärpenartig den unteren Rücken bis drittel das Gesäß bedeckt, eine schmalste Taille betonen. Da kann man nicht anders als Teufel, als Luft durch die Zähne zu ziehen. Drinnen bei uns, die kantigen Stufen hinab und rechts in den Gastraum getreten, aus dem ich mir meinen Kaffeebedarf hole, ist der Padrone schon überaus tätig, und stolz, über den wir ein wenig lachten gestern nacht, weil C. allezeit nachdenken mußte, an wen er sie erinnerte. Und schließlich kam sich auch drauf: an den kleinsten der Dalton Brüder, Joe Dalton, den Pfiffikus. Das ging dann bis Mitternacht nicht mehr ganz weg. Aber gut, noch sind wir ja dabei, diesen Zahnarzt zu suchen, bzw. fangen wir grad damit an. Straße wußte ich, auch die Parallelstraße wußte ich, das mußte alles ganz nah an unserm Parkplatz sein. Wurde aber doch ein wenig kompliziert, was unter anderem daran liegt, daß ich via Adda nicht korrekt aussprechen kann; also Sizilianer kriegen das hin, zwei ‚d’s hintereinander so auszusprechen, daß da überhapt kein Hopser drin ist. Hopsert man aber, verstehen sie nicht. Und hopsert man nicht, so daß nur ein, allerdings schnelles ‚d’ in der Aussprache klingt, verstehen sie ebenso wenig. Am besten, man spricht „via Adda” so laufend vor sich hin, bis das irgendwann klappt. So habe ich mir das rollende ‚r’ beigebracht, auf einem Rückmarsch von den Nekropolen von Pantàlica halb nach Siracusa: war damals einer aufgelassenen Eisenbahntrasse gefolgt, hatte immer wieder durch nachtdunkle Tunnel gemußt, wo man wirklich gar nichts sehen konnte, manchmal hundert Meter weit, und dann brach wieder das grelle Mittagslicht über mich herein. Vierfünf Stunden war ich marschiert und hatte allezeit vor mich hin gesprochen: „Vorrei andere à Roma.” Das war ein Mantra gewesen schließlich. Und jetzt das Ding mit dem doppelte ‚d’. Bei dem ich versagte. Es waren ja auch nicht vierfünf Stunden Zeit, sondern der Zahn trieb zur Eile. Die Lösung schließlich war hübsch. „Was suchen Sie denn in dieser” – nein, das nächste Wort sagte er n i c h t, aber er dachte es, ich schwöre!: – „unaussprechlichen Straße?” „Einen Zahnarzt.” „Und wie heißt der?” „Gianfriddo, Allessandro Gianfriddo.” Es mag an dem Vornamen gelegen haben, sicherlich nicht an den s c h o n wieder zwei ‚d’s, daß ein Erhellen durch sein Gesicht ging. „Ja-warum sagen Sie das denn nicht g l e i c h?” Da müssen Sie hier nur um die Ecke. Sehen Sie? Dort, das Portal.”
Freundlichst wurden wir empfangen. Ich dachte sofort: Hier sind wir richtig. Der engste Raum auf das weiteste genutzt. Es war sogar Platz für einen gerahmten Auszug aus Tommaso di Lampedusa „Leoparden”, und zwar genau für jene Stelle, aus der gestern die Falkin mir vorzitiert hatte: der Sizilianer will den Traum. – Wie eng sich die Geschehen immer verknüpfen! Wie eng sie sich führen! Wie eng sie sich gegenseitig bestätigen! Nur hatte, selbstverständlich, die Freundin Angst. Wegen der Behandlung als solcher. Wegen des italienischen Arztes, dem sie doch gar nichts erklären könne. Wegen der Kosten, die da möglicherweise auf sie zukämen. Und sowieso.
Wir saßen unter Klimt. Mein Junge saß nicht, sondern lag in einem drehbaren Rundsessel; die Freunde hatten offenbar l a n g e gemau-maut gestern nacht; jedenfalls schlief er mir fast ein. Dann wurde die Freundin aufgerufen und durch eine japanische Tatami-Tür gebeten. Ich wartete auf den ersten Schrei, den sie uns angekündigt hatte. Es schrieb aber keiner. Schließlich wurde der Freund hinzugebeten, ich war gar nicht erfordert: il dottore sprach Englisch. Verschleppt. Bereits der Knochen angegriffen. „Wieso hat das keiner erkannt?” Nein, da wolle er jetzt nichts machen, wenn wir dauernd unterwegs seien. Jedenfalls der Zahn müsse raus. Aber falls es Komplikationen gebe… nein, besser, wir ließen das in Deutschland machen. „Wann fliegen Sie zurück?” Auf jeden Fall jetzt: Antibiotika. Und Schmerzmittel. Iboprofen, 600er. Und sofort am Montag zum Arzt.
Das Iboprofen gibt es hier nicht als Tabletten, sondern wie Brausepulver, das man sich aus länglichen Tütchen in den Mund schüttet. Da die Apotheke keine Kleinpackung hatte, schlug sie an C. eine Anstaltspackung ab. „Brauchst du bisweilen Iboprofen?” fragte mich der Freund. „Wir können dir was abgeben, die Menge machen wir niemals nieder…” „Das schmeckt aber lecker!” rief C. am Abendbrotstisch aus. „Ich will auch!” rief mein Sohn. – „So weit kommt’s noch”, sagte ich. Und wieder sie: „Ich trinke besser keinen Alkohol.” Weshalb sie dann nur Wein trank und am Grappe nur mal nippte. Das schon bereits in Avola. Bis ich die Falkin vergaß.

Oleander in Rosa. Gelb wachsen Pomeranzen wächsern zu Seiten der unteren Terrasse. Palmen stehen. Wir wollen nachher nach Noto. Das sind von hier aus kaum zehn Kilometer. Abends werden wir in Agrigento sein, Girgenti, wie’s bei Pirandello noch heißt und wo, im Tal der Tempel, >>>> Arndt sein Gespräch mit mir führte. Ich muß den Schreibplatz wechseln, der Akku geht ans Limit. Vielleicht, daß ich in Noto einen Punto d’Internet finde, um Ihnen dies hier zuzustellen: Briefe schreibe ich, Briefe… Ich wollte doch in den Sonnenaufgang schwimmen und hab nur all die Zeit getippt. Gut, nach dem Frühstück vielleicht. Und vor der Dusche. Mal schaun, wie lang die Freunde noch schlafen. Es wird ein heißer Tag, auch wenn die Sizilianer nicht überall mehr Eis im Angebot haben: „Troppo freddo”, sagen sie und tragen gefütterte Anoraks und Pelz. Af jeden Fall scheint es zu kalt zu sein, um in der Brioche Granita di caffè mit latte di mandorla zu nehmen. Ein Falke, fällt mir grad ein, spielt auch in Hofmannsthals/Strassens „Frau ohne Schatten” eine Rolle. Ich muß da mal vergleichen. Seltsame Wege nimmt die Fantasie. Falls aber jemand von Ihnen in Syrakus Zahnschmerzen hat, hier die gute Adresse: >>>> D. Allessandro Gianfriddo, via Adda 33, Siracusa.
Aber das noch, Leser, das noch! Als wir abfuhren. Der Himmel über Syrakus:Von den Gassen hingegen und, vor allem, von diesem Dom erzähle ich später. Sofern ich dazu komme.

SA 23.10., 6.29 Uhr:
[Girgenti, Hotel Concordia.]
Bevor aber der Himmel so leuchten konnte und nachdem wir diesen Zahnarztbesuch hinter uns hatten, durchschritten wir Ortigias Gäßchen, nahmen mein Junge eine Sprite und wir Erwachsenen jeder eine Lemonata con Sale gegen den Salzverlust: eine halbe Zitrone wird in ein Glas gepreßt, worauf frisches gekühltes Wasser kommt und in dieses ein Viertellöffel Salz, das man verrührt. Dieses Getränk beugt jedem Kopfschmerz vor und erfrischt zudem.
Es ist auf Sizilien insgesamt seit meinem letzten Aufenthalt hier enorm viel restauriert worden, das bei meiner ersten Sizilienreise noch verfiel; der barocken Bausubstanz wegen reißt man nicht ab. Vor allem in Catania ist das zu merken; auch Fußgängerzonen sind angelegt worden; die große via Etnea, zentrales Rückgrat der Stadt, kenne ich noch als vom hupenden, dröhnenden Verkehr bis in die Nacht hinein durchwälzt. Heute ist es eine Meile fürs shoppende Flanieren. So nun auch die Altstadt Siracusas, und der Dom, der in einen dorischen Tempel hineingebaut wurde und nicht nur genau dessen Grundriß behielt, sondern man kann die antiken Säulen teils außen, teils auch innen noch sehen und s o l l sie auch sehen können: alles ist da und kenntlich: die Vorhalle, die Cella, – dieser Dom nun, einst so schwarz verwittert, wie es bei uns das Brandenburger Tor gewesen, strahlt heut im hellsten Sandsteingelb. Doch selbst die Gassen wirken nicht mehr nach Abbruch; im übrigen war es überaus still, was sicherlich auch an der Siesta lag, die wir als Zeit des Spaziergangs gewählt hatten. – Was zeigte ich dem Sohn und den Freunden n o c h? Selbstverständlich die Stelle auch, an der ich, über die Brüstung zum Meer gelehnt, eines meiner Stadtgedichte schrieb, das Syrakus über die Wellen unter dem Mond beschrieb. Hier hat vor Jahren Do lange gestanden und gesonnen, hier hat auch die Mama meines Jungen lange gestanden und n o c h länger gesonnen; hier war ich von einem Fuß auf den anderen getreten, beide Male, weil ich weiterwollte. Dieses Mal drängte der Freund.
Wir fuhren in die archäologische Zone, ich schrieb schon von ihr. Ins Ohr des Dionisios wollte ich unbedingt, für meinen Jungen: wo man ganz tief im Berg flüstern könne, welcher Sklave auch immer, der über den Tyrannen raunte…: draußen am Eingang, der einem riesigen Faunsohr ähnelt, sei das zu hören gewesen und von den LauschernAmOhr dem Tyrannen schnell hinterbracht, der flüsternde Sklave ausgesondert und zu Tode gebracht. Aber der „Effekt” ging über die Menge von Leuten verloren, die in der hohen, tiefen Höhle waren und lärmten: Reisegruppen, Kinder… Insgesamt ist diese Anlage sehr schön, weil fruchtbarst grün bewachsen und gepflegt; aber ich dachte doch mit Wehmut daran, wie noch Goethe sie sehen konnte: ohne die vorgearbeiteten Pfade und Wege und Verbotsschilder, zu Zeiten eben, die den Massentourismus noch nicht kannten und alldie Regulationen, die ihn zu kanalisieren suchen. So ja doch auch am Ätna, den man mit Führer bis ganz nach oben bestieg, oder allein, als eben eigene Erkundung noch Risiko war, das man nahm oder nicht; und wer’s nicht nahm, der blieb eben unten. (So auch in den Kirchentürmen, die man sich erkletterte, auf die Gefahr hin abzustürzen). Immerhin nahmen wir hier, im griechischen Theater, auf einer der oberen Stufen, unsere sagen wir: VorVesper ein:Dann ging es zum Wagen zurück, der auf einem Privatparkplatz stand und bis 17 Uhr bewacht blieb. Das war nun schon recht spät für die Weiterfahrt, aber die Freunde mochten kein Hotel in der Stadt, zumal es auf Ortigia sehr teuer ist, egal, ob auch hier die Saison schlecht war oder nicht. Und wir fuhren weiter Richtung Noto. Auf den Schildern tauchte bereits Portopalo auf, südlichster Zipfel Siziliens; dann kommt, vor Afrika, eigentlich nur noch Malta. Und Portopalo war mein sizilianischer Ausgangspunkt für die >>>> MEERE-Zeit auf Sizilien gewesen; von da aus war ich alltäglich auf das gelbe Kliff an der Costa dell’Ambra gefahren, wo Fichte während der zwei Jahre seines Rückzugs gelebt hat; dort auf dem Kliff schrieb ich den Roman v o r, und abends im Hotel von Portopalo schrieb ich ihn in den Computer ins Reine. Wir stoppten noch davor, was mich erleichterte, fanden an der Einfahrt nach Avola das Hotel, von dem ich gestern bereits schrieb, aus dem ich gestern den Anfang dieses Briefes schrieb, liebe Leser. Nun aber sitze ich hier:

7.27 Uhr:
In Noto waren wir schnell. Nach dem großen Erdbeben von, glaube ich, 1623 war hier alles zusammengebrochen. Da zogen die herrschenden Fürsten die wichtigsten Baumeister des Barocks zusammen und ließen sie diese Stadt auf dem Reißbrett entwerfen und bauen, so daß heute hier ein „Giardino delle Pietre” steht und seit dem Mafia-Clearing auch wieder in goldenstem Gelb leuchtet, den sehen m u ß, wer nach Sizilien fährt. Ich selber, freilich, umfahre Noto, was aber nicht an seiner Schönheit liegt, sondern daran, daß ich Kunst, die im Leben steht und von Leben durchsogen ist, und von Gegenwart, eben, jedem Museum vorziehe; da verzichte ich dann auch gern auf den einen und/oder anderen Schatz der Architektur, ja imgrunde habe ich die Tendenz, etwas lieber verfallen zu lassen als restauriert zu bewahren. Man mag das mit einigem Recht Banausentum nennen, aber in Modica etwa, ein paar wenige Kilometer entfernt, scheint mir der Barock, scheint mit auch der stehengebliebene Klassizismus, scheint mir der ebenfalls kenntliche Jugendstil zusammen mit den Zweckbauten dazwischen, und alles klettert die steilen Hänge hinein, in die diese Stadt sich verkantet, – kommt mir das alles durchatmet vor und durchkämpft und durchwühlt. Während sich das Leben in Noto, im historischen Noto (es gibt auch ein neues Noto, nahe daneben), ganz in die Gassen verkrochen hat, die von den Besuchern kaum eingesehen werden und auch nicht werden wollen.

8.30 Uhr:
[Concordia, Frühstückskämmerchen.]
Das neben dem Foyer liegt, in dem der Fernseher läuft und das auf die Gasse hinausgeht. Laptop per Akku, eben zweidrei Schritte getan, erste Morgenblicke geworfen. Wie schön das Meer liegt! – …. ah, die Freunde kommen gerade herunter – da werde ich wohl meinen Reisebericht erst in Berlin abschließen können; es sei denn, ich komme heute nacht noch zum Schreiben und das dann wiederandre Hotel hat einen Internet-Abschluß. In jedem Fall werde ich d i e s e n Brief nachher noch einstellen; gestern spätabends, bei unserm Rundgang durch Girgenti, sah ich einen Internet-Punto. Nur vielleicht dieses noch: agrigentum hieß zu römischen Zeiten der Ort, woraus über die Zeit Girgenti wurde; noch Pirandello, der hiernah geboren wurde und auch beerdigt liegt, auf halber Strecke zwischen der Stadt und Porto Empedocle, hat von Girgenti gesprochen. Erst Mussolini, in seinem Krieg&Ehre-Wahn, stellte, um an die Imperatoren des antike Roms anzuschließen, den alten Namen, freilich italianisiert, wieder her. Ich hingegen bleibe bei Girgenti.

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