20.59 Uhr:
[Giardini Naxos/Taormina, Palladio, „Junior”-Suite.]
Es ist anders, mit Freunden, gar zu viert zu reisen, als wenn man allein unterwegs ist. Ein wenig beneide ich >>>> Phyllis Kiehl um die Stadt K., aber wirklich nur ein wenig und imgrunde nur der Arbeit wegen. Denn es ist ja sehr schön hier. Nur ist mein, sagen wir, Temperament ein anderes als der anderen; ich wollte weiter, weiter sehen, bin ein Schwamm, ich verdaue beim Schreiben. Die Freunde hingegen, und auch mein Junge, möchten hier eine weitere Nacht verbringen, also auch morgen nacht noch hiersein. Für meine Planung, Sizilien zu zeigen, bringt das Probleme; wir hätten zwar vieles ohnedies nicht „geschafft”, einiges mehr aber doch; nun ist auch das fraglich. Wofür entscheide ich mich, es ihnen zu zeigen? Wobei ich selbst, der nahezu alles in diesem Land schon kennt, allein ohnedies anders reiste: In Catanias Villa Bellini sitzen, Stunden in S Giovanni degli Eremiti zubringen, in Innersizilien einen Gasthof finden, wo ich auch nur vor mich hinsinnen würde, aber eben das gesehene, erlebte Wissen schon im Gepäck… Ich merke, meine Freude ist sehr viel geringer, seh ich mir etwas alleine an; da ist auch etwas Missionarisches an mir, in mir, das vermitteln, verführen, begeistern möchte, zeigen, seltsam, als wär es von mir was gar nicht stimmen kann, denn ich bin hier selber nur Gast.
Morgen also „mein” Catania (werden sie’s lieben, wie ich’s tu? oder wie so viele andere abgeschreckt sein?). Nach Taormina, etwa, fuhr ich nur ihretwegen, ich selbst käme gar nicht mehr her: zuviel Touristen; selbst sein Speiseeis kann man nicht kaufen, ohne auf Deutsch besprochen zu werden. Jetzt, im Herbst, geht das an; im Hochsommer ist das die reine Mainstream-Quälerei. Demokratie halt und alles für alle. Beschwerte ich mich, daß Michael Schumacher besser Auto fährt als zweifellos ich? Beschwerte ich mich, weil Messemer allein auf den M Everest „durfte” und will jetzt a u c h diese Sicht? aber o h n e, daß ich meine Zehen in der Kälte verlor? im Kampf verlor mit dem Berg? Es ist uns so wenig verständlich geworden, daß es Opfer kosten sollte, wenn man etwas Bestimmtes will… will, Leserin, Leser, will – und dafür einsteht, selbst wenn es das Leben kostet. Wir möchten es, alle, ach so bequem. Bekommen’s, und nichts ist mehr wert. Das Bewußtsein, daß etwas Risiko sei, wird ersetzt durch das Wissen, daß es was kostet. Das Bewußtsein, daß etwas Anstrengung sei, Kraftaufwand, Energie, wird ersetzt durch die Sicherheit, daß es was kostet: Geld, nicht etwa Seele; Geld, nicht etwa körperliche Einbuße; Geld, nicht etwa Wagnis. Zaunkön’ge, Shakespeare, wohin man auch blickt, und die aber nisten in Sterne-Hotels. Nicht, daß da einige seien, die es sich leisten könnten, aber andere nicht. Schumacher zahlt, und nicht mit dem Girokonto, Messemer zahlt, und nicht mit dem Girokonto, Cousteau hat gezahlt, und nicht mit dem Girokonto. Uns geht das Jemanden-Ehren verloren. G i n g verloren. Längst.
Überraschung der Freude, als wir im griechischen, römisch umbauten Amphitheater Taorminas saßen, exemplarisch elegant im Blick, und als kurz der Ätna sich zeigte, der schon vom Schnee umzeichnet, ja mit Schnee koloriert ist, und als ich da sagte: „Ich habe noch eine Rechnung mit ihm offen, er hat sie offen mit mir.” „Wie meinst du das?” „Zweimal”, sagte ich, „ließ er mich leben… seitdem muß ich immer wieder da hin… – Er hat ein Recht auf mich.” – Wie erkläre ich so etwas? Der Profane versteht das nicht. Er ist profan. N u r profan. Ihm ist die Welt eine Funktion, alles andere unrentabler Mystizsmus. Daß es auf dieses Andere aber ankommt… daß es dem, was ein Mensch sei, darauf ankommen muß. Oder es ist kein Mensch mehr. Die Anthropologische Kehre. Daß ich sie diagnostiziert hab, wurde mir ausgelegt wie einem, der sie will. Dabei: ich hab sie bloß gesehen. Und beschrieben. Ich bin der Bote und nicht die Nachricht, die ich bringe. Werde aber für sie geköpft. (Was nicht stimmt. Denn man köpft mich nicht. Man bekommt mich gar nicht zu fassen. Solange ich diese Flügelschuh anhab. „Hat diese Frau eben mit dir geflirtet?” fragte C., als wir aus dem Amphitheatre abstiegen. – „Ja”, sagte ich. – Das reicht völlig. Oder wie der Freund in Monreale kniete und betete… ich hatte das nicht gewußt. Mein Junge, atheistisch geprägt – falsches Wort, weil „Atheisten” die ersten Christen genannt worden sind: die, die nicht an Götter glaubten, sondern an den e i n e n Gott:: blasphemisch aus römischer Sicht – also mein Junge ging zum Freund und sagte erstaunt: „Was tust du da? Beten?” – Ich pfiff den Knaben zurück. „Es ist s e i n e s. Laß ihn und störe ihn nicht.” Wahrscheinlich bin ich von uns allen der größte Zweifler, wahrscheinlich bin ich mehr als die andern voll Skepsis… aber wenn einer glauben kann, dann ist wer kein Tier im Zoo, das von Touristen geknipst werden kann, weil’s sowieso eine Sache ist…. Rechtssache. Ich gebe zu, ich bin da empfindlich.
FR 20. 10., 6.22 Uhr:
[Giardini Naxos, Palladio, Balkon zum Meer-]
Na, das war nichts. Sieht aber hübsch aus: der Laptop auf dem Balkon. Leider, als ich dann saß, gab es Tröpfchen vom Himmel. Also wieder abbauen und nach oben, einen Stock höher, wo einem der Frühstückssalon den weitesten Blick übers Meer gibt; bei ein wenig guter Sicht läßt sich das italienische Festland und, oben von Taormina aus, läßt sich die Meerenge von Messina erkennen.
Wir gingen nicht aus, gestern abend, nicht essen, sondern meine Junge, der wegen des Essens sowieso immer ein wenig heikel ist, hatte sich schon allezeit gebackene Maronen gewünscht; nun baute direkt unterm Hotelchen ein Mann seinen Röstofen aus: ein ganz simples Ding, ein stehendes Blechrohr mit einem Einschnitt unten, worin, wie in einem Kamin, das Feuer gemacht wird, und obenauf kommt ein am Boden gelöcherter Topf. Den der Mann immer wieder hochnimmt und schüttelt. Bisweilen nimmt er ein handvoll Salz und wirft sie von oben in die Glut, gleich kommt der geschüttelte Topf wieder drauf. Die Maronenschalen werden weiß.
Also lief der Bub hinab, dreißig Maroni zu besorgen. Dazu gab es Wein, den wir gekauft hatten, den süßen Moscato, den süßen Zibibbo, von dem >>>> die AEOLIA erzählt. Und da machten die Freunde dann mit. Bis der Freund mit meinem Jungen noch eine Pannacotta essen ging, wiederum ich direkt gegenüber, auf einen Grappa, in die Bar. Den Cigarillo rauchend stand ich dann auf der Straße, und nachts, danach, schaute ich noch einmal ins Netz über den Hauscomputer am Empfang. Viel tut sich nicht in Der Dschungel, wenn ich nicht da bin.
Ich erwachte. Das war der Sonntag morgen in Palermo. Ich erwachte und wußte nicht gleich, ob ich nicht etwa weiterträumte. So ist der zweite Brief aus Sizilien zuendegegangen, so erwachte ich nun. Früh bereits war ich im Frühstücksraum mit dem Balkon zur via Marqueda, wo man rauchen konnte, wenn man schrieb, also vom Kaffee-Automaten zum Laptop und auf den Balkon, und zum Laptop, zum Kaffee-Automaten. Es wurde locker zehn Uhr, bis wir alle aufwaren und aufbrachen; gegen sieben Uhr morgens hatten in dem historischen Markt schon die ersten Stände aufgebaut. Womit ich nicht gerechnet hatte. Dicht das Gemüse an den hängenden, ausgebluteten Ziegen, der Fisch und die Muscheln, elektronisches Spielzeug und Werkzeug: kurz: a l l e s, wenn man man Grundstücken absieht und von Flugzeugen, die nicht zum Spielen sind. Dann ein Radau vor der Kirche… lesen Sie, wo wir jetzt angelangt sind? Ein Bild mag’s Ihnen in Erinnerung rufen:Besser aber noch, falls das klappt, dieses Filmchen mit Ton: —-
Das aber wollte ich gar nicht erzählen. Nicht eigentlich. Sondern daß ich meine, Jenny gesehen zu haben… ja, >>>> Jenny Michel aus Paris. Sie sah mich an, als ich aus der Kirche wieder heraustrat. Wir standen nicht direkt einander gegenüber, nein, sie mochte fünfzig/sechzig Meter entfernt von mir gewesen sein, stand mitten in einer der Gassenmündungen auf den kleinen Platz, die Hände in den Hosentaschen ihrer Motorradklamotten. Momentlang blieb mir die Luft weg. Dann rief ich sie an. Sie drehte sich um, tat nur zweidrei Schritte zurück und war weg.
„Jenny!” rief ich. Und lief rüber.
Jenny war nicht mehr zu sehen.
„Was hast du?” fragte der Freund.
Ich winkte ab.
„Eine Erscheinung”, sagte ich, „nichts als eine Erscheinung.”
Die mich aber nicht losließ im Innern. Wenn sein Engel hierwar, hier in Palermo, dann werde, dachte ich, der Gräfin nicht weit weg sein. Und wenn sie hierwaren, dann, ich war mir sicher, meinetwegen. Um mich zu warnen? Tatsächlich hatte ich mich in Paris nicht mehr gemeldet, nicht aus Nachlässigkeit, sondern weil einfach zu viel losgewesen ist, inklusive der Buchmesse, Leser. Das wissen Sie doch, wenn Sie bei mir mitgelesen haben. Wie hätte ich da die Zeit finden können, abermals nach Paris zu reisen?
Aber etwas zu erklären, dazu war keine Zeit, dazu war auch nicht die Stimmung. Beklommenheit. Es war ein wenig wie von einem unguten Rausch, wie von nach ihm.Dabei war es so gut heiß! Und dann kamen gleich diese Mumien, diese achttausend ausgestellten Toten, dieses Memento mori, das einen ansieht und gegen das ich, wußte ich, meinen Roman schreiben sollte zur Feier des Lebens: ihm schreiben, Leser.
Dann schon war der Regen, und wir fuhren mittags ab, um Monreale zu besuchen. Wo es ebenfalls strömend goß. Und wo wir nach dem Besuch der berühmten Kathedrale, deren mit Gold bezogenen Mosaikbilder die wichtigsten Stationen der Bibel erzählen, die der Thora wie die des Neuen Testaments, – wir standen auch ganz oben am Dach und übersahen das montags fürs Publikum geschlossene Kloster mit dem herrlichen Kreuzgang Tausender arabischer Säulen, – wo wir uns dann entschlossen, die Reiseplanung umzuwerfen, um schräg durch das Land an die Ostküste zu fahren, bis Giardini, wo wir jetzt sind. Am Meer. Am Fuß der Flanke des alten Vulkans. Doch dazu dann in dem Dritten Brief, der der vierte Teil meiner Nachrichten an Sie aus Sizilien sein wird, für den ich jetzt aber keine Zeit mehr habe, weil gefrühstückt werden muß; dann wollen wir nach Catania fahren über den Tag. Und nachts wieder hier zurücksein. (Was seltsam für mich ist: In Catania sein und nicht bleiben. Ich habe überlegt, den Laptop mitzunehmen und vielleicht mir allein dort etwas zu suchen, nur für diese eine Nacht, während die Freunde mit meinem Jungen hierher zurückkehren; ich könnte dann den frühesten Zug oder Bus nach Giardini nehmen und zum Frühstück mit allen wieder hiersein… ich meine, es könnte doch sein, daß… es würde zu ihm passen. Ich meine: Le Duchesse. Es könnte doch passen, daß er mich genau dort erwartet, und dann braucht es keine Zeugen, sondern, denke ich, schließt die Zeugen aus. Solch ein Gespräch. Zwischen ihm und mir. Nach derart vielen Kirchen und Orten der Andacht. Und, à propos, dieses Bild bin ich Ihnen noch schuldig:)Jetzt stell ich das hier schnell ein.
Trennsystem auch in Sizilien Zweiundzwanzig Jahre verbrachte sie in der Anstalt. Sie hatte, kurz vor der großen Wende, diese Erscheinungen, die dann Wirklichkeit wurden. Dennoch blieb sie, “behütet und auf eigenen Wunsch” – wie sie sagte. In den letzten Tagen vor ihrer unfreiwilligen Entlassung, so hieß es in dem Bericht, habe sie sich in sonderbarer Erregung von ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Malen und Zeichnen von schwarzen Schafen, abgekehrt. Es sei übrigens in der Anstalt bekannt gewesen, daß der ganze Kunstwille der Patientin seit Jahren danach drängte, Müllcontainer zu malen. Jedoch habe sie sich diese nicht mehr vorstellen können und sich immer geweigert, Container nach Vorlagen zu malen, von denen sie für ihre Schafbilder – alle ohne Kopf, nur bis zum Halsansatz – ohne Hemmungen Gebrauch machte. Draußen angekommen, entsorgte sie ihre Malutensilien in einem Wertstoffcontainer und schlug fortan ihr Nachtlager, das sie in einer Lidlplastiktüte mit sich trug, vorzugsweise neben gelben Müllcontainern auf.
Die Patientin lässt grüßen. Ihr Schreiben hat sie aus ihrem Stupor gerissen, wofür ich Ihnen wirklich nicht genug danken kann. Ganz unverhofft tauchte sie vorhin vor der Praxis auf, ein Passant brachte sie herein. Sie war wie ausgewechselt, brabbelte, kein Vergleich zu dem halb katatonischen Geschöpf, das jahrelang auf Station 3 zu meinem Patientenstamm gehörte. Nun, lange hielt es die Arme dennoch nicht bei mir: ich vermute, extra für Sie wird sie sich durchringen und Ihnen einen überaus ansehnlichen Müllcontainer zeichnen, wenn nicht gar ein >>> Schaf.
Wenn – ja, wenn! – es ihr denn gelingt, aus jenem gelben wieder herauszuklettern, in dem sie, wie ich vermute, seit Stunden nach ihren leichtfertig weggeworfenen Malutensilien klaubt.
Ich hege da Zweifel – bat aber den Praktikanten, ihr zu folgen: mein berufliches Interesse endet nicht an den Pforten der Anstalt.
In herzlicher Dankbarkeit grüßt Sie,
Dr. Lola Stein