6.34 Uhr:
Kurz nach sechs Uhr hoch. Den Latte macchiato bereitet, aber mein Junge schläft so tief auf seinem Lager, daß ihn das obwohl doch ziemlich laute Motorgedröhn der kleinen Kaffeemahlmaschine gar nicht wecken konnte; jedenfalls regte er sich nicht und regt sich noch nicht. Doch, jetzt regt er sich, ich höre ihn atmen, einmal aufatmen, gestern spätnachts sprach er unentschlüsselbare Laute im Schlaf. Wiederum mir, als ich eben noch im Halbschlaf lag, war ein Satz in den Sinn gekommen, der im Zusammenhang mit einem der Texte von „Azreds Buch” steht, den ich aus Der Dschungel mit hineingenommen habe. UF hat das sehr gestört, als er gegenlas; es ging ständig in mir hin und her, ob ich den Text besser nicht wieder hinausnehmen sollte. Ich habe mich >>>> für ihn entschieden, freilich neu bearbeitet; aber er gehört in die Abfolge der Erzählungen mit hinein, auch wenn ihn einige sagen wir: unter dem Niveau der anderen Erzählungen finden werden, bzw. störe er, so argumentierte UF, die Dramaturgie des Buches, weil er von ganz anderer Struktur sei: ein Fremdkörper nämlich.
Jedenfalls fiel mir dieser Satz ein:
Als sie das sagte, hatte sie längst von mir getrunken, war aber bei dem nächsten Treffen, einige Tage später, wieder scharf auf Distanz gegangen und hatte dem Satz hinzugefügt:
Warum mir das gerade jetzt einfällt, da ich am >>>> Niebelschütz arbeite und über Niebelschütz und seine Positionen ständig nachdenke, weiß ich gar nicht genau. Ich habe allerdings das Gefühl, daß die zitierten Sätze mit einem Bedürfnis Gläubiger zusammenhängen, mit einer Dynamik, die Religionen eigen ist, sich aber bereits in säkularen Formen der Erhöhung findet; insofern ist sie verklärungsstrukturell. Sie will eine gewisse Form der Reinheit, ganz für sich selber, erhalten, möglicherweise schon im „Fantum”, inwofern es sich vom Wesen des Groupies unterscheidet, das die verklärte Nähe gerade sucht: das Groupie speist von der Erhöhung, es will vom „Hohen” Anteil für sich selber. Der Profi nennt das geborgten Ruhm. Es ist aber mehr. Der Gläubige, auch ein Fan, kann mit Character und von eigener Persönlichkeit ganz erfüllt sein, das Groupie hingegen ist leer und füllt diese Leere mit Fremdem.
Der Gedankengang ist provisorisch. Er würde sich firmen, schaffte ich’s, ihn aus der Rede der jungen bewundernden Frau in einen kleinen Dialog zu formen.
Und ich schrieb eine Gedichtzeile gestern:
:ebenfalls etwas, dessen Idee ich momentan nicht folgen kann, weil der Niebelschütz erst einmal wichtiger ist.
Bis neun Uhr will ich jetzt durcharbeiten, dann den Jungen wecken, mich duschen, uns kleiden, – damit wir gegen elf Uhr pünktlich beim Treffen, um mit C. und >>>> Leukert zu frühstücken, sind. Bevor die beiden Berlin wieder verlassen.
10.13 Uhr:
[Beethoven, Viertes Klavierkonzert.]
So, der Entwurf des Niebelschütz-Artikels ist fast fertig; das ging mir jetzt ganz einfach aus den Fingern in die Tastatur. Mein Junge liegt noch auf seinem Lager und liest und malt. Aber wir müssen uns langsam zum Aufbruch bereitmachen.
Bin zufrieden, ja erleichtert.
17.11 Uhr:
Ob mir die Redaktion d a s wohl stehenläßt?
Allerdings formuliere ich auch immer noch um, ergänze, streiche, variiere. Und der Schluß des Artikels steht noch nicht. Zudem ist plötzlich, wenn man sich in eines Autors Werk derart eingegraben hat, sehr viel mehr zu diskutieren, als der Platz eines auch langen Artikels erlaubt; schwierig, hier zu gewichten. Dabei frappiert es mich selbst, wie politisch mein Aufsatz wird. Längst geht es nicht mehr nur darum, für die Schönheit eines bestimmten Romanes zu streiten, >>>> zumal das andere bereits getan haben, etwa der von mir sowieso sehr geschätzte Ralf Vollmann, sondern Grundfragen sind zu stellen, bzw. positioniert zu beantworten. Über die Provokation bin ich mir klar: >>>> Volltext liegt auf dem Tisch jedes deutschsprachigen Schriftstellers von Rang, jedes Kritikers, jedes Lektors und zudem sehr sehr vieler Leser. Mißverstanden zu werden, auch mit Absicht (was dann bedeutet, richtig verstanden zu werden), wird hier zur öffentlichen Gefahr, die ich bewußt ins Auge nehme.
Mein Junge hat sein Latein gemacht (Stammformen Perfekt gelernt), dann Cello geübt; seine Freundin saß hier am Standcomputer dabei; soeben sind die beiden davongezogen. Der Profi rief an; er und C. bringen mir Pilze aus dem Wald mit: wir werden uns nachher >>>> in der Bar treffen. Noch sind die Fahnen von „Azreds Buch” nicht in meinem Postfach gelandet, so kann ich noch gute zwei Stunden am Niebelschütz feilen, bevor ich ihn, wegen der Korrekturarbeit, für zwei Tage beiseitelege und abhängen lasse.
Ein schönes Mittagsfrühstück mit Leukerts nahm ich ein; wir saßen in der Sonne neben der Synagoge und sprachen auch über Niebelschütz und sprachen lange über die Sechziger Jahre: „Wir alle waren erfaßt.” „Aber was euch erfaßte, grenzte auch aus.” Gegen zwei radelte ich heim und legte mich schlafen; um drei war mein Sohn wieder da. Ich kam erst kaum zu mir, so tief war ich in Couch und Traum gesunken.
20.03 Uhr:
So, der Text s t e h t. Ist auch schon ausgedruckt, liegt zudem bei UF zum Gegenlesen, und auch die Löwin will ihn durchsehen: ich habe besonders Lektorinnen immer geschätzt; es gibt, dies >>>> für meine Kritiker, nicht einen längeren Text von mir, der nicht von Frauen gegengelesen und mit der Imprimatur versehen worden wäre. Das werde ich beibehalten.
Und jetzt wieder den hellen Sommeranzug anziehn und ab zur Bar. Den ausgedruckten Aufsatz nehme ich mit.
…ähm: nochmal zurück. Der Profi fährt jetzt erst >>>> vom See weg, er rief gerade an. Also lohnt sich der weite Barweg nicht, sondern wir werden einfach hier unten im Beaker’s, oder im >>>> Soupanova, unser Bierchen trinken. Oder das Weinchen. Und C. ihr Ginger Ale. Pilze, viele Pilze bringen sie mit. „Aber putzen mußt du sie allein.” Mensch Leute, der Niebelschütz ist fertig! Ich fasse es noch gar nicht. Nur ein bißchen runtergekürzt werden muß er noch.
23.09 Uhr:
„Ich will mit Ihnen nicht schlafen, weil Sie mein literarisches Idol sind.” In der Tiefe der Sprache wachen die Solözismen.
Eher sprechen wir verkehrt, bevor wir verstünden,
woher diese Schnitzer kommen.
Solözismen. Ich – zitierte. Freilich hat, um genau zu sein, mein Halbschlaf zitiert. Insofern ist der Satz objektiv unverbürgt: das ist zugestanden.
Was aber w ä r e denn ein richtiges Sprechen, emphatisch gesprochen: ein wahres?
Gemurmelte Phantasiekonstruktionen bleiben manchmal zu lange in den Ohren hängen und
scheinen dann für den, der altersbedingt zur Müdigkeit neigt,
unendlich viel zu bedeuten. Aufrecht im Bett sitzend
hält er sie so für Wirklichkeit.
@BettyB. Lustig, daß Ihnen nach wie vor mein „Alter“ von solcher Bedeutung zu sein scheint. Irgendwie muß es Sie permanent jucken. Aber den Juckreiz sich stillen zu lassen, real, dem gehn Sie aus dem Weg. Sie dürfen’s mir wirklich nicht übelnehmen, daß ich das durchaus mit Mitleid betrachte. Es gibt ein grandioses Buch von Montherlant. Es heißt „Erbarmen mit den Frauen“.
Vom Elend des Juckreizes und der Gicht Seine knotigen Finger stolpern hastig über die Tastatur, entlassen Worte wie „lustig“ und „jucken“, trostspendend allein die Gedichtszeile „oft schrei(b)e ich vor hilflosigkeit“. Was Montherlant als Erbarmen kennt und feiert, bleibt für ihn die zwanghafte Niederwerfung des Subjekts, um jeden Preis, um jedes (letzte) Wort.
Arme Betty. Woher sie nur, die Abgelehnte, meine knotigen Finger nimmt? Und gar die Hast! Doch welche Niederwerfung meint sie? Wessen? Die ihre gar? Wer wollt‘ sich noch die Mühe machen? Da nämlich, letztlich, steckt das Problem.
@Betty B(lue) Ich glaube, Sie sind seine eigentliche Melusine.
Ich hätte da auch noch so eine ganz irre Idee Betty.
Wenn Sie aus ihren Füßen bluten, sollten Sie einfach über eine Leinwand laufen. Solch ein Werk ließe sich in Liebhaberkreisen bestimmt horrend an den Mann bringen, aber Scht!, nur hinter vorgehaltener Hand versteht sich.
Ich selbst bin hier über die Zeit ganz blutleer gelaufen, anstatt meinen morgentlichen Kaffee zu trinken, sollte ich mir besser ein paar Blutinfusionen verpassen lassen.
Betty, ich habe nichts gegen Sie, ich hatte Sie besucht und Sie waren so traurig dabei.
Vielleicht sollten Sie ihn mal versuchen und aufhören ihm Möglichkeiten einzuräumen.
Gehen sie noch einmal über diesen Text. Ihre Perspektive ist witzlos und nicht überraschend in der Argumentation. Indem sie in eine alte Kerbe hauen, die Andere vor ihnen schon gehauen haben, bewirken sie nichts. Weil das nur ein Hauklotz ist und kein Holz, dass hier zu besorgen wäre. Sie sollten einmal nach überraschenden und ungehörten Fürsprachen, Argumenten, suchen, sich echte Gedanken machen, schwelgen, und so einfach Appetit auf ihn machen. Sie müssen Niebelschütz servieren. Versuchen Sie zum Beispiel einmal über Niebelschütz so zu schreiben, dass sie ihn nicht gegen irgendwas verteidigen, oder für ihre eigenen Probleme instrumentalisieren, sondern schreiben sie einen Text, der wirklich Appetit macht. Auf Niebelschütz. Also das man dem Text nicht schon drei Meilen gegen den Wind anhört seine Problemigkeit anhört. Und bei Volltextlesern sowieso. Also vielleicht noch einmal über LOS gehen.
Ach Lidbar… Sie verstehen nach wie vor n i c h t s. Was wahrscheinlich nicht an Ihren Geisteskräften, sondern an Ihrem Willen und Ihrem galoppierenden Ressentiment liegt, um es s o zu sagen: im Blut Ihrer Parteilichkeit.
Mein Text ist jetzt fertig (einen Tag später), er ist von drei Seiten, und zwar mit Zustimmung, gegengelesen worden: von zweien, die Niebelschützens Dichtung gut kennen, von einer, die seine Dichtung gar nicht kennt – und schließlich hat sich mein Verleger den Text noch angeschaut. In der nächsten Volltext-Ausgabe können Sie ihn dann ebenfalls lesen. Was ich im Arbeitsjournal schreibe, schreibe ich aus der Arbeit heraus; insofern ist Ihre Aufforderung, ich möge noch einmal über meinen Text gehen, absurd, weil ich genau das ja eben sowieso tue. Die Überlegungen des Arbeitsjournals sind eben Überlegungen und eben noch nicht endgültig, sondern eh im Fluß. Im übrigen haben andere Größen zu Niebelschütz schon so viel und so Gutes geschrieben – Wollschläger, Boehlich, Henscheid, Vollmann und viele mehr -, daß man in Gefahr gerät, einfach nur zu wiederholen. Deswegen mußte hier ein völlig anderer Ansatz her.
„Problemigkeit“ ist übrigens ein häßliches Wort und gähnt wie vieles, das Sie hier immer wieder vertreten, vor poetischer Leere. Texte werden gerade dann Dichtung, wenn Probleme in und mit ihnen lauern, ja wenn sie Ambivalenzen erzeugen und nähren. Alles andere ist Pop.
Interessant aber, wie treu Sie und übrige Gegner mir stets bleiben – und Der Dschungel, selbstverständlich. Anders als auf mich ist auf sie Verlaß, und auf Sie.
Liebe Betty, es wäre so leicht gewesen sich an dieser Stelle auch ein bischen größer zu machen, denn es hört sich doch über ein Kompliment dazu noch wie ein Versprechen an, mal abgesehen von dem Groupie, dem Idol und dem Angehimmle von unten. Das ist nicht nett, Alban Nikolai Herbst.
Fickangebote sind nicht das Schlimmste.
Sie hätten ihm sagen müssen: Ich habe Ihnen etwas entgegenzusetzen!
So! Was denn?
Mich.
Man muss auf die Bettys dieser Welt aufpassen!
Ich bin eine Kindshüterin. So geht das!
@“Mich“. Chapeau!