Das Ungeheuer Muse (8). Orpheus & Eurydike. DIE DRITTE PROBE: Donnerstag, der 28.1.2010. Aus dem Konzerthaus Berlin.

Im Wäldchen blökt ein Kalb ängstlich nach seiner Mutter.
Eurydike Wie wird die Mutter zufrieden werden,
die jetzt ihr Kleines säugt.
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Libretto (4) © Gladys Křenek.

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6.31 Uhr:
Es geht insgesamt in dem Mythos um Verlust, um Liebes- und Geschlechterverlust nämlich (der Verlust eines Kindes, beispielhaft bei Kore/Persephone und ihrer Mutter Klage, ist etwas grundsätzlich anderes, auch wenn er den Geschlechterverlust vielleicht nicht aufzuheben, aber doch zu relativieren weiß… weitere Überlegung siehe >>>> im heutigen Arbeitsjournal): dieser Verlust ist nicht-individuell, er ist von Müller bis Montauk ein Prinzip, und jeder lernt ihn kennen. D a s ist die Stärke auch dieses Orpheus’ und nicht die persönliche Ausprägung in Kokoschka/Mahler-Werfel; die ist nur Beispiel, Illustration usw. Vielmehr wäre auf Cocteaus Konzept des Tagtraums abzustellen, den man mit Kokoschkas unbedingtem Festhalten am Verlorenen als eben der anderen Realität ergreifen müßte. Es ist auch viel objektive Zeitgeschichte-als-Klang in dem Stück gebunden: Kokoschkas Stück wird 1918 uraufgeführt, Cocteaus Orphée kommt 1926 heraus, der Film folgt 1930, Křeneks Oper wird wie Coxcteaus Stück 1926 uraufgeführt. Bezieht man Kokoschka auf Cocteau, so darf man bei ihm nicht in den Spiegel sehen (man darf nicht „fragen”); Eifersucht wird zum Bilderverbot, gegen das sich Kokoschka, dann konsequenterweise, mit der Alma-Puppe auflehnt, bis er begreift, wie verzweifelt sinnlos das ist, und sie schließlich köpft (gegen Ende einer Orgie, heißt es!): nicht Orpheus verliert seinen Kopf; selbst die (reale) Puppenköpfung wird zum Aufstand. Von hier aus gesehen, gerät das Musikdrama in eine völlig andere Bedeutungsrichtung, als ein biografischer Ansatz das auch nur irgend leisten könnte; zumal fließen s o, cocteau’sch, Wirklichkeit und Fantastik unscheidbar ineinander und kommen damit unbewußten Prozessen nahe, werden ihre Gestalt. Genau solche Prozesse hat aber schon das Stück-als-Drama erzählt; Křeneks Musik spürt denen nach, gibt ihnen jenseits der Bildlichkeit obsessiver Akt die Sinnlichkeit. D a ß es aber um Geschlechterverlust geht, um Sexualität und letztlich die männliche Klage darum, im Kampf der Gene unterlegen gewesen zu sein, wird von Kokoschkas Eifersucht gerade unterstrichen: man muß sie metaphorisch lesen, auch dann, wenn sie sehr konkret gewesen ist. G e r a d e dann.

9.50 Uhr:
[Konzerthaus Berlin Großer Saal.]
“Gespenster vibrieren nicht”, sagt Zag soeben, auf eine Stelle bezogen, die schleierhaft glatt gespielt werden muß. Das geht dann wispernd durchs Orchester, daß Gespenster nicht vibrieren.
Ich bin ein wenig zu spät zur Probe gekommen, weil ich mich am Schreibtisch an der Tondatei festgefressen hatte, auf der Karsten Wiegand seine Ansprache ans Orchester hält. Die Aufnahme ist sehr verhallt, hat auch ein störendes Hintergrundrauschen; man versteht den Mann deshalb nur schlecht… ah, gerade eine Mißstimmung von Dirigent zu Orchestermitgliedern, die nichts zu tun hatten und nicht aufmerksam gewesen seien… ich kann’s nicht beurteilen. Aber kurz liegt Eis im Saal. Schade. – Also Wiegands Aufnahme: habe verschiedene Filter drüberlaufen lassen, auf Mono hinüberkopiert, sie wurde besser…. aber dann rannte mir die Zeit weg. Jetzt müssen Sie sich halt noch etwas gedulden. Ich krieg es aber sicher hin.
Gut, Konzentration. Musik.
“Schauen Sie bitte noch mal in die Noten hier? Ich weiß, ja, es ist sauschlecht zu lesen.” Die alten Kopien von 1926: Viele Anmerkungen der Musiker eingetragen seither und wieder ausradiert, dann neue eingetragen, abermals ausradiert. Die meisten Musiker, die die Stifte führten, 1926, leben heut nicht mehr. “Das Stück ist ja nicht wirklich schwer zu spielen, es ist hochexpressive Musik, ja, aber rein technisch kommt man damit gut klar. Wenn bloß immer alles zu lesen wäre…”

(Richtig, die Ansprache gestern. Vorher hatte auch ich selbst kurz zum Orchester gesprochen, anläßlich des Librettos, das ich mitgebracht hatte, und hatte auch angedeutet – ein Instrumentalist nannte das nachher “flammend”, dabei bin ich, meiner Rolle gemäß, ganz zurückhaltend gewesen -, wie ich ein Orchster verstehe, wenn es Oper spielt. Dazu lasen Sie schon gestern, ich mag nicht wiederholen. Jedenfalls sprach Wiegand dann fast ungefähr gleich, “a l l e haben Rollen, auch Sie spielen Rollen”, was der Idee des unendlichen Zuges entspricht, der durch den Hades zieht – Wiegand nahm das, glaube ich, szenisch, ich hingegen meines es geradezu ontologisch. Jedenfalls war die Wirkung der Ansprache dann enorm: “Unfaßbar”, sagte Zag später zu mir, “man s p ü r t geradezu, wie engagiert plötzlich gespielt wird. Gar kein Vergleich zu vordem.” Je nun, ich kann das kein Wunder finden. “Der Mensch braucht etwas, gegen das er sich austauschen kann”, schreibt Saint-Exupéry in Citadelle. Sich transzendieren. Das k a n n nur gehen, wo verstanden, ja nicht allein dies, sondern mehr noch: wo empfunden wird. Alles andere ist rationalisierende, Pardon, Scheiße.)

“Da müssen wir noch eine Stelle klären, bitte, die Geigen… bitte? Ah ja, das Gerüst. Nein, das wissen wir alle nicht, was wir dann wie hören werden. Das können wir nur ausprobieren.”
DAS GERÜST: Darüber ist dann morgen zu sprechen, über diese Bühnenbildidee. “Können wir uns dann eigentlich sehen?” hörte ich gestern vorüberfliegen. Es ist noch einige Tücke zu erwar…. ahhh! dieses H o r n: herzschnürend!






Das Orpheusthema stellt die Verarbeitung des primären Verlustes dar. Des Verlustes der vorgeburtlichen Einheit mit der Mutter. Von diesem Standpunkt betrachtet, gewinnen die Elemente des Mythos plötzlich ihren Sinn. Eurydike wird nicht erobert, sie hat kein Gesicht und keine Vorgeschichte. Ihre Schönheit oder sonstigen Vorzüge werden nicht gepriesen. Sie ist die gesichtslose Mutter der Vorzeit, eine Mutter, die das Subjekt nicht besitzen kann, sondern immer schon verloren hat. Sobald sich der Mensch seiner selbst bewusst wird, zu sich selbst ein Verhältnis gewinnt, ist er außerhalb der Fusion mit der Mutter. Sobald der Mensch in den Spiegel des Narzissmus schaut, ist die frühe Einheit verloren. Im Mutterleib selbst gibt es nur die erlebte Einheit, nicht aber die Reflexion über diese Einheit. Die primäre Einheit kommt nur als Verlorene ins Bewusstsein.
>>>> Sebastian Leikert, Der Orpheusmythos und die Psychoanalyse der Musik

(Interessante Idee: nicht Vater-, sondern der Muttermord könnte, psychoanalytisch gedeutet, hier wirken. Männlichkeitsfragen, zurückgewiesener Narzißmus. Im Wäldchen blökt ein Kalb ängstlich nach seiner Mutter. Eurydike: Wie wird die Mutter zufrieden werden, die jetzt ihr Kleines säugt: Ecco!)“So, bitteschön. Wir steigen ein mit 448.” – versandet. “Bitte nochmal, dieselbe Stelle, 448.”

“So, wir machen ab dem tempo mosso, 590, tutti 590.” Die Klage, über die wie über Erde, Schrittchen gehen; das ist nicht ohne Hohn.

10.45 Uhr:

DIE ERSTE PAUSE.
Eine Bratsche und die Harfe spielen alle Zeit und spielen die Pause hindurch, der Bratschist ganz hinten im Saal. (Ich liebe solche Momente des sich Entgleitens, eine zarte Magie geht davon aus.)

11.05 Uhr:
“So, sieben null neun”: Zag. Crescendierende Kraft.
“Nicht zu schwer werden… und ich wiederhole noch mal: ab 725 bleibt das Tempo so, wie es ist. Wir machen nochmal ab 718…” Wir sich die Struktur jetzt herausschält, besonders in den Celli zu spüren, die momentlang leiten. Dann Ruhe, wie vorsichtiges Atemholen…aber schon dreht sich die Drohung hinein und auch wieder eine Klage in den Streichern. “Moment… wir müssen checken, ob hier ein Fehler in den Noten ist…”

11.37 Uhr:
“Zweite Szene.” Misterioso, und drunter laufen dräuend die Bässe; ganz breit dann fächert sich der Klang in ein Adagio auf, bratschengetragen, hoch hinauf, das knochige Xylophon, die Harfenstin macht sich bereit… “nicht zu laut da bitte, das klingt sonst nach orffschem Schulwerk”, dann mit Lauf ins quasi-Ende des Segments. Schon sattester Adagio-Klang, “Wiener” Klang, würd ich sagen wollen, Zagrosek lächelt, weil es so gut funktioniert gerade, und das Thema löst sich kurz auf.

“So, wir machen bitte 483, drei Halbe…” Besprechung, “Ja, steht hier so da… aber eigentlich ist das so sehr komisch…” Anspielen…. “c – e – fis muß das sein, wir müssen noch mal die Noten checken… So, 489…”

“Das Tempo festhalten! Das darf s e h r nervös sein… 557 bitte… u n d .. -” Handgesten, “babababababa”, gibt er vor, dann zerfällt die Gerichtetheit bereits wieder, Xylophon, beharrend, darauf, und tutti forte, schweres Blech, man muß an dieser Stelle irre aufpassen, daß es nicht schleppt….

“Pause. Danke.” 11.53 Uhr.

12.34 Uhr:
“Dritter Akt bitte. 102.”


“Alle im Takt weiter: 557”.

(Das Spannende heute aber ist, daß ab 14 Uhr mir dem Aufbau der Gerüstes begonnen wird, das als Bühnenbild gedacht ist und worin, in drei Ebenen, auch die Orchestermusiker sitzen sollen… – Welch ein Aufbruch gerade, “aber wir müssen uns alle, alle an 590 ein Piano eintragen, das ist sonst nicht zu schaffen für den Sänger” — jedenfalls ist nicht heraus, ob die Musiker einander während der Aufführngen überhaupt hören, geschweige sehen können, weshalb sie teils nach Monitoren spielen müssen…)

“Zu geräuschhaft, zu geräuschaft. Auch da müssen Sie unterscheiden zwischen forte und fortissimo… ja… ja! S o! Sehr gut.” Absteigende Posaune. “Steigen wir ein in dem schnellen Tempo, 678. Bitte. Tutti.” Jetzt aber. “So, wir müssen noch mal einsteigen 648….” – Jawoll, jetzt kommt das Tempo rein, jetzt wird auch der ganze Klang entschieden. “Jetzt bitte das nächste Zwischenspiel, 706, viel K l a n g bitte…” Ich frage mich, wer von Ihnen, der die Intensität der Noten- und Einstudierarbeit nicht mit durchgemacht hat, das hört, was w i r hören werden. (Nicht selten schon hatte ich den Eindruck, daß “eigentliche Musik” während der Proben stattfindet, viel mehr als in einer Aufführung…)

“S e h r schön!” Auch wirklich eine intensive, baßgetragene Stelle, die eigenartig nach Debussy klingt, plötzlich; nur das durchlaufende Thema bricht aus, aber dezent. Und schon kommt die Drohung zurück, verbunden mit einem, nahezu, Choralsversprechen. (Ungeheuer schön, hier.).

“So, das ist der Schluß des Stückes. Morgen abend bitte ich Sie alle, viel viel Geduld mitzubringen, denn da haben wir es mit diesem Gerüst zu tun.”

(Bleib ich jetzt hier und warte den Beginn des Gerüstaufbaus ab oder seh ich mir das dann morgen früh an, berichte Ihnen und komme dann erst wieder am Abend zur ersten “Gerüstprobe” her? – Die Sänger werden erst ab Sonnabend hiersein. – Aber ich habe nich Cocteau herauszusuchen, und Benn. Benn. Ja, Benn.

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Abbau: Instrumente, Notenständer, Stühle werden von der Bühne geräumt, um Platz für den Gerüstaufbau zu schaffen. Der soll nun um 14 Uhr beginnen.
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Und eine starrt so seltsam.
Und eine Große, Gefleckte,
bunthäutig (“gelber Mohn”)
lockt unter Demut, Keuschheitsandeutungen
bei hemmngsloser Lust – (Purpur
im Kelch der Liebe -!) vergeblich!
drohen -!

Benn, Orpheus’ Tod.

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