8.33 Uhr:
Ab gestern nachmittag wurde das Gerüst aufgebaut und soll heute vormittag bis elf Uhr fertigsein. „Das Gerüst”: Wir steigen von der Oberwelt, der Welt, in den Hades hinab; ein bevölkerter Weg, Geister zu Seiten, der lange Zug, die Orchestermusiker; wir aber sitzen schon tief selbst darinnen, im Tiefen. Dunkelheit wird über uns gestürzt, die Lämpchen an den Notenpulten, vielleicht, weisen einen Weg hinauf: unerreichbar aber, stell ich mir vor, wie die hellen Nadeln der Sterne –
Nur Ahnung bisher, wie das aussehen wird; der Gebäudebau hat mich noch niemals gereizt; also blieb ich gestern nachmittag fort. Doch heute mittag will ich hinfahrn und es mir anschaun; von dort aus werd ich dann berichten. Nur, Leser, es soll ja ein Geheimnis sein; wenn ich Ihnen das fotografiere (ja, l i e ß e es sich fotografieren), wo denn wär es dann? Ich werde mir etwas überlegen, das Sie sehen können, o h n e zu sehen, so, daß es lockt, es wirklich zu sehen. (Vielleicht ein Moment, sich über „Theaterzauber” ein paar Gedanken zu machen? Denken Sie an dieses große Sternenbild, das jahrelang unsere Vorstellung wie eine Münze geprägt hat, was denn die Zauberflöte sei…)H Ö R E N >>>> Hören2.mp3
Über den Nachmittag wird die Technik eingerichtet werden, im Probenplan steht: „Feinabstimmung Gerüst {Positionen Leinwände {2,50×3,30m}, ggf. Hängung Gaze an Rückwand etc.)”, ab 15 Uhr geht’s an die pikanten Arbeiten: „Orchesterwarte: Aufbau Stühle, Pulte und Instrumente, ET: Anbringen LED-Leuchten an Pulten, BT: Aufstellung Podest Zagrosek und provisorische Befestigung; Aufbau Turm für Chordirigenten auf Rückseite des Gerüsts; BT: Aufstellung Podest Zagrosek und provisorische Befestigung; Ton: Einbau 6 visueller Monitore auf den 3 Ebenen, 2 große Monitore auf Rückseite Gerüst für Chor; Aufbau Kamera im Parkett”. Davon werd ich Ihnen übern Nachmittag einige Eindrücke vermitteln. Um 19 Uhr gibt es dann die erste Probe mit dem Orchester im Gerüst.15.56 Uhr:
[Konzerthaus, Großer Saal.]
“Was passiert hier?” Zagrosek mit Geste über den Bühnenvorraum. “So können mich die Musiker da oben überhaupt nicht sehen.” “Über Video”, wirft die Projektleiterin ein. “Ja, aber nur über Video.” Tatsächlich ist das Gerüst riesig, es reicht noch über den zweiten Rang hinaus.
Ich war gegen halb vier hier, meine Aufnahmen stelle ich gleich ein. Kurzes freundliches Gespräch mit Karsten Wiegand: “Sie mögen die Idee mit der Puppe nicht…” sagte er lächelnd. “Nein”, sage ich, und er beginnt zu erklären: verbindlich, sehr klar. Er hat das Haus mit im Kopf, diese “Mischung aus Klassizismus und DDR”, was ja nun stimmt, “man muß da einen Gegenpol setzen gegen all das gewollt Erhabene.” Er inszeniert den Raum mit ein, indem das Symbol zu ihm gegengestellt wird. Das kann funktionieren, denke ich. Wiegand kennt >>>> meine Rezension zu seinem Faust, wir sprechen kurz drüber. Dann kommt auch schon Zag, ich muß derweil irgendwie meinen Laptop aufbauen, die Fotografien einspielen und und und. Noch wird diskutiert, das Gerüst füllt sich mit Stühlen und Pulten, wir hören Zählen, Rufe, Fragen.
ZWEITER AKT, ERSTE SZENE.
Vorspiel. Vorhang auf. Fünf Jahre später im Orkus. Psyche sieht Eurydike unter den Schatten.
Stimme der Eurydike vom Inneren des Orkus: Welche Harmonien! Welche Hoffnung!
Psyche in der Richtung zur Eurydike: Wenn von Orpheus schnell ich jetzt berichte, willst du hören, Eurydike?
Eurydikes Stimme Wer ist Orpheus? Orpheus ist gestaltlos wie dieses Eiland. Bist du menschlicher Stimme Wohllaut, daß du mich bewegst?
16.23 Uhr:
Zagrosek eben zu mir: “Das ist eine gute Idee von Wiegand, daß er die ganzen allegorischen Figuren, die an den Wänden des Saales stehen, mit integriert… und sogar die Gemälde an den Decken. Das hat ja a u c h alles mit Orpheus und Eurydike zu tun. Eigentlich”, er sinnt kurz, “ist es d e r Mythos der Musik überhaupt.” Ich wende, parteiisch, den Tristan ein, “aber der ist doch viel jünger!” ruft Zag. Wobei ich denke, daß ein Mythos – das eben ist seine Natur – nie jung oder alte s e i n kann: er i s t. Wie bei jenen Sätzen, die schon in dem Moment Zitat sind, in denen man sie “erfindet”. – Andere Diskussion. Denn momentan geht’s darum, wohin die Monitore kommen. “Wo steht bitte der Chor, Herr Zagrosek? Direkt vor der Orgel oder nur links und rechts von ihr… wir haben nämlich die Idee…” “Peter?” “Waaas?” “Komm runter!” — “Geht’s n bißchen schneller??” Zag steht mitten im Saal, telefoniert, paar Reihen hinter ihm sitzt Wiegand, schaut.
Das Problem mit dem Gerüst wird, denke ich, aber nicht nur die eingeschränkte Sicht der Musiker sein, sondern insgesamt kann der Klang zerfallen, die Balance brechen, die das fragile Stück eben auch braucht. Die Harfe wiederum, im Ohr ihre Partien, steht sehr fein ganz oben vorne links. Aber die Bläser werden schmettern, und den Streichern fehlt eventuell, wegen der niedrigen Decke ihres Hades’ (der sich freilich in Höhe der Hörerohren ausdehnt), eine Höhe, über die sich ihr Klang entfalten kann. Alles das werden wir heute abend nach 19 Uhr hören., bei der ersten Probe im Gerüst. Noch ist alles pur Imagination.
18.25 Uhr:
Als ich aus dem Schneetreiben zurückkomme – kurzer Trip zum Alex, um meinem Jungen noch ein Geschenk zu kaufen -, trudeln im Casino gerade die Musiker ein. Mit dem Flötisten hatte ich vorher noch ein Gespräch, er erhob entschieden Einspruch gegen etwas, das ich am ersten Tag schrieb; ich werde das noch erzählen und richtigstellen; kann sein, daß ich mich vergalloppiert hab. Jedenfalls sitzt auch Wiegand im Casino, ich schreite die Treppen hinauf in den Saal; dort wird soeben die hintere Leinwand gehievt.
18.57 Uhr:
So, es geht los.Noch stehen die Teamleute beieinander, Zag, Orchestermanager Ulf Werner, die Projektleiterin, Wiegand kommt dazu, teils skeptische, teils einfach nur fragende Blicke das Gerüst hinauf, ja wie an das Gerüst. Dann “pschscht”, einer aus dem Orchestervorstand sagt an: “Ich habe die Aufgabe, euch etwas vorzulesen, was mit der Sicherheit auf dem Gerüst zu tun hat. Es geht vor allem um folgende Bereiche, nämlich die, wo die Projektionsflächen sind. Ich bitte euch auch, morgen zu mir in die Kantine zu kommen, um zu unterschreiben, daß ich euch das gesagt habe.” Dann geht es um die Frage der Pultleuchten: um jetzt noch Änderungen vornehmen zu können, wird mit provisorischen Leuchten gespielt, was alles etwas problematischer macht, als es sowieso ist. Jetzt begrüßt Zagrosek die Musiker, er hat sein Pult erklommen, neben ihm, eine Stufe tiefer, steht Wiegand. “Und bitte, positionieren Sie sich so, daß die Sicht zu mir nicht von den Projektionsleinwänden behindert wird.”“Ruhe, bitte! Alles ruhig!”
Irritation.
“Können Sie mich alle sehen?”
“Nein.” Von den Bässen. Von oben: “Und auf der Leinwand sehen wir Sie seitenverkehrt.” Das hatten Wiegand und ich schon kurz zuvor bemerkt und besprochen, Abhilfe war aber noch nicht.
“So, die erste Panne ist beseitigt, jetzt beginnen wir mit der ersten Szene, dritter Akt.” Ich muß mal herumgehen und auf die Klangbalance hören. Es klingt sehr seltsam, aber enorm eindrücklich, diese Musik aus der vertikalen Fläche zu hören.
–
“Bitte die Posaune da oben… bei mir steht ein Piano in der Partitur… das Gerüst verändert den Klang so, daß Sie da viel zu dominant herüberkommen; spielen Sie da besser ein Pianissimo. Noch einmal…” – “…alle!”… “Tuba? Können Sie die Triolen von den Klarinetten hören? Können Sie die hören? Nicht? Aha… das war ein bißchen spät… versuchen Sie das mitzukriegen… Wir steigen ein im Takt 527.” Akustisch tückisch, das Gerüst. Eine Umstellungsfrage, aber. “Darf ich bitte nur die Streicher haben? 540. Da müssen wir ein bißchen mitkommen.” Ansatz. Tempo geben…. dann zerfließen. “Sehr gut, gut, wunderbar. Ich habe nur eine Bitte: nicht zu laut. – Tutti! Tutti 450. Schschsch… bitte Ruhe… drei, vier…”
–
Gerade durch die aus ungewohnter Höhe spielende Flöte bekommt diese ins Vertikale hochgekippt Musik etwas ungreifbar Surreales, dem ich mich kaum entziehen kann, auch wenn jetzt, der Raumordnung wegen,, nicht immer alles klappt; sowieso ist die Balance völlig neu auszuhorchen, wobei das eben deshalb eine nicht gewohnte Arbeit ist, als die Balance von unten nach oben kippt und nicht von rechts nach links, bzw. links nach rechts.
–
“Herr Zagrosek, darf ich..?” “Ja.” “Wir können oft die Bleistifteintragungen nicht lesen.” “Gibt es überhaupt Probleme… bitte, wir müsen jetzt alles wissen, Sie müssen es j e t z t sagen, da können wir noch ändern.” “Wenn wir Sie nur über die Leinwand sehen, dann gibt es da eine Verzägerung von mindestens einer halben Sekunde.” “Das müssen wir dringend lösen, ja, ich weiß. Bei digitaler Übertragung gibt es da immer ein dealy. – Lassen Sie uns jetzt eine Pause machen, dann noch etwas tun, und morgen brauchen wir dann k e i n e Probe. Der Sinn heute abend ist ja vor allem, daß wir merken, was und ob etwas in dieser Aufstellung nicht klappt.”
20.23 Uhr:
[Kurz vor Pausenende. Dunkle Schokolade mit Nuß, Ritter Sport.
Nein, ich krieg nichts dafür, daß ich das schreibe. Sie schmeckt mir
einfach.]
…. an sich, denke aber i c h, m ü ß t e morgen geprobt werden, und war, um Stimmen umzusetzen: Die Streicher spielen in einem zu flachen Kasten, das erdrückt ihren Klang. Das Blech ist zu stark im Vordergrund, man müßte Klangproben nur für die Verteilung der Stimmen machen. Für die Holzbläser ist die jetzige Position ideal, auch die Harfe ist wunderbar da ganz oben. Deutlich ist zudem, daß der Klang insgesamt schöner wird, je weiter hinten man im Saal sitzt; vorne ist er höchst problematisch.
–
“Wir beginnen mit dem dritten Akt. Bitte Ruhe…”
– “Herr Ludwig, haben Sie keinen akustischen Monitor?” “Nein.” “Aber Sie sollten doch…” dreht sich um, wo ist eine Assistentin? Die Projektleiterin eilt bereits durch die Reihen, das Arbeitspapier auf dem Unterarm. Kurzgerede, umgedreht: Zag, zum Cellisten gesprochen: “ab Montag, ab Montag sind alle Monitore da.” Und weiter. “Bitte!” Mal wieder eine Verstimmung: “Herr ZZZ., sind Sie da?” Aus der Tiefe: “Ja.” “Dann spielen Sie auch. Dazusein allein genügt nicht.” Dafür dann aus der ersten Etage: “Ich bin nicht in der Lage, die Einsätze hier zu erkennen. Die Noten sind so einfach nicht zu lesen.” “Liegt das am Licht?” “Das liegt am Licht.” – Grummelnder Zagrosek, aber: “Klare Ansage, da haben Sie recht. Ab Montag ist auch das Licht anders, versprochen.” Es ist jetzt ein bißchen viel aufeinander; der Mann will musikalische Arbeit machen, aber das Gerüst sperrt sich: es ist unflexibel, man müßte es unterlaufen.Ahhhh…. dann die weit auslaufende Woge, die in die Höhe geht, um zum Schluß des Stückes zu laufen, Flöte und Harfe. “Danke schön. Schönen Abend und schönes Wochenende, wir sehen uns am Montag.” Zwischendurch saß ich im ersten Rang Mitte, hörte weiter auf die Klangbalance, kurzes Wort noch mit Wiegand (“Ich würde morgen nochmal proben und die Musiker teils umsetzen”, aber tatsächlich mischte sich der Klang im ersten Rang ausgesprochen gut.) Und Zaungäste, aus einem anderen Konzert kommend, haben sich eingeschlichen: leise sitzen sie da, man sieht ihnen an, wie fasziniert sie allein schon von der Szene sind. Sie bleiben bis ganz zum Schluß.
>>>> Das Ungeheuer Muse, ERSTE ZWISCHENERZÄHLUNG
>>>> DIE FÜNFTE PROBE, Das Ungeheuer Muse (11)
DIE DRITTE PROBE, Das Ungeheuer Muse (8) <<<<
Neue Musik hören. Eine sehr schöne Korrespondenz dazu, meine ich, hat >>>> d o r t begonnen.
Ritter Schokolade Ritter? Ritter? Weil Sie’s ansprechen und preisen, frage ich kurz nach. Sagen Sie, Herr Herbst, ist das diese Blockschokolade, die früher zur Steigerung der Kampfeskraft in die Feldpostpäckchen gepackt wurde?