Es gab kein Paneel, auf dem man hätte Knöpfe drücken können.

[Kapitel 21 bis 24 <<<< dort.]

Nur schimmerte rechteckig die zerkratzte Blechblende eines Steckschlosses. Aber nach einem knappen Ruck fuhr der Aufzug los: er wurde vom Etablissement aus bedient. In der linken oberen Ecke die Linse eines Überwachungsauges. Die Tür schob sich auf. Ein Flürchen, gleich rechts eine Art Schalter im schwarzgestrichenen Verschlag, vor dem wiederum eine kniehohe Schranke den Durchgang verwehrte. „Guten Abend“, sagte ich. Links oberhalb des Schalters ein Schild:Mit Schildern hatten es die Amerikaner; da waren sie bei Preußens in die Schule gegangen.Das farbenfroh geschminkte Gesicht einer jungen hübschen Frau wurde sichtbar. „Zehn Dollars“, sagte sie, „Cover Charge“. Das war nicht teuer. Allerdings brauchte man später endlos viele Eindollarnoten. Nämlich wurden die Modelle, sozusagen, gefüttert. Wie handzahme Tiere. Eine aß wirklich einen Geldschein vor den Augen ihrer Zuschauer auf. Sofort warfen die nach. Sie hatte vielleicht einen Kropf.
Rechts hinter der Schranke der langgestreckte Saal. Über die vordere Breitwand verlief eine Art Laufsteg, dessen Mitte sich zur kleinen Bühne ausbuchtete. Aus dieser und je aus dem vorderen und hinteren Drittel des Stegs wuchsen chrompolierte Stangen, um welche junge, ausgesucht gutgewachsene Frauen schwangen und die sie, war die Stimmung angeheizt, auch hinaufkletterten. Meist machten sie nur Gymnastik an ihnen. Räkelten an ihren Enden. Gefiel das den Betrachtern, so legten sie Dollaropfer vor die Frauen. Häretiker schoben sie schon mal unters Strumpfband, dem einzigen oft, was die Göttinnen trugen außer Pumps oder Schweinslederstiefeln, deren Schaft wie Handschuhe weich. An sehr besuchten Abenden hätten gut sieben Modelle auf der Bühne Platz gefunden: drei an den Stangen, dazwischen weitre je zwei. Nicht schwer, sich Klatschen und Johlen vorzustellen. In Stimmung bewarf man diese Schönheiten auch, die sich dann in Eindollernoten duschten.
So voll war es heute abend nicht. Eine ruhige, fast besinnliche Armosphäre; kaum daß Zigarettenrauch im Raum hing. Mit einem einzigen Blick sah ich: Talisker ist nicht da. Vielleicht war er wieder gegangen. Vielleicht kam er erst. Ich nahm einen Stuhl seitlich des Podiums, auf dem sich ein Gal am Boden rieb. Die blonde Frau flirtete mit ihren fünf Bewunderern, ließ sich sogar berühren, streckte einen Fuß über die Bühne, ließ ihn küssen, mich begrüßte sie mit Augenaufschlag. Ich setzte mich, das Gesicht Richtung Eingang. Jemand stiefelte halbgeschürzt bei, nahm meine Bestellung auf, brachte die Cola, kassierte. „Du tipst mich nicht?“ fragte sie. Ich antwortete: „Nachher, nicht bei jedem Getränk.“ Das war ihr nicht recht, sie flunschte davon. Die Tänzerin hatte mehr Glück. Die bereits gesammelten Dollars zu Packen geschwollen unter dem Band, und noch lagen Scheine lose herum. Ich legte einen dazu. Warf einen Blick zum Türbogen geradeaus: es schien dort auch zu Nebengelassen zu gehen. Auf der Rückseite des Handzettels, entsann ich mich, hatte etwas von einer Waterfall Lounge gestanden.
„Ich bin Lissy.“ Eine zierliche brünette Frau in engem Kleidchen hatte sich unvermerkt zu mir gesetzt. Ich antwortete nicht. Schnallensandalen trug sie an den Füßen. Meine stummen Blicke schienen sie unruhig zu machen. „Gibst du mir einen aus?“ Ich schwieg weiter, sie drückte mir sacht ihre linke Hand auf die Brust. Hatte einen Ehering am Finger. Als ich draufsah, sagte sie: „Oh tut mir leid, er geht nicht ab.“ Mit ihrer aufgeworfenen Nase hätte sie fürs GibsonGirl Modell stehen können: Idealbild der US-amerikanischen Frau (‚she is an elegant, well-to-do socialite and a poor, put-upon working girl‘). Ihr rechter Unterarm legte sich um meinen Nacken, ihre Lippen berührten meinen linken Mundwinkel. Sie schnupperte. „Du riechst gut, wir haben nicht oft solche Gäste. Laß mich dich küssen.“ Sie küßte mich. „Gibst mir paar Dollars?“ Hinter uns flanierte eine hochgewachsene Blondine im Abendkleid, warf schnelle, irgendwie drohende Blick. Ich hatte das Gefühl, alle Welt fokussiere sich auf mich. Es wurde unangenehm. Lissy sah meinen Blick. „Mach dir nichts draus“, sagte sie, „auch zu mir ist Joanne arrogant.“ „Sie ist unendlich schön.“ „Schau m i c h an!“
In diesem Moment trat die Schwarze aus dem Gap-Khakis-Plakat in den Showrom. Ich hatte mich nicht einmal umdrehen müssen, um sie zu bemerken. Ich spürte sie einfach. Und sah auch nicht hin. Wartete. Aber Lissy wurde nervös. Ließ von mir ab, erhob sich sogar. „Sie kommt“, sagte sie, „Martha kommt.“ „Martha?“ Da stand die Schwarze schon bei uns. Und scheuchte Lissy mit einem Blick fort. Setzte sich aber nicht etwa, sondern sah auf mich herunter. Sie schien nicht einmal nachzudenken, einfach nur zu schauen. Sie trug ein Kostüm, darunter einen hellen Seidenrolli und elegante, verspielte Pumps. Ihren Beinen war anzusehen, daß auch sie professionell getanzt hatte. Oder immer noch tanzte. Ich war nicht erstaunt, sie zu sehen. Eigentlich hatte ich damit gerechnet. War es nicht sie gewesen, die mir den Handzettel zustecken ließ? Dann sprach sie. Aber ich verstand nicht, was. Sie drehte sich um und schritt langsam wieder davon. Ich stand auf und folgte ihr. Mein Blick begegnete Lissies, die schlug die Lider nieder.
Tatsächlich waren dem Showroom Separés angegliedert. Von irgendwoher plätscherte es. Wohl die Waterfall Lounge. Ich ließ mich zu einer lederbezogenen Tür führen.Der Rahmen schnaufte, als Martha das Büro öffnete. Wuchtiger Schreibtisch, Computer drauf, silberne Golf-Trophäen. Rechts davon eine Sitzgruppe. Mit einer Kopfbewegung zeigte Martha auf einen gleich neben der Tür abgestellten Aktenkoffer. Ich erkannte ihn sofort. Von dem hatte Talisker geträumt. „Ist das Ihrer?“ fragte sie, hob den Koffer und reichte ihn mir. Ich nahm ihn. „Eigentlich nicht“, sagte ich. Sie fragte: „Und das Monogramm?“ „Monogramm?“ Sie legte einen langen Kunstnagel links neben den Ledergriff: „Da. GM.“ Ich erschrak. Wieso war ich nicht selbst darauf gekommen? „Woher wissen Sie..?!“ wollte ich fragen, aber ich fand keine Sprache. Der Koffer war nicht schwer. Drinnen rutschte was hin und her, das nach Schlüsseln klang. Ich stellte ihn auf den flachen Tisch der Sitzgruppe. „Es wäre mir sehr lieb“, sagte Martha, „wenn Sie unsere Show nicht mehr besuchten.“ Ich räusperte mich. Und noch mal. Dann: „Sie werfen mich raus?“ „Ich habe Ihretwegen s c h o n einen Freund verloren…“ „Sie haben was?“ „Man hat ihn in Ihrer Gegenwart erschossen.“ „Penn Plaza?“ Langsam faßte ich mich wieder. „Aber damit habe doch i c h nichts zu tun.“ „Es war Ihre Idee!“ „Moment mal…“ „Ich kann es es mir nicht leisten, diesen Ort zum Schauplatz fantastischer Intrigen zu machen.“ „Intrigen?“ „Seien Sie dankbar, daß ich den Koffer entdeckt hab. Hätte ihn Ihre Erfindung in die Hände bekommen…“ „Ich verstehe überhaupt nicht…“ Ich hatte den beklemmenden Eindruck, sie wisse mehr von mir, als ich selbst. „Mister,“ sagte sie, „Sie verstehen sehr gut. Und nun gehen Sie bitte.“ Mit beiden Händen griff ich je an die Schließen. Sie: „Nicht hier!“ Irritiert ließ ich ab. „Sagen Sie mir wenigstens,“ bat ich, „von wem Sie ihn haben.“ Sie sah mich forschend an, machte ein paar Kaubewegungen dabei. Dann sagte sie: „Leider bin ich manchmal zu menschlich und hole mir Feinde ins Haus.“ Es sah aus, als schaute sie wieder von dem Plakat herunter. Sah über Dächer. „Worauf warten Sie noch?!“ Sie dachte nicht dran, mir die Hand zu reichen. Verwirrt stand ich da. „Das s i n d doch Sie auf dem Plakat?“ fragte ich leise und ohne eigentlich eine Antwort zu erwarten. Da mußte sie lachen. Verzweifelt, so klang es mir. Sie sagte: „Das Foto, von dem Sie sprechen, ist vierzig Jahre alt.“ „Aber es zeigt S i e!“ Einen Moment lang trafen mich enorm stumme Blicke. Dann herrschte sie mich an: „Verschwinden Sie schon!“ Sie nahm auf einem der Sessel Platz und wartete. Die Gedanken hinter ihrer kantigen Stirn trauerten zu den freundlichen Wangen Momodou Dembangs zurück.
Vor der Ledertür wartete Lissy. Hatte sie gelauscht? Sie wirkte eingeschüchtert. „Haben Sie Angst, Lady?“ fragte ich. Sie: „Warum sagst du immer ‚Lady‘?“ Ich: „Hast du Angst?“ „Man weiß nicht, wer sie ist. Niemand weiß das. Aber ohne sie wären wir schon alle am Ende. Sie gibt uns Arbeit, Essen, mir hat sie sogar eine Bude gesucht. “ „Mich mag sie jedenfalls nicht.“ Lissy drückte meine Hand. „Übrigens“, sagte sie, „interessiert es sie nie, was wir sonst noch treiben.“ Das war deutlich, aber ich hatte momentan keine Lust. Wir bogen um die Flurecke. Lifttür Schalter Drehkreuz Showroom. Talisker.
Ich spontan einen Schritt zurück.
Natürlich wäre es jetzt die Gelegenheit gewesen. Wie hätte er gestaunt, hätte er den Koffer gesehen! Doch nun interessierte mich selbst, was er enthielt. Deshalb entschloß ich mich um. „Habt ihr einen Notausgang?“ „Die Stiege… Wieso?“ Ich drückte ihr meinen Rest Eindollernoten in die Hand. „Du bist süß“, sagte sie. Zauderte, sah ebenfalls zu Talisker rüber; ihre Hand in der meinen wurde für den Moment feucht. Sie gab sich einen Ruck: „Gut, es sind ja nur drei Stockwerke.“ Sie schob mich hin und dann hinaus. Als sie mich küßte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen.

Es waren von Legz Diamond’s zu Aladdin’s zehn Straßen zu gehen. Nämlich ließen mich die unbeleuchteten Stufen nicht auf die 54th, sondern 55th St hinaus. Und das auch nicht sofort. Sie endeten in einem weiten Entree, das mir, als ich im anflackernden Neonlicht stand, seltsam bekannt vorkam. Sirren schmale gerade meterlange Streifen Lichts. Vor allem dieser Geruch nach er­wärmtem Plastik und Metallgeländer! Es war fast wie… – – früher?: Schauderhaft! Was waren das für Lifts? Voll Mißtrauen stand ich vor den fünf milchverglasten alten Wiener Holztüren, über denen gelbgrüne Stati­onslichter glommen. Auf den Rahmen klebte schmutzige Hitze. Überaus langsam, gleichsam in Tropfen, fiel Kühlung hinein. Neben den Schächten Pfützen, die sich aus dem Luftstrom der Klima­anlagen kondensierten. Trotzdem stand die Schwüle bis unter die Decke wie Teig. Nur wenn jemand, was ich jetzt, sozusagen fliehend, tat, die Tür öffnete, schickte das einen Schwall Frische herein. Dann wurde die feuchte Hitze locker und samtig. Draußen indes immer noch der kalte, am Schachtgrund umstehender Hochhauswände sich versprühende Nieselregen. Auch der atriumartige, heruntergekommene Hof, auf den ich hinaustrat, war mir nicht gänzlich unbekannt. Er schien auf einer Brache angelegt; auch hier hatte mal ein Haus gestanden. Vielleicht war es abgebrannt oder abgebrannt worden, dem Schicksal zahlloser Brownstones gleich, deren Eigentümer die Kosten nicht mehr aufbringen konnten. Wie schwer hing der Koffer an meinem Arm! Rechts die Reihe blechener, geputzt silberstrahlender Mülleimer und links, gleichsam ängstlich ans Hausgefälle gepreßt, Gartenstühle zwischen Pflanzenkübeln und Plastikzwergen. Schwindelnd hoch droben faßten die Dächer beinah zusammen, nur ein Fleckchen Graus war vom Himmel zu sehen. Und aus diesem herab wehte der dünne Sprühregen wie sinkender Altweibersommer. Aus dem Hof führte eine eigenartig verwahrloste Holztür, die durch einen Bauzaun… nein, eben nicht auf die 55th Street, sondern die Calle dels Escudellers führte. Ich war nun wirklich im falschen Buch. Und tatsächlich – gleich an der Pforte – grob aufs Holz geleimt:

Also umkehren und, übern Hof zurück, wieder ins Schattenwasser hinein. Geradeaus zum Haupteingang durfte ich auf keinen Fall; es hätte meiner alten Heimat Frankfurt am Main zwar geschmeichelt, angedockt an New York City zu sein, aber ich wollte nichts riskieren. Tatsächlich führte eine Kammer rechts in einen jener nüchtern engen Gänge, die man sowohl in Krankenhäusern wie Funkanstalten findet. Putzzeug, Eimer, riesige Poliermaschinen für Marmorböden, aber auch Stative, Hunderte schräggekippter Scheinwerfer mit Blenden und Armeen kniehoher Kabeltrommeln standen herum. Links und rechts, in Abständen, gab es mattbraune Glasscheiben, durch die ich nicht hindurchschauen konnte, doch ich war überzeugt, dahinter sind die Tonateliers. So ging es über Hunderte von Metern. Eine Brandschutztür verschloß das Ende des Gangs. Ich legte eine Hand auf die Klinke, drückte sie. Zog. Mußte zerren, bis sie sich endlich drehte: als hielte die Tür ein Vakuum fest. Ich kriegte sie auch nur grad so weit auf, daß ich durchschlüpfen konnte. Schon knallte sie mit einem Krachen, das hätte Schaufensterscheiben zerspringen lassen, hinter mir zu. Ich stand im Foyer eines anderen Hauses. Rechts eine revolving door… hindurchgedreht und ins Freie. Immer noch fiel Regen, nun aber dicht und real. Unweit eilten, die Köpfe gesenkt, paar Nachtschwärmer heim. Andere falterten noch, unter mattrot glimmenden Plastikmarkisen, um „Deli“ genannte Kreuzungen aus Imbiß und Sparmarkt. Es war nach zwölf. Ich erstand ein Bier. Die Straßen zum ALADDIN’S entlangschreitend, drückte ich die Packpapiertüte an mich, in die der Verkäufer die Dose hineingetan hatte. Am Hotel lag neben den Stufen, zwischen Wand und Elektrokasten, ein Mann auf seinem Bauch. Schlief vielleicht. War vielleicht tot. Es regnete auf ihn und das bißchen Pappe herab, auf die er dreiviertels gewälzt war. Ich machte einen langen Schritt. Es war Zeit, ins Bett zu kommen. Im Fahrstuhl riß ich den Verschluß auf, das Bier schäumte hoch, schäumte über Zunge und Blechrand, tropfte auf die Auslegware und den zwischen meine Füße gestellten Koffer. In drei Zügen trank ich die Dose leer.

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ANH, In New York, Titelseite <<<<
Alban Nikolai Herbst, In New York, Manhattan Roman.]