Tatsächlich hatte sich Talisker ein paar Stunden mit Clarissa vergnügt.

[Kapitel 31 & 32 <<<< dort.]

Die hatte sich gestern nacht, kaum hatte sich hinter mir die Stiegentür geschlossen, an den Neuen herangemacht. Da ich ihr entgangen war, drängte es sie zur schnellen Beute. Talisker nippte, befangen, schien’s ihr, von seinem Glas. Es war aber nichts als ein nächster innerer UmstellProzeß, was ihn so unterkühlt wirken ließ. In Wahrheit wallten die Säfte. Er hielt noch den Handzettel mit meiner gekritzelten Nachricht rechts zwischen Daumen und Zeigefinger, während er den Modellen zusah, die eine nach der anderen, über endlos langen Beinen, mit ihren kindsglatten Mösen vertikal lächelnd, Samtbäuche, Brüste, die Gesichter erlesener Mannequins, zur Stange lippizanten, um die sie eine Hand legten, sich hielten, sich schwangen. Zu ihren High Heels schneiten die Scheine.
Carmen, die Lissys Absicht bemerkte, tuschelte ihr zu: „Der läßt keine an sich ran.“ „Geizknochen“, kam es von Jane. „Ich glaub“, so Jackie, „bloß verklemmt.“ Wenn der Schuppen leer war, hingen die Frauen wie Trauben an den wenigen Gästen. Lissy drückte die Brust raus und wurde Clarissa. „Guten Tag, Sir“, sagte sie, was natürlich ungewöhnlich war. „Sind Sie geizig?“ Er sah hoch und fragte grob: „Willst du mich anmachen?“ „Das ist mein Beruf, Mister. – Was hast du da?“ Augenschlag auf den Zettel. „Ach so…“ Sie nahm ihn aus seiner Hand, faltete ihn und steckte ihn ihm neckisch in die Hemdbrusttasche. Dann zog sie einen Stuhl neben ihn und setzte sich. Fingerte zu Taliskers Zigarettenschachtel auf dem CaféTisch. „Ich darf doch?“ Beugte sich vor, halbschräg, das bot ihm Einblick ins Dekolleté. „Gibst du mir Feuer? Sie dürfen mir übrigens etwas bestellen.“ „Und wenn ich nicht will?“ „Mister, du willst.“ Er mußte lachen. Ihre Dreistigkeit gewann ihn. Sie drückte ihm sachte ihre linke Hand auf die Brust. Ihr rechter Unterarm legte sich um seinen Nacken, ihre Lippen berührten seinen linken Mundwinkel. Clarissas Zärtlichkeit war so innig professionell, daß der Zweifel daran, er könne gemeint sein, für Talisker ganz hinfällig wurde. „Du riechst gut“, schnupperte sie, „ich kenne das Parfum nicht.“ „Bist du teuer?“ „Mögen Sie tanzen?“ „Hier?“ „Im Garden of Eden.“ „Was ist das?“ „Ich zeig es dir. Laß mich erst die Zigarette zu Ende rauchen.“ Er nahm, sich zurücklehnend, einen Schluck von seinem Bier. Karin gab es nicht mehr. So lebendig wie heute hatte er sich seit seiner Jugend nicht gefühlt. Clarissa indessen zwinkerte der schönen Gwendolyne zu, die sich unter ihrem Spagat Dollargaben darbringen ließ, wobei sie, hinten auf beide Hände gestützt und den dunkelbraunen Kopf ganz in den Nacken gelegt, so daß sich die gestrafften Brüste reckten, ihr indianisches Haar übern Boden strömen ließ. Die Freundinnen liebten ihren Beruf. Die Mestizin stammte aus Levittown, Long Island, ihre Mutter war eine der wenigen überlebenden Algonquin, der Vater ein Handelsreisender in Software. Die Geschichte zwischen beiden war nicht gut verlaufen, das Reservat verweigerte der Mutter nicht qua jure, aber de facto die Rückkehr, und Gwen hatte sich mit vierzehn fortgemacht. Clarissa hingegen entstammte einer Quäkerfamilie aus Chatham. Bereits mit neun hatten ihr nicht nur ihr eigener Vater, sondern sämtliche Väter auf eine das Gemeinleben ziemlich belastende, auf Dauer inakzeptable Weise gefallen. Das änderte, sie wurde gerade elf, die Menarche nicht. Man schickte sie ins Internat. Doch unterrichteten dort Lehrer. Aus dem nächsten, einem nur von Frauen betreuten Mädchenheim, haute sie ab. Furchtbare Jahre folgten. Mit achtzehn floh sie in die Arme des netten dicken Mr. Thimbles. Hoffte inständig, seine brave Güte werde sich als schützender Wall vor ihre Veranlagung bauen; tatsächlich wäre nichts geeigneter gewesen, ihre Lüsternheiten zu ermüden, als die samtige Altväterlichkeit, in welcher der einfache Mensch das hübsches Weibchen wärmte. Doch der Heiland hörte nicht auf das Gebet, das für Clarissa ihre Ehe w a r. So daß sie, indem sie den ignoranten Gott wieder floh, auch den bedauernswerten Gatten ließ; vollen Herzens und wie befreit war sie in Bills, eines humaneren Erlösers oder Versuchers, Arme gestürzt. Als der sie fallen ließ, wäre sie beinah wirklich gefallen. Doch Mrs. Martha fing sie auf. Nahm sie gegen vice squad und Krankheit in Schutz. So ging es ihr gut, weshalb sie sich nun ausgesprochen gerne mit Talisker zurückzog, um ihrer Bestimmung erst im EdenGarten und später in einem der hübschen Gemächchen zu dienen.

Sie liebten sich bis halb drei. Dann schlief Talisker ein. Und träumte von dem Safe. So war er ganz dankbar, daß Clarissa ihn wegschicken mußte. Er gab ihr 200 $. „Bist du reich?“ „Ein Gangster.“ Sie lachte. Die Antwort gefiel ihr. „Kommst du wieder mal in die Gegend?“ Er sah sie, ohne zu antworten, an. Dann nahm er den Fahrstuhl hinab in die Nacht, gab dem Türsteher draußen ein Trinkgeld. Richtung Broadway schritt er davon und pfiff sich, seine Beine schmerzten, die erstbeste Taxe. Um Times Square funkelte Absackerleben. Doch den Mann ergriff nun wirklich das Zeitlag. Er war seit mehr als 21 Stunden… schon gut: auf den Beinen nicht n u r… und schlief nun – eingekeilt zwischen Safe, TV und air condition – in seinem HERALD SQUARE HOTEL wie das geflügelte Leben. So auch war das Puttchen geheißen.
Morgens dann, er hatte es sich gerade vor zwei Pancakes bequem gemacht und schickte sich an, sie mit Ahornsirup zu bekleckern, kam, rotverquollener Augen, abermals der dicke Mr. Thimble auf ihn zu. Er vermisse sein Frauchen zu sehr. Hätte Talisker ihn exportieren können, er hätte den Menschen zu seiner heileheileGänschenFamilie nach Tettnang geschickt. Morgens bereits derart viel Unglück: das m u ß t e einen ärgerlich machen. „Sein Se mal ein bißchen straff!“ Das beste wäre, man raubte Mr. Thimble aus in Manhattan und schlüge ihn so windelweich, daß er endlich begriff und der Stadt für immer den Rücken kehrte. Er würde sich schon erholen in Hudson, N.Y.
Der Dicke drehte beschämt den rechten Ballen am Boden.
Talisker ließ die Gabel laut auf den Teller fallen. „Okay“, sagte er, „wenn Sie jetzt lieb sind und mich in Ruhe frühstücken lassen, können wir uns heute nacht treffen.“ Strahlen übers Rotgewangte: „Wirklich?! Das ist so nett von Ihnen! Sie können sich gar nicht vorstellen…“ „Aber,“ sagte Talisker, „Sie bezahlen“ „Was immer Sie wollen!“ „Bringen Sie so viel Geld mit, wie Sie haben. Ihre Frau ist gierig.“ „Sehr gerne, sehr sehr gerne, Mr. Talisker.“ „Wir treffen uns dort um halb zwölf…“ Mr. Thimble, mit leichtem Entsetzen; „Drinnen?“ „Vor dem Eingang.“ Mr. Thimble atmete auf. „Ich werde da sein. Sie können sich auf mich verlassen.“ „Dann lassen Sie mich jetzt allein.“ „Natürlich, Mr. Talisker, gerne, Mr. Talisker.“ Und das Schlachtopfer ging.

Es gab Geschichten, die sich die Tänzerinnen erzählten. Etwa: In Wirklichkeit ist Martha uralt. Ich war ja nicht der einzige, der das Gap-Khakis-Plakat gesehen hatte. Jeder sah es. Und jeder machte sich seinen eigenen Reim darauf. Ganz geheuer war deren keiner. Und dann! Nicht nur Models und Kunden verkehrten hier, sondern es mußte hinterm Manager Office noch einen weiteren Raum geben, den man durch eine Geheimtür betrat. Oft erschienen Frauen zur sogenannten Vorstellung; doch bewarben die sich nicht. Jedenfalls nicht zwanzigdreißig auf einmal. Auch stand von denen nie eine hinterher auf dem Steg. Klopfte man dann an im Büro, gab es meist keine Antwort. Wenn aber doch, dann waren drinnen die Frauen irgendwie weg. Carmen schwor, sie seien bewaffnet, r i c h t i g bewaffnet, nicht nur mit Gaspistolen. Auch Jackie hatte mal ein AutomaticGewehr auf dem Schreibtisch gesehen. Übrigens bemühte sich Martha nicht, vor ihren Tänzerinnen besonders geheimzutun. Sie sprach bloß nicht über das, was hinten vorging. Und erwartete, nicht gefragt zu werden.
Vor anderthalb Wochen war ein berüchtigter koreanischer Schutzgeldpresser erschienen. Lissy hatte ihn zu Martha begleitet. Er war nie wieder herausgekommen. Beziehungsweise – so kursierte das Gerücht – in Teilen. Die Zunge voran. Auf Styropor. Martha habe das Päckchen per Taxikurier an eine Adresse in Flushing, Queens, geschickt. Der Fahrer sprang in den Wagen, neben ihm auf dem Sitz die Sendung zigarettenschachtelklein. Der Wagen startete, überquerte Broadway und 7th Ave, bog in die 6th hoch bis Central Park South, die Prachtlane aus Charlston und Glamour immer entlang bis über die 59th unterhalb Upper East, Luxusapartments, gigantisch-romantische Hauskomplexe, Schmiedeeisen. Madison Ave Armani Uomo Guggenheim LAUREN, Museum of Modern Art. Die riesigen Affichen um Bloomingdale’s predigten, umgekehrt proportionale Leninplakate, den Konsumismus als demokratischste Botschaft des HErrn. 20000 $ Nebenkosten, monatlich, das waren nicht zuviel für Apartement und hausinterne Infrastruktur. Schon ein ineinander Verschachteltes Quader schon Dreck. Letzte Glaskästen sich stauende Autos Häuserwinkel. Schon auch das Taxi stop and go. Mehr stop. Eine schwarze Obdachlose im Kircheneingang, ver­packt in die Decke, blaue Pudelmütze auf. Orangener dicker Pullover. PROPERTY OF US POSTAL SERVICE stand auf dem jutefarbenen Leinen, das neben ihr den hüfthohen Karren bespannte. Braune Mülltüten reingestopft. Was t a t sie da? Probte sie? Spielte auf einer Oboe, die man nicht sah; nur ihre Finger, in durchbrochenen Wollhandschuhen, sah man über die imaginären Klappen jagen. Die Frau hatte ihre Sneakers ausgezogen, auf dieser Schwelle war sie daheim. Sie standen sorgfältig daneben, sozusagen auf dem Flur.
Ruckweise ging’s Stückchen weiter. Dann hochgefädelt zur Queensboro Bridge, über welcher die Seilbahn. East River West Channel – das öde Roosevelt Island drunten – East River East Channel. THED LOVES JACKY stand drüben links Aufbau braune Mietssilohäu­ser. Geduldig las ein Busfahrer, bis Grün kam, seine Zeitung. Das Taxi steuerte geradeaus weiter. Als schwere Silhouettenmasse blieb Manhattan zurück. Skillman Ave, wildes Gehupe, Kreuzung, schon kilometerlang die Roosevelt Ave, die ständig ihr ethnisches Gesicht veränderte, drüber die Stadtbahn. Geschäfte Läden in Woodside die Kneipen noch irisch, schon Mambo Samba bisweilen ein Tango. Frische aufgeschlagene Kokosnüsse und Zuckerrohrsaft in Jackson Heights. Indiogesichter dann Indergesichter. Holzwände Verzierungen, stacheldrahtverschanzte UBahnhöfe WachschutzHunde HALLELUJA CHURCH SUPLLY. Bus-Chaos Main Street. Asiaten, die aus Papiertüten aßen. Das Taxi hielt vor Parks Dofu. In der Rechten das Päckchen, gab der Hintern des Fahrers der Autotür einen Schubs und die Sendung vorn am Empfang ab. Dann fuhr der Fahrer wieder davon.
Im Hinterzimmer verzehrte Mr. Dong Pyo P. den ersten Gang seines Mittagsmahls. Dabei sah er dem appetitlichen Sterben des zweiten zu: einer noch lebenden Forelle, die der Spieß pedantisch drehte. Als der Fisch ein letztes Mal bäumte, soweit Rückengräte und Tischgrill erlaubten – seine Augen wurden glasig -, stellte der Diener das Päckchen zu Schälchen und Plättchen und Stäbchen.


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Alban Nikolai Herbst, In New York, Manhattan Roman.]