[Rive gauche, 9.09 Uhr
Bach, Chaconne aus BWV 1004)
Nahezu alle anderen Prinzipien und Werte sind disponibel geworden. Religion als >>>> Soma dort (>>>> „ Opium des Volkes“) , Konsum als Soma hier. Im Googlefall Dennis Coopers erleben wir eine Neuauflage dessen, was einmal „doppelte Moral“ hieß, nun aber – eine Parallelerscheinung zu „Geiz ist geil“ – in der akzeptierten (affirmierten) Form gesellschaftlicher Opportunität. (>>>> Phyllis Kiehl bemerkte gestern sehr richtig, daß in den jüngeren Generationen nicht etwa mehr gesagt werde „Ich kaufe mir dies und das“, sondern „Ich hole mir dies und das“. An der Sprache ist, was geschieht, zu allererst zu merken.)
Anders freilich als besorgt Herr Reichwein meint, der sich auf einen Artikel Clemens Setz‘ in der taz bezieht, sehe ich eine Gefährdung Der Dschungel indessen n i c h t, allenfalls eine durch mich selbst, der ich doch immer mal wieder mit dem Gedanken flirte, Die Dschungel gänzlich aufzugeben – sie nicht zu löschen, nein, sondern als notwendigerweise unvollendet-vollendetes Projekt im Netz stehenzulassen. Es sind mir in den anderthalb Jahrzehnten, die es nun auf dem Buckel hat, einige Seelenspäne gefallen, und außerdem ist diese Form der öffentlichen Darstellung durchaus nicht ohne faktische Risiken, wie meine allhierigen Trolle zu beweisen nicht nur anstehn, sondern dieses oft in langer Reihe: Wie können wir diesem Menschen schaden?
Für mich geht also die Gefahr entschieden nicht von Google aus, sondern von solchen, die sich dem gesellschaftlichen Konsens, der auch eine Art Fundamentalismus ist, längst eingefügt haben und Abweichler maßregeln wollen, gerne zum Beispiel durch gezielte Denunziation oder Diffamierung, ja sie – also jene – am liebsten g a n z ausknipsen würden – mithin, so kann man sagen, von Googles Fußvolk; wobei „Google“ hier nicht das tatsächliche Unternehmen-selbst, sondern ein Prinzip meint, vermittels dessen die allgemeine Äquivalenz zustande gebracht werden soll und zu großen Teilen zustandegebracht bereits wurde. Wir, die wir dagegenstehen, sind nur noch wenige, auch wenn die andren es nicht wissen. Und „doppelte Moral“ bedeutet, daß nicht mehr geraucht, sehr wohl aber gefoltert werden darf. Ein „schönes“ Beispiel ist Barack Obama: Er raucht tatsächlich nicht mehr.
(Aber „an sich“ hatte ich heute wieder über Musik schreiben wollen. Nun kam mir Marc Reichwein dazwischen. – Na gut, der Text ist entworfen und folgt in den kommenden Tagen.)
Nichts scheint schwerer aushaltbar zu sein als Ambivalenzen. Nichts indessen bestimmt so sehr, ob man erwachsen wurde, wie eben dies. Der Markt freilich will den Regreß, und er bringt ihn hier ebenso zustande wie dort der religiöse Fundamentalismus. Man kann durchaus sagen, die beiden seien ebenso die zwei Seiten derselben Medaille wie daß dieser jenes Folge sei, nämlich seiner Geschichte aus dem vergangenen Kolonialismus und seiner Entwicklung zur globalen Hegemonialpolitik des Westens.
Quer steht dazu nur die Kunst – und zwar eine, die sich nicht auf „Quote“ einläßt, sondern dem Entertainment spinnefeind bleibt. Den Vorwurf, elitär zu sein, muß sie da notgedrungen tragen; ja er ist fast eine Auszeichnung: siehe Jarretts Beharren auf seines Publikums Ruhe und Konzentration.
Schon erstaunlich, wie Die Dschungel nun >>>> abermals mit Clemens Setz in Verbindung gerät. Vielleicht sollte man sich einmal treffen.
[À midi]
[16 Uhr
Aus der Arène de Lutece schallt eines Sängers Stimme herüber,
zu einigem Jubel]
Eine kurze ästhetische Überlegung zu Cooper jetzt >>>> dort.
Am Vormittag noch, östlich der Gare du Nord, glitt die schönste Schwarze, die ich jemals sah, an mir vorüber; es war wie eine Erscheinung. Wieder rive gauche zurück, die ersten Verse eines neuen Béart-Gedichtes dazu notiert:
(…)
zu Cooper: Da ich gerade >>>> die Kommentare zu Reichweins, vor allem aber die sehr viel ergebigeren des Artikels von Adrian Lobe >>>> bei FAZ-online lese: Selbstverständlich habe ich für Die Dschungel jeden Beitrag in einem eigenen Odner getrennt archiviert; ich bin unterdessen bei der durchlaufenden Nummer 18151. Zugleich gibt es davon 1:1-Kopien in der Cloud. Und dazu parallel läuft die Archivierung durch Marbach und Innsbruck. In der Tat scheint es mir entweder zum Kopfschütteln naiv vom Künstler zu sein, für solch eine Sicherung nicht Sorge zu tragen oder getragen zu haben – oder aber, es gehört genau dies zu Coopers Konzept. Er wäre nicht der erste, mit Vergänglichkeit – oder drohender Vergänglichkeit – ästhetisch zu spielen. In der Bildenden Kunst war dergleichen einige Zeit lang sogar en vogue. Und Jacques Rivette hat einen großartigen Film, nach einer Novelle Balzacs, aus einem ähnlichen Motiv gedreht.
Nahezu alle Artikel, die auf den Cooper-Fall hinweisen, rekurrieren mehr oder weniger auf den Aufsatz >>>>>>> von Jennifer Krasinski im New Yorker. Cooper selber schreibt auf Facebook, dass er über den Fortgang der Angelegenheit Stillschweigen wahren muss, da sich Anwälte um die Sache kümmern. Sieht so aus, dass er die Daten wiederhaben möchte. (FAZ und andere tun ja soll, als seien sie verloren, was nicht erwiesen ist.) Im New-Yorker-Aufsatz steht übrigens, dass Cooper den Blog seit 2006 betreibe und sein vorheriger Blog von Hackern zerstört worden sei. Dass man mit einer solchen Erfahrung keine Datensicherung betreibt, ist schon sehr merkwürdig.
@Keuschnig. Irgend etwas ist schief daran; das ist auch mein Eindruck – zumal das erste, was wir alle oft bitter lernen mußten, als wir uns überhaupt dem Computer-als Schreibgerät zuwandten, die Datensicherung war (damals, als 20 M!!!B für riesig galten, mindestens täglich einmal). Sowas geht, zumal dann im Netz, in Fleisch und Blut über. Und wie gesagt: Ich numeriere sogar durch. Allerdings können Gastbeiträge verloren gehen, die ich ja schlecht als „eigene“ archivieren kann; Kommentare hingegen gehören je zu den Beiträgen hinzu und werden so auch miterfaßt.
—–> Der Blog von Dennis Cooper ist übrigens längst wieder online. Scheinbar ohne Archivverluste. „Gelöscht“ war wohl nichts. Hat Herr Setz jemals auf diesen Sachverhalt hingewiesen?
@Keuschnig. Meines Wissens nicht, aber ich „verfolge“ seine Arbeit auch nicht. In jedem Fall danke für die Information.
Ihr ANH