Man kann gar nicht grundlegender irren als etwa Georg Klein in seinem klug austarierten, alle moralischen Risiken meidenden >>>> Artikel in der Süddeutschen tat, der bei diesem Roman eine „Sprache des Bösen“ vermißt und doch zugleich sieht, daß es sie nicht geben kann. Die Wahrheit ist ja eben, daß ein substantielles Böses A u s r e d e ist. Es gibt nur sein >>>> Banales. Oder, um es mit einem literaturkritischen Begriff zu belegen: das Triviale. Deshalb ist hier ein literarischer Realismus ausgesprochen angemessen, zumal dann, wenn er auf höchstkünstlerische, nämlich derart collagierte Weise hergestellt wird. Littells Buch behauptet jede metaphysische Komponente des Bösen hinweg, d a s ist sein Skandal. Die Art, in der bei einer Massenerschießung, deren Entgleisung in eine Schlamm- und Blutschlacht Aue „dilettantisch“ nennt (S. 126), von der Erzählung der Greuel selbst zu dem den Erzähler sehr viel mehr bewegenden Umstand geschaut wird, daß er sich Splitterchen unterm Fingernagel zugezogen hat, die ihn pieksig quälen, ist ein ausgesprochen genaues Psychogramm des sogenannten Bösen, das eben letztlich nichts anderes als ein Sichfortbewegen allgemeinmenschlicher Befindlichkeit auf den Schienen der Vernichtungsindustrie ist, die man „eben mitmacht“, und zwar durchaus im Bewußtsein, es handle sich hier um ein Unrecht. „Bei Tisch, am Abend, diskutierten die Männer über die Aktionen, erzählten sich Anekdoten, verglichen ihre Erfahrungen, einige bedrückt, andere fröhlich.“ Bekanntlich ist Lachen eine Form der Reaktionsbildung auf nicht oder nur kaum Verarbeitbares. „Wieder andere schwiegen, auf sie“, weil ihnen keine Form der Abwehr zur Verfügung steht, „galt es zu achten. Es hatte bereits zwei Selbstmorde gegeben (…)“ (S.126). Hier ist es erst noch der ukrainische Mob, der, von der deutschen Propaganda dazu „verführt“, das Massenschlachten betreibt. „Die meisten von ihnen hatten gegen die Polen gekämpft, dann gegen die Sowjets, sicherlich hatten sie von einer besseren Zukunft geträumt, für sich und für ihre Kinder, und jetzt fanden sie sich in einem Wald wieder, in einer fremden Uniform, und damit beschäftigt, Menschen umzubringen, die ihnen nichts getan hatten, ohne einen Grund, den sie hätten verstehen können. Wie mochten sie darüber denken?“ Aue selbst denkt darüber ablehnend, macht aber, wie die anderen, mit. „(…) wenn man es ihnen befahl, drückten sie ab, stießen die Leichen in die Grube, führten die nächsten herbei und protestierten nicht. Wie würden sie später über all das denken? Wieder hatten sie geschossen. Jetzt wurden Schmerzensschreie aus der Grube vernehmbar. ‘Verdammte Scheiße, da leben noch welche’, knurrte der Hauptscharführer“ (S. 124). Nein, es g i b t sie nicht, die Sprache des Bösen, weil ein metaphysisches Böses eben nicht wirkt. Statt dessen wirken dieselben Strukturen, die Kassiererinnen bei ALDI Weisungen von Vorgesetzten unwidersprochen ausführen lassen, auch wenn sie widersinnig sind, und die uns auch selber, uns Intellektuelle, korrupt werden lassen. Es wirkt darüber hinaus eine Angst, und es wirkt die Struktur des Militärs-an-sich, das sowieso auf Widerspruchslosigkeit zurichtet. Es wirkt zudem eine Gruppendynamik, die man auf jedem Woodstock beobachten kann, nur daß die Richtung sich umdreht: make war, not love. Im Prinzip ist es dasselbe. Dabei führt der Widerspruch einer inneren Moral zu der der äußeren Befehle zu vorgetriebenem Sadismus: um das Schrecklichste tun zu können, muß es eine Lust bereiten, in der sich das ÜberIch auflösen kann. Die Rezensenten, die aus anderen als ideologischen, bzw. gläubigen, die also aus politischen Gründen gegen Littells Roman geschrieben haben und die man deshalb, weil sie eben intentional sind, für keine Erkenntnisfindung heranziehen kann, sehnen ein Geheimnis des Bösen herbei. Mit diesem deutschen geheimsten inneren Wunsch räumt Littell auf. This is not a Gothic novel.
Das Böse, zumal deutscher Provenienz, geriert sich gern als Kantsches ‘Ding an sich’, insofern es unablässig auf sein Wesen hin befragt wird. Dabei soll die Suche nach dem metaphysischen Kern des Bösen nichts weiter als den Fragenden entlasten. Wovon? Nicht etwa von einer metaphysischen Schuld, sondern von der Bewusstwerdung der eigenen Banalität. Nachdem ich – dank Gregor Keuschnigs link – die glänzend gelesenen Kapitel im FAZ ‘Reading Room’ gehört habe, wird mir wieder einmal bewusst, dass das Geheimnis des Bösen eben darin Bestand hat, keines zu haben. Eine Tatsache, die vielleicht auch als kurze Definition des Banalen herangezogen werden kann…
Ja, es ist glänzend gelesen im “Reading Room”. (Ich äussere mich zum Thema selber nicht bzw. erst, wenn ich das Buch gelesen habe.)
@Keuschnig. Zum Verfahren. Ich äußere mich ganz bewußt, w ä h r e n d ich lese, um die Erfahrungen (und Gedanken) während des Leseprozesses mitvollziehbar zu machen und um eben n i c h t resümierend zu reagieren. Es mag durchaus sein, daß mein späteres Urteil jetzige Vor-Urteile revidiert oder über den Haufen wirft. Ich meine aber, daß es gerade interessant ist, in den Prozessen, die auch gefühlt werden, zu denken.
@albannikolaiherbst Finde ich ein interessantes Verfahren.
@Keuschnig. Das Netz hat für so etwas Platz – und die Zeit. Man kann eine Lektüre auch erst ein Jahr, nachdem man sie begonnen hat, abschließen; es kommt in gar keiner Weise auf Markt an. Die Ökonomie ist restlos gleichgültig, man kann sich hier den wunderbaren und förderlichen Luxus einer freien Entscheidungsfindung leisten. Und die Leser daran teilhaben, sowie, wenn sie mögen, daran mitwirken lassen.
@albannikolaiherbst ihren letzten kommentar finde ich ganz großartig: darauf mit nachdruck hinzuweisen, dass eine entscheidungsfindung zeit benötigt und nicht erst post festum bekannt gemacht wird, als ob dadurch irgendetwas stabiler werden würde…
meinungen und entscheidungen wachsen, und sie wachsen zu sehen (und vielleicht auch selbst wieder zu fällen) ist eine der fundamentalsten beweglichkeiten, die menschen sich leisten können.
noch viel zu wenig derartige transparenz ist im netz zu finden – ich danke ihnen, dass sie dafür eine lanze brechen.
»Zum Wohl!« wünschte er seinem neuen Bekannten. »Ich würde mich freuen, wenn sie mit mir auf meinem Boot noch anstoßen würden«, lud Cukurs seinen Kunden ein. […] In der winzigen Kabine seines Motorboots holte Cukurs ein Flasche heimischen Brandy und zwei Gläser hervor. »Zum Wohl!« wünschte er seinem neuen Bekannten. »Prosit«, antwortete Künzle, erhob das Glas. sein Trinkspruch hörte sich aufrichtig und ehrlich an, ganz als käme er von Herzen.
Cukurs hätte sich nicht grundlegender irren können. Er konnte nicht ahnen, dass sich Künzles Wunsch auf etwas ganz anderes bezog, nämlich auf Cukurs’ Tod. Und derjenige, der den netten Trinkspruch getan hatte. hieß auch nicht Künzle. Er war auch kein österreichischer Geschäftsmann, sondern Israeli, ein ehemaliger Offizier der israelischen Armee, der mit nur einem Ziel nach Brasilien gekommen war: den »Henker von Riga« ausfindig zu machen, der im Zweiten Weltkrieg persönlich für die Vernichtung von vielen Tausend Rigaer Juden verantwortlich war. Sein erklärtes Ziel war es, Cukurs’ Vertrauen zu gewinnen und ihn in eine Falle zu locken, in der das Todesurteil vollstreckt werden sollte, das »diejenigen, die niemals vergessen« über ihn gefällt hatten. Der »Henker von Riga«, der Verbrecher, der Verderben über Lettlands Juden gebracht hatte, war niemand anders als Herbert Cukurs.
Ich lese – auch aus Protest gegen den Aufstand um Littell – wieder einmal:
Der Tod des Henkers von Riga / Anton Künzle und Gad Shimron. Aus dem Hebr. von Christina Mulolli und Elisabeth Hausen, 1999 ISBN: 3-88350-048-8
für JakovK Ihre Haltung leuchtet mir ein. Aber geht es nicht um die Frage, wie jemand ein Cukurs werden konnte? Gibt Ihr Buch darauf ein Antwort, was ich viel wichtiger als Rache finde? Für mich als deutsche Betroffene ist genau das ganz entscheidend. Ich glaube aber, dass es auch für die Opfer entscheidend sein muss, damit sie oder ihre Nachfahren nicht wieder Opfer oder sogar noch selber Täter werden. Darum geht es doch. Oder habe ich das alles falsch verstanden? Wie verhindert man Wiederholungen?
Mal Nazi sein. Ich finde es schon verständlich, wenn man sich komplett unwohl damit fühlt, wie sich, umso weiter das Dritte Reich und seine Schergen in die Nebel der Vergangenheit rücken, mehr und mehr die Heutigen sich auf verschiedenste Weise mal darin versuchen, in die Haut von Nazis zu schlüpfen. — Für mich persönlich (1972 geboren) war SS-Scherge eine von vielen möglichen Optionen beim ›Bösewicht‹-Spielen, und meine popkulturelle Prägug hab ich da mit dem ersten »Indiana Jones«-Film weg, wo die vielleicht ›coolste‹ Figur dieser gemeine Sadist ist, der sich die Hand am ägyptischen Amulett verbrennt und der beim Zusammenstecken seines Reisekleiderbügels Horror (und dann Komik) erzeugt. — Ich denke, bei (Pauschal)-Ablehnungen von heutigen Fiktionen, in denen das III. Reich und seine Protags Design-Folie für ›das Böse‹ dienen, gehen mindestens zwei Sachen durcheinander: Zum einen die angesprochene essentialistische Vorstellung eines wie auch immer personalisierten Bösen (und sei es eine unheimlich leuchtende Kugel, wie im Zeichentrickfilm »Heavy Metal«), und die entsprechend hierarchisch strenge Deutung der Offenbahrungs- und Deutungs-Prophetie zu diesem substantiellen Bösen; zum anderen das Tabu mit dem Dritten Reich fabulatorisch ›zu spielen‹. — Nichts dagegen, dass verurteilt wird, wenn seichte Verharmlosung und nachträgliche Glorifizierung Hand in Hand gehen. Wenn aber (über)-empfindliche Gemüter aufheulen und alle Welt abhalten will, sich z.B. »Der König der Löwen« (A shinig new era is tiptoeing nearer), »Endstufe« (JUST DO IT! — Do what?) oder »Hellboy« (was für ein schönes Bild des perfekten SS-Killers: der uhrwerksmechanische magische Nazi-Golem) zu gönnen, dann seufze ich immer, denn hier hat ungeschickte Lese-Inkompetenz zum überreagierenden Urteil geführt. — Ansonsten kann ich mich nur der bereits geäußerten Begeisterung darüber anschließen, dass Sie öffentlich und noch beim Lesen eines Buches Ihre Gedanken zu selbigen teilen. Sollte öfter gemacht werden.
Was Sie und Klein über den Roman schreiben, enttäuscht mich. Nach der Veröffentlichung in Frankreich und den ersten Reaktionen darauf nahm ich an, das σκάνδαλον des Buches bestehe in der Ästhetisierung des Schreckens, und malte mir aus, von Aue sei eine Figur in der Tradition von Senecas Atreus, Shakespeares Richard, Miltons Satan oder Lautréamonts Maldoror, denen allen gemeinsam ist, daß sie (mit anti-sokratischer (“Niemand tut Böses in vollem Wissen”) Stoßrichtung) die Strukturäquivalenzen zwischen der bewußt bösen Tat und der künstlerischen Produktion offenlegen und sich der inhärenten Handlungslogik der bösen Tat unterwerfen, so daß sie (zum Teil wenigstens) weitergetrieben werden, als sie selbst es wollen. Eine solche Figur in die Geschichte des Holocaust einzuführen, würde wirklich den lautesten Aufschrei der Öffentlichkeit rechtfertigen und mir gegenüber dem Mut des Autors den höchsten Respekt abnötigen (natürlich nur, sofern es exzellent geschrieben ist). Eine solche Figur würde die Banalität des Nazi-Bösen durch den Versuch, es ästhetisch zu betrachten, nicht rechtfertigen oder ihr einen Sinn verleihen (wie Stockhausen ja auch nicht die Attentate des 11.09. rechtfertigte), sondern die je eigene konkrete Handlung jenseits moralischer Kategorien zu verorten suchen (und dabei könnte sie großartig scheitern). Das wäre ungeheuerlich und faszinierend. So aber scheint mir von Aue eine Dutzendfigur der Literaturgeschichte zu sein, die ein weiteres Mal dazu dient zu zeigen, daß die Nazis böse, böse Menschen waren (was ja ehrenwert ist und wohl auch nicht oft genug gemacht werden kann, aber doch nicht die Aufmerksamkeit verdient, die Littell jetzt zuteil wird).
@Alderich Haschemuth. So aber scheint mir von Aue eine Dutzendfigur der Literaturgeschichte zu sein, die ein weiteres Mal dazu dient zu zeigen, daß die Nazis böse, böse Menschen waren.Eben das tut Aue bei Littell n i c h t. Er ist k e i n “böser Mensch”, und das wird auch sehr deutlich, wie ich u.a. >>>> im nächsten Notat angedeutet habe. Er ist im Gegenteil g e g e n das Massenmorden, macht es aber zugleich mit, organisiert es auch und versucht dann, eine Erklärung für dieses Mittun zu finden, die eigentlich eine Erklärung für sich selber und nicht etwa für irgendwelche Leser sind, die ihn (Aue, nicht etwa Littell) überhaupt nicht interessieren. Dabei ist es sehr deutlich, daß er keine metaphysische Erklärung finden kann, das heißt: keine Rechtfertigung. Was er bloßlegt, ist genau, was Sie fordern: die Verdeutlichung einer strukturellen Dynamik. Allein Aues Anspracheform, die biblischer Natur ist (Ich aber erzähle Euch, höret!), schafft die Verbindung zum Leser – und schafft sie auf eine in dieser Perspektive unerhört autoritäre Weise. Wobei meine Lesenotate fortlaufend während des Lesens niedergeschrieben werden (ich bin jetzt erst auf S. 231 von 1350) und sich die Bewertungen noch sehr ändern können.
Meine Rede von der Dutzendfigur ist vielleicht etwas zu harsch, aber auch Ihre späteren Lektüreerfahrungen und die hier gegebenen Erläuterungen räumen meine Vorbehalte nicht aus. Ich will versuchen, das zu verdeutlichen.
Sie schreiben: “Er ist im Gegenteil g e g e n das Massenmorden”: Genau das (und Vergleichbares in einigen von Ihnen angeführten Zitaten) stört mich. Zu einer Figur von außergewöhnlichem Format gehörte die Bejahung des eigenen Tuns (aus anderen Gründen als den amtlich vorgegebenen) bei gleichzeitiger Einsicht in die Schrecklichkeit der Handlung. Dieses emphatische “Ja!” kann nicht nur in der Ausführung der Handlung bestehen, sondern muß in der Affirmation ihrer nach außermoralischen Gesetzen erkannten Notwendigkeit eine intellektuale Verlängerung finden. Aber vielleicht ist das erst ein späteres Stadium in von Aues Entwicklung, nach Ihrer bisherigen Schilderung ist mir von Aue noch zu kleingeistig. Ich mache auf jeden Fall die Entscheidung für oder gegen den Kauf des Buches von Ihren weiteren Notizen abhängig, zum jetzigen Zeitpunkt neige ich nicht dazu.
Sie werden, Herr Haschemuth, hier keine Rechtfertigung der Menschenrechtsverbrechen bekommen, weder bei Littell, noch gar bei mir, und schon gar keine metaphysisch “geerdete” Bejahung des Unheils, zu der eine von Ihnen erwartete oder sogar geforderte (muß) “Affirmation ihrer nach außermoralischen Gesetzen erkannten Notwendigkeit” gehörte. Sondern Sie werden in diesem Buch mit dem deutlich erlebbaren Umstand konfrontiert, daß Sie selber, Herr Alderich Haschemuth, einer jener gewesen wären, der Säuglingsköpfe an Mauern zerschmettert, weil sie ein vorgeblich “unwertes Leben” haben… aber nicht, eben, nur Sie, sondern auch ich selbst werde damit konfrontiert, der Lektor wurde damit konfrontiert, der Verleger, der Kritiker, sagen wir, >>>> Knipphals… nur, was ein jeder von uns aus dieser möglichen Erfahrung macht, scheint sehr zu differieren. Sie werden damit konfrontiert, daß Sie selber zu den Folterern und Massenmördern gehört hätten, ohne daß Ihnen ein Ausweg in eine philosophische Rechts-Position bleibt. Gegen die steht immer der Schmutz, stehen die Exkremente, steht der gesamte Dreck des Leute-Umbringens. Das i s t nicht sauber und das läßt sich auch nicht abwaschen.
Es macht auf mich den Eindruck bestenfalls einer Provokation, wenn Sie Aues moralische Skrupel kleingeistig nennen; schlimmstenfalls klingt das aber nach einem, der nach präventiver Entschuldung, ja einem Ritterschlag für vergangene oder kommende oder einfach nur imaginierte Unmenschlichkeit verlangt. Es klingt nach einem, der gern das Zeug zum “Übermenschen” hätte. Wenn Sie d a nach Lektüre suchen, sollten Sie Céline lesen. Da finden Sie persönliche Gemeinheit genügend in höchste Kunst gebettet, um Ihnen das angenehme Gefühl zu vermitteln, einer von denen zu sein, “die das durchgestanden haben und trotzdem sauber dabei geblieben sind”. Doch ist das nur ein Gefühl, und zwar eines, das täuscht. In Wahrheit steht jeder Massenmörder bis zum Geschlechtsteil im Schlamm.
Was ich fordere, ist nicht Rechtfertigung (da bitte ich (nicht einmal genau, sondern überhaupt) zu lesen, es steht explizit in meinem ersten Beitrag) und Metaphysik, sondern einen literarischen Zugriff auf die Geschichte, der sein Verfahren als eine Vergewaltigung, einen gewalttätigen Akt der Setzung (was jede Fiktionalisierung, jeder Textproduktion nun einmal ist) auf der Textebene reflektiert – es kann keine Authentizität in einem literarischen Text geben (nur nebenbei: dies gilt, meine ich, auch für die Geschichtsschreibung, aber das ist eine andere Geschichte), den Holocaust in einer Fiktion zu verwenden, ist schon Gewalt. Ich fragte mich (und Ihre schäumende Fehllese wirft die Frage noch vehementer auf), ob dieses Verfahren für die Geschichte des Holocaust anwendbar wäre und warum wir es bei Seneca oder Shakespeare akzeptieren, dies bei einem Autor, der das Dritte Reich als Setting benutzte, aber wohl nicht täten. Warum darf Seneca einen Atreus darstellen, der seinem Bruder dessen Kinder zum Mahl vorsetzt und sich an seinem gelungenen Kunstwerk freut? Warum darf Richard als Schreiber und Regisseur der Gewaltorgie auftreten, die vor unseren Augen abläuft? Kann man sich solch eine Figur in der Nazizeit vorstellen? Bei keinem der genannten Autoren muß man das Böse metaphysisch rückbinden, um zu solch einer Interpretation zu kommen. Metaphysik wäre es, jeder einzelnen Handlung Sinn in einem großen Ganzen zu verleihen. Was mir vorschwebt, ist die Herausarbeitung der Parallelität von Kunst und böser Handlung in einer Figur, die jede ihrer Handlungen (mit all dem mit ihr verbundenen Dreck und in all ihrer Sinnlosigkeit, Sie scheinen bei mir einen sehr naiven, sterilen Kunstbegriff vorauszusetzen) nicht in moralischen, sondern ästhetischen Kategorien denkt – dies würde, glaube ich, den Schrecken nicht banalisieren, sondern zur Geltung bringen. Ich rede, wohlgemerkt, von einer literarischen Figur. Muß ich Ihnen, Herr Herbst, das Konzept der Fiktionalität erklären? Es gibt meines Wissens kein Gesetz, das einem Autor vorschreibt, sich mit einer Figur zu identifizieren oder auch nur zu solidarisieren. Eine solche Figur ließe in einem Roman immer noch genügend Möglichkeit zu Distanzierung (auch dies schrieb ich schon). Ich dachte, mit meiner ersten Bemerkung hätte ich einer solchen Interpretation meiner Worte, wie Sie sie anstellen, vorgebaut. Vielleicht ist es ja wirklich anmaßend, wenn jemand wie ich von jemandem wie Ihnen verlangt, was jemand wie Sie von jemandem wie mir einzufordern jedes Recht hat: zu lesen. Wenn dem so ist, bitte ich Sie vielmals um Entschuldigung.
@Alderich Haschemuth. Es mag sein, daß ich überreagiert habe; das hängt wahrscheinlich mit >>>> solchen und >>>> solchen Anwürfen zusammen, die mich in letzter Zeit zum Ziel genommen haben; auch >>>> meine kleine Auseinandersetzung mit dem FREITAG gehört in den Nexus, wie sowieso mein Herkunftsname. Nichtsdestoweniger glaube ich nicht, daß sich die Menschenrechtsverbrechen des Dritten Reiches zu einer, wie es Ihnen wohl vorschwebt, allegorischen Tragik eignen; das liegt meines Erachtens an ihrem industriellen Charakter und daran, daß es keine tatsächlich tragischen Führungspersonen gab; sie waren, von Goebbels vielleicht einmal abgesehen, von derselben Banalität durchdrungen wie ihre Schergen. Es waren, um es so zu sagen, Verbrechen der vereinigten Kleinbürgerschaft; das macht sie den stalinistischen Verbrechen so ähnlich. Syberberg auf der einen Seite wie sein Lehrer Bloch, und der früher, auf der anderen haben v e r s u c h t, ein tragisches Geschehen herzuleiten, aber eines, das zu den Verbrechen g e f ü h r t hat und die Verbrechen eben nicht mit einschließt. Sehr wahrscheinlich liegt dieser Ausschluß der Verbrechen an ihrer Allgemeinheit: daß eben a l l e beteiligt waren und daß es sich n i c h t um etwas gehandelt hat, das überhaupt einen Charakter besessen hätte. Marxistisch gesprochen, waren diese Massenmorde die reinste Äquivalenzform, der aber keine Form von Mehrwert abwarf; eher im Gegenteil. Darauf weist Aue durch Littell übrigens hin: wie sinnlos auch unter kriegsstrategischen Gesichtspunkten diese Massen-Abschlachterei gewesen ist. Das einzige, was es an – um es zynisch zu sagen – tragödischem Material gäbe, ist der Umstand, daß, wenn ein Volk seine Auserwähltheit vor allen anderen Völkern erklärt und ein anderes dasselbe für sich erklärt, der mörderische Konflikt imgrunde programmiert ist. Das ist jetzt aber nur mythisch, nicht faktisch argumentiert; faktisch waren die Opfer keine Auserwählten, sondern einfache Leute, Bäcker, Malermeister, Juristen usw. Und wenn man sich anschaut, welchen Anteil das Jüdische an der deutschen Kultur gehabt hat und immer noch hat, ist dieser Genozid, kulturell gesehen, sogar eine Art Selbstmord gewesen. Die Folgen davon tragen wir bis heute in Form einer grundsätzlichen kulturellen Selbstentfremdung. Hier wäre ein Tragisches in der Tat zu suchen, – aber eines, das kaum noch Menschen kennt, die es empfangen (verstehen) könnten.
Der Holocaust als Ganzes, als großangelegter und zur Ausführung gelangter Plan ließe eine solche Tragödie sicherlich nicht zu, weil Planung und Ausführung in verschiedenen Händen lagen; aber er besteht aus den zahlreichen einzelnen Handlungen Einzelner, mit jeweils spezifischen, nicht mehr nachvollziehbaren Motivationen. Jeder einzelne, von jedem einzelnen Täter begangene Mord, jedes einzelne Opfer ist historisch nicht-erklärbar (und, nebenbei bemerkt, eine solche Perspektive subvertiert gerade jegliche metaphysizierende Sicht auf das Ganze). Diesen Freiraum der Imagination des Unerklärlichen will Littell wohl besetzen, indem er die monströse Banalität des Ursprungs des Ganzen auf die Ebene des Einzelnen projiziert; das scheint mir (wie ja auch der Gang dieser Diskussion zeigt) der einfachere, unverfänglichere Weg zu sein im Vergleich zu dem von mir skizzierten, der die Unverfügbarkeit des historischen Geschehens in ihrem Recht beließe und sie als ästhetisch notwendige neu konstituierte.
@molosovski Immer wieder dieses Böse Was Sie über die Position des Bösen in Rollenspielen und populären Filmen schreiben, ist genau der Aspekt, der in der Auseinandersetzung bisher gefehlt hat: Mit fortschreitender Absorption des 3. Reiches von der Geschichte driften die Fakten in einen immer nebulöseren Bereich, werden imaginärer, so dass auch die Begriffe (siehe “Sprachfaschist”) ihr semantisches Gewicht verlieren und zum inflationären Gebrauch provozieren. Das sog. Böse ist ein komplexer Begriff, in dem sich alles Mögliche sammelt. Verbrechen, Grauen, dämonisierende Projektion und Hilflosigkeit. In der narrativen Gut-Böse-Konstellation, die zum erfolgreichst mythische Pattern aller Zeiten aufgestiegen ist, ist die Position des Bösen eine Leerstelle, die sich durch alles und jeden besetzen läßt. Von Gangstern, Aliens, Terminatoren, Viren, auf die Erde zurasenden Meteoriten, von Nazis und rassistisch motivierten Figuren sowieso. An dieser Stelle muss ich leider passen, weil ich den Litell nicht gelesen habe, fände es aber dennoch einer Frage wert, wieweit der Autor, der selbst Sohn eines Actionstory-‘Schreibers ist, diese fast schon in unsere Genetik eincodierten Medienmuster reflektiert, bzw. verinnerlicht hat.
@herbert hurka: Böse sein spielen ist u.a. ›süper-seksi‹ Meine heftigste Impression dazu, wie sehr das Dritte Reich bereits ganz normaler Funduskrempel geworden ist, und wie ›normal‹ und oftmals völlig harmlos es ist, wenn man mal den inneren Adolf raushängen lässt, war ein Kinobesuch (nebenbei: »300« auf Englisch) mit einer größeren Gruppe, darunter eine Handvoll jüdischer Teens und Twens beiderlei Geschlechts. Nach dem Film stolperten wir als kleiner Mob, fröhlich überdreht durch das mächtig überwältigende »This is Sparta!«-Spektakel, durch die Frankfurter Innenstadt. Die jüdischen Teens und Twens begannen recht bald, den martialischen Maximal-Pathos des Films über die antike Sphäre bis zum Dritten Reich auszudehnen. Da wurde übertrieben scharf-streng zackiger Befehlston angestimmt und Passanten schrecken auf wegen der ›Värrrrnüchtön‹, ›Äntsigg‹ und ›Vörgasen‹ Soundbites. — Ich konnte nicht anders, als mir denken, dass wohl auch unter den Familien der sich derart über-ironisch ausagierenden jüdischen Twens und Teen keine sein dürfte, die verschont geblieben ist vom Nazi-Gemetzel. Andererseits wußte ich, dass unter diesen wilden Jungjuden viele auch bis zum Selbstekel angewidert sind von der empörenden Siedlungspolitik des Staates Israel (und was damit einhergeht).
Ansonsten halte ich es, was Theorien zum Bösen angeht, mit der Sicht, dass ›das Böse‹ schlicht die Abwesenheit von Geduld, Mitgefühl, Respekt und Besonnenheit ist. So etwas wie ein substantielles Böses (das auf der Elemententafel wohl ein noch im Teilchenbeschleuniger zu entdeckender hyper-superschweres Kandidat ist, und somit ziemlich sicher eben wahnsinnig flüchtig) gibt es nicht, bzw. eben nur als für gewisse theologische Folklore-Institutionen notweniges Komplementär zum Höchsten, Herrlichsten, Besten, Gütigsten (der ebenso wie das substantielle Böse in personalisierter Form ein Fantasy-Roman-Charakter ist).
Um zum Buch zurückzukommen: Ich kenne bisher nur die im FAZ-reading room angebotenen Stückerl, zu wenig um mir ein Urteil zu erlauben, aber interessieren würde mich der Roman schon (ich warte, bis ich beizeiten in einem Antiquariat ein für mich erschwigliches Exemplar finde).
@molosovsky Im Zynismus ersäuft Das Böse gibt es schon. Und zwar überall, wo Verbrechen begangen werden, die keine “Sozialunfälle” sind – eben nicht allein dem Mangel, den Sie beschreiben, entspringen, sondern aktiv und wider besseres Wissen begangen werden. Bei den Mördern im Dritten Reich war das Bewusstsein dessen, was sie verüben wird, oft absolut vorhanden. So etwas muss man unbedingt als böse bezeichnen. Nur: Es ist immer ein Problem, wenn dieses empirische Böse von Moralisten instrumentalisiert und zur Denunziation benutzt wird. Moralisten, die, wenn sie losgelassen werden, im Zweifelsfall auch keine Bremsen mehr haben. Die Verlogenheit derartiger Filme aber auch die jener Gutmenschen, der Leute also, die sich immer schon in Sicherheit, weil auf der richtigen Seite der Gesellschaft fühlen, sollten die Fähigkeit, genau hinzusehen und genau zu benennen, nicht im Zynismus ersäufen.