Es ist nicht ausgestanden. Jonathan Littell. Die Wohlgesinnten. Lesenotate (4).

„Ich lese und lese“, schrieb ich >>>> gestern nacht noch, „merke zugleich mit der Spannung auch deutlich die Müdigkeit, die einem die Augen vor den >>>> Greueln zufallen läßt.“ Das widerfährt mir bei diesem Buch sehr viel stärker als bei sonstigen Romanen, wenn bloß die Aufmerksamkeit des Lesens nachläßt. Sie läßt hier n i c h t nach, sondern ich weiche in den Schlaf aus oder will das doch tun. Aber ich „spüre (…) genau: das ist eine Abwehr, die mein ÜberIch entwickelt und durchsetzen will. Wohinter auch eine Angst steckt“, die zweifelsfrei eine moralische vor der Identifizierung mit Aue ist. Denn tatsächlich fällt es, sofern sich der Leser einläßt, überhaupt nicht schwer, es sich in Aue „bequem zu machen“. Der Mann ist völlig plausibel dargestellt, und die Strukturen, die auf ihn wirken, sind es auch. Das gibt den Ungeheuerlichkeiten etwa der „Großen Aktion von Kiew“, bei welcher an die 150000 Menschen erschossen werden – am Rand einer Schlucht, in die die Erschossenen hinabfallen, oft noch nicht richtig tot, so daß Soldaten hinabsteigen müssen, um den noch Zuckenden, Schreienden, Jammernden den, wie sich Littell oft ausdrückt, „Rest zu geben“ -, etwas geradezu Normales. „Dabei war die Sequenz der Erschießungen schon extrem beschleunigt worden. Die Schützen wurden jede Stunde abgelöst, und wer nicht schoss, versorgte die anderen mit Rum und füllte die Magazine auf. Die Offiziere sprachen wenig, einige versuchten, ihre Betroffenheit zu verbergen. (S. 181)“ Das ist hier das ungeheuerlichste Stichwort: Betroffenheit. So gut wie alle Gebildeten, derer es nicht wenige gibt, wissen genau, welch ein Unrecht begangen wird, aber es kann sich kaum einer dem entziehen. Wenige laufen Amok, wie ein Offizier in Lettland, der, „verrückt geworden“ (S. 191), plötzlich auf seine Mitsoldaten schießt, weil sein Gehirn das Grauen nicht mehr mitmachen kann. Was Aue angeht, ist man an einen >>>> Colonel Kurtz erinnert, der den Weg in die dunkle Selbstüberhöhung (noch) nicht gefunden hat. Die Figur ist, anders >>> als mancher Kritiker schrieb, eben restlos glaubwürdig, und zwar g e r a d e, weil sie reflektiert. Jemand aus dem besinnungslosen Mob, der vorher orgiastisch in Sokal gemeuchelt hatte, wäre auch unfähig gewesen, solche Erinnerungen zu schreiben. Aue ist sogar hochgebildet; er ist musisch veranlagt, liebt Rameau und Couperin, Le Rappel des oiseaux, Les Trois Mains, er zitiert Platon, sogar Chesterton (S. 188), ausgerechnet, und denkt über das auf die Welt gefallene Grauen nach: „Mir schien es etwas ganz Entscheidendes zu sein, etwas, was mir, wenn ich es verstünde, erlauben würde, alles zu verstehen und mich endlich auszuruhen“ (S. 187, Hervorhebung und Unterstreichung von mir). Diese Bemerkung erdet die literarische Figur enorm, sie gibt ihr eine psychische Motivation. Nur einmal wird Aue selbst rasend, bis über die Unterschenkel durch den Leichenberg watend, weil er Überlebenden diesen „Rest“ geben soll, und es ist von höchstem und zugleich entsetzlichstem Geschick, wie Littell auf der Seite 184 das Bild des „Juden als Kakerlake“, das in >>>> Starship Troopers einen späten affirmativen Reflex gefunden hat, an eine Kindheitserinnerung Aues zurückbindet. Genau das, die kindliche Panik, dreht sich dann in dem Erwachsenen in eine Art Amok-selbst, nämlich angesichts einer schönen, auf dem Leichenberg sterbenden Frau – angesichts von Leben: „(…) denn ich wurde bei dem Gedanken an dieses sinnlos verschwendete Leben von einer ungeheuren, maßlosen Wut gepackt“, die sich jetzt eben n i c h t gegen die Mörder richtet, sondern gegen die Opfer: „…schoss unaufhörlich weiter, ihr Kopf war längst wie eine überreiche Frucht geplatzt, während mein Arm sich von mir löste und sich ganz allein durch die Schlucht davonmachte, hierhin und dorthin schießend, ich lief hinter ihm her“, hinter dem eigenen Arm also her, „machte ihm mit meinem anderen Arm Zeichen, er solle auf mich warten, aber er wollte nicht, er verhöhnte mich und schoß ganz allein, ohne mich, auf die Verwundeten, bis ich schließlich, völlig außer Atem, stehen blieb und zu weinen begann“ (S. 186). Das ist mit kältestem Kalkül geschrieben und weit von alledem entfernt, was diesem Buch als „widerwärtiger Kitsch“ vorgeworfen wurde. Was hier als Kitsch bezeichnet werden kann, ist nichts anderes als ein völlig adäquater Ausdruck von Hilflosigkeit, in welchem sich der Täter selber zum Opfer macht und als Opfer selber erschießt. Das kälteste Kalkül ist gerade nötig, wenn einer ein solches „Material“ zu einem Roman verarbeitet. Und darum, daß es sich um Material h a n d e l t, nämlich um ästhetisches Material, kommt niemand herum, der die Entstehung von Kunst, von Kunst überhaupt begreifen und nicht insgesamt untersagen will, daß über Greuel belletristische Bücher geschrieben werden. „Die Ortskommendantur hatte eine Batterie Feldküchen geschickt, und ein Militärpfarrer kochte“ (S. 181). Auch hier spürt man, worauf der Autor seinen Finger legt, aber ohne ein Wort nichtimmanenter Moral zu verlieren, das es dem Leser „einfacher“ machte, eine Distanz zu entwickeln.
Wie der Leser den Weg in die Identifikation mit Aue gehen muß, um dem Buch „gerecht“ zu werden, wie er also selber imaginärer Teil der Vernichtungsindustrie werden muß, geht Aue den Weg der Identifikation mit der Hölle, eine psychische Bewegung, die bereits in >>>> Pasolinis Salò eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat: „Seit meiner Kindheit trieb mich der leidenschaftliche Wunsch nach dem Absoluten und nach Grenzüberschreitung; jetzt hatte mich diese Leidenschaft an den Rand der Ukraine geführt. Ich war immer bestrebt gewesen, radikal zu denken; nun hatten auch der Staat, die Nation die Radikalität und das Absolute für sich entdeckt; wie also hätte ich mich in diesem Augenblick verweigern, Nein sagen und mich stattdessen für die Bequemlichkeit der bürgerlichen Gesetze, die laue Sicherheit des Gesellschaftsvertrages entscheiden können? (…) Und wenn sich die Radikalität als die des Abgrunds und das Absolute als das absolut Schlechte erwies, so galt es trotzdem (…), ihnen offenen Auges bis zum bitteren Ende zu folgen“ (S. 138). Das ist eben n i c h t nur dahergesagt, das wird ja auch – und wurde n i c h t nur im Roman – so getan. Daß Radikalität auch bedeuten hätte können, in den Widerstand zu gehen, und zwar in einen Widerstand von allem Anfang an, für diese Erkenntnis ist es für Aue in der Ukraine längst und objektiv zu spät.

Es gibt in >>>> Georges Batailles Die Tränen des Eros die Abbildung eines chinesischen Mannes, der, “Leng Tsch’e”, bei lebendigem Leib auseinandergeschnitten wird; ein Strafmartyrium, das als „Ehre“ galt. Die Folterer amputieren dem Märtyrer Finger für Finger, die Ohren, die Extremitäten dann, das Geschlechtsteil usw., sie zerlegen den Märtyrer und legen die amputierten Teile sichtbar für ihn vor ihm aus. Die Amputationen geschehen mit einer solchen „Kunst“, bis hin zum Abschälen des Fleisches der Brust usw., daß der Märtyrer alles selbst bis wirklich zum allerletzten Moment erlebt. Die Abbildung ist >>>>> eine Fotografie aus dem Jahr 1905. Die Blicke des Märtyrers sind verklärt (vielleicht der hohen körpereigenen Morphin-Ausschüttungen halber, die durch solch langsamzäh sich steigernde Schmerzen verursacht werden). Was Bataille zu diesem Bild schreibt, von dem er sich, seit er es zum ersten Mal gesehen, nie habe lösen können, ist wie aus Aues Roman abgeschrieben, der seinerseits zu den Bildern sagt, die Soldaten von dem Massaker aufgenommen haben: „Mit dieser Zusage versehen, verbrachte ich den Rest des Tages in den Mannschaftsunterkünften, sah die Fotosammlungen der Männer durch und bestellte Abzüge. Einige von ihnen waren übrigens bemerkenswert gute Fotografien; aber ihre Arbeit hinterließ bei mir einen unangenehmen Nachgeschmack, während ich gleichzeitig die Augen nicht abwenden konnte, ich war wie versteinert“ (S. 143). Was die Fotografien und, solche überhaupt aufzunehmen, anbelangt, erinnert das, strukturell (!), alarmierend an den >>>> Folterskandal von Abu Ghuraib.

Das ist nicht ausgestanden.

[Lesestand: S. 200.]

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14 thoughts on “Es ist nicht ausgestanden. Jonathan Littell. Die Wohlgesinnten. Lesenotate (4).

  1. @Fotografierte Banalität? Verstreut sind die “Banalitäten” des Nazimordens bekannt: Kogon beispielsweise, der die Lustlosigkeit der KZ-Folterer beobachtet hatte – die von Himmler überlieferte Aussage, der angesichts der Leichenberge sich selbst mit folgenden Worten lobte: Das gesehen zu haben und dabei anständig geblieben zu sein – nicht zuletzt die Bezeichnung “Blutarbeit”, die eine offizielle Bezeichnung der SS für die Aktionen hinter der neuen Front war.
    Zu Ihrem letzten Satz: Dieses Fotografieren- und Abfilmen-müssen der begangenen Verbrechen, vor allem weenn sie an Wehrlosen begangen werden – was ist das? Beweise gegen sich selbst zu sichern – warum muss diese Art der Gewalt fixiert werden mit einer stärkeren Motivation als beispielsweise von Sexualakten?
    Dazu ist mir noch nichts Abschließendes eingefallen.

    1. @hurka. Mord und Ding. Es kann sein, daß es sich, psychonalytisch gesprochen, um eine Objektivation handelt. Man stellt das nicht verarbeitbare Geschehen wie ein Ding vor sich hin, weil sich Dinge, anders als psychische Vorgänge, auch beiseitestellen, in diesem Fall: zuklappen lassen (in einem Album). Daß man es ebenso wieder hernehmen und aufklappen kann, gehört dazu. Die Geschehen werden verfügbar, das Unverfügbare wird es. Ich denke, daß sich das mit den Aufnahmen von Sexualakten psychodynamisch durchaus vergleichen läßt: auch in ihnen wirkt etwas durch uns, wir bewirken es nicht selber, und zwar auch dann nicht, wenn wir selber “es tun” und vermeinen, dies geschehe aus freiem Entschluß.
      “Abschließend” ist meine Erklärung selbstverständlich auch nicht. Littell paraphrasiert Himmler übrigens auf diesen ersten 200 Seiten zweimal, und jedesmal klingt etwas pervertiert Menschliches dabei an:

    2. Auf der S. 185 rastet einer der Soldaten, der die nicht ganz Toten ganz totschießen soll, aus, er lacht, er macht Faxen usw. Aue will ihn zur “Ordnung” rufen, was nicht gelingt; deshalb wird der Soldat ausgetauscht. Aue drückt dem neuen die MP in die Hand und sagt: “Machen Sie es ordentlich, verstanden?!”
    3. Die zweite Szene ist noch viel furchtbarer. Sie ist aber auch literarisch bemerkenswert. Ein etwa vierjähriges Mädchen nimmt auf der Seite 156 Aues Hand wie um Schutz. Er fragt: “Gde Mama?”, woaufhin die Kleine in die Leichengrube weist. “Ich streichelte ihr Haar. So blieben wir einige Minuten. Alles drehte sich um mich. Ich wollte weiter. ‘Komm mit mir’, sagte ich auf Deutsch zu ihr, ‘hab keine Angst, komm.'” Er nimmt sie auf den Arm und gibt sie einem SS-Mann, dem er dazu sagt: “Seien Sie lieb zu ihr.” Und jetzt kommt das eminent Literarische an der Szene: “Ich hatte eine schreckliche Wut im Bauch, wollte sie aber weder an der Kleinen noch an dem Soldaten auslassen” (S. 156), der mit dem Mädchen in die Grube steigt und es, während Aue weggeht, erschießt. – Littells Erzählung erfaßt auf das erschreckendste genau den psychischen Vorgang einer Verdrängung.
    4. Bedenken Sie mal die Zeit. Ein mediales Bewußtsein wie heutzutage gab es nicht.
      Als gegenlastiges Beweismaterial sind diese Aufnahmen nie gesehen worden.

      Die Nazis waren treu in dem Glauben an ein 1000-jähriges Reich, in dem Recht und Rechtsprechung von derselben Nazi-Ideologie ausging. Wer sollte denn über sie richten?

      Auch spielen Intelligenz und Bildung eine Rolle. Denn selbst heute ‘könnte’ man es wissen -wenn man den Zugang und den Willen dazu hat bzw. sucht.

      Heute wissen wir, wie unendlich dumm US-Soldaten sind, die sich beim Foltern und Töten von Menschen photographieren und filmen lassen, in der Annahme, sie seien im Recht. Zudem sogar geschützt durch die eigene Regierung, deren US-Politik, die Menschenrechte mit Füßen tritt, und nur widerwillig die eigenen Soldaten einer gerechten Bestrafung zuführt.
      Die US-Regierung erkennt bis heute nicht die Internationale Gerichtsbarkeit an.

      Was erwarten Sie denn von den kleinen Nazi-Schergen von vor über 60 Jahren?

      #

  2. Quelle: IAO: Institut d’Asie Orientale http://turandot.ish-lyon.cnrs.fr für den Fall, dass man die “Banalität des Bösen” weniger Abstrakt und mehr Anschaulich erleben möchte.
    Bei “Dingen” wie dem Lingchi sind die “Märtyrer” (die i.d.R. Gewaltverbrecher, Elternmörder oder Kinderschänder waren, denn der Tod der 1000 Schnitte war keine Ehre sondern Ausdruck besonderer Verachtung) nach sehr kurzer Zeit nicht mehr bei Bewußtsein gewesen. Das “Verklärte” dürfte mehr die Muskelrelaxation nach dem Exitus sein.
    Worin ich aber vorbehaltlos zustimme: Das ist nicht ausgestanden.
    Nämlich so lange nicht, wie es Menschen gibt.

    1. @Carter. Lingchi. Dieser Aspekt, es sei eine “Ehre” gewesen, war mir schon bei der Batailles-Leküre seinerzeit nicht klar, da er ja zugleich deutlich davon schrieb (ich hab das bis heute, wenigstens 20 Jahre nachher, wie eingestanzt im Kopf), es habe sich um besonders abgefeimte Gewalrtverbrecher gehandelt. Man fragt sich dann allerdings, weshalb ein derart rituelles Aufsehen gemacht werden muß. Das ist erklärlich über die ideelle Schwere der vorausgegangenen Tat, ihr muß wohl eine ideelle Schwere der Bestrafung das Gleichgewicht geben. Dann i s t man aber bei einer Form von “Ehre”.
      Wegen der Verklärung bin ich mir uneins. Der auf dem Bild Dargestellte lebt ganz zweifelsfrei noch.

      “So lange nicht, wie es Menschen gibt”: >>>> Eben. (Wir sind aber auch anders, und auch d a s, weil wir so sind. Deshalb etwa können wir Neunte Sinfonien schreiben.)

    2. Der Aspekt der Ehre Das “vom Leben zum Tode” bringen hatte und hat häufig einen Aspekt, welcher die “Ehre” betrifft. Verschiedene Todesarten waren bestimmten Ständen vorbehalten oder geschlechtsspezifisch zugeordnet. So wurden Frauen in früheren Zeiten eher selten gehängt, einfach um zu verhindern, dass die Menge dem Weibe unter den Rock schauen kann.
      Grundsätzlich hat(te) die öffentliche Exekution immer dem Zweck der Abschreckung (was nie funktioniert hat und im Falle der Todesstrafe bis heute nicht funktioniert, was alle einschlägige Untersuchungen und Statistiken zeigen) gedient. Warnung davor was geschieht, wenn Normen und Gefüge verletzt werden. Aus historischer Sicht kommt die Ehre dann in´s Spiel, wenn die Repräsentanten der gerade herrschenden Normen und Gefüge diese verletzten. Für diese Ausnahmefälle waren „Ausnahmestrafen“ oder eher seltene Todesarten vorgesehen. Beispiele sind etwa die Hinrichtung der Anführer der Wiedertäufer oder von György Dózsa. Diese Hinrichtungen waren von besonderer Grausamkeit, dem Adel vorbehalten und daher selten. Und deswegen mit Ehre angetan.
      Sollte der Betreffende, einem hohen Stand angehörende geschmäht werden, so wurde er zwar nicht weniger grausam, jedoch mit geläufigerer, dem Pöbel zugedachter Methode hingerichtet. Auf den Boden gebunden, mit einem Wagenrad alle Knochen gebrochen bekommen (Rädern) und anschließend die Extremitäten durch die Speichen geflochten noch tagelang sterbend auf dem Markt ausgestellt zu werden war eine gerne und häufig praktizierte Methode, deswegen etwas für Bauern und Tagelöhner und daher „ehrlos“.
      Lingchi war eine recht geläufige Methode die auf öffentliche Entblößung (damals in China für die Plebs mit noch mehr Schande verknüpft als in Europa, wo zu jener Zeit gestandene Männer Neurosen entwickelten – berühmtestes Exemplar: der “Rattenmann” von S. Freud – nur weil sie den Anblick des Fußknöchels einer unbekannten Frau erhaschen konnten!) und Schaustellung basierte.
      Zudem, wenn es sich die Angehörigen leisten konnten die Henker zu bestechen, wurde der Delinquent massiv unter Opium gesetzt (in Europa erwürgte der Henker die Opfer einer öffentlichen Verbrennung gegen Zahlung eines entsprechenden Betrages) und hatte daher mit seinem Tod nicht so große Probleme.

    3. @Carter Indem Sie auf das Spektakuläre bei öffentlichen Hinrichtungen abheben, liegen Sie absolut richtig, dies jedoch weniger, wenn Sie die Begründung dafür auf das Moment Abschreckung verlagern. Das genau nämlich ist es nicht. Öffentliche Tötungsrituale haben kathartische Funktion, sollen vor allem in Krisenzeiten die Aggressionen aus der Gesellschaft heraus und auf den (oft ja unschuldigen) Delinquenten fokussieren, mit der Hoffnung, dass nach dem Spektakel, das hier als Opferritual zu verstehen ist, wieder Ruhe einkehrt. Der Jacobiner-Terror mit seiner Hinrichtungsinflation ist einer der augenfälligsten Belege für die Kombination aus Krise und öffentlichem Tötungsspektakel. Die Krise war die durch nichts zu mildernde Angst vor der Konterrevolution, der Verschwörung des Adels. Es geht also um nichts als Menschenopfer, die in dem Augenblick wiederkehren, wenn andere, symbolische Opferrituale in Krisenzeiten versagen.
      Dass diese Menschenopfer in einem Schein der Legalität rationalisiert werden, ändert nichts an ihrer Natur.

    4. Eingeschränkt Ja und eingeschränkt Nein Tötungsspektakel in Verbindung mit Krisen und Ablenkung davon, dem kann ich uneingeschränkt zustimmen. In solchen Situationen ist die kathartische Funktion sicherlich im Vordergrund. Die Entlastungsfunktion des Opferlammes, auf welches das Kollektiv seine wie auch immer geartete Schuld projiziert, ist eine Vitalfunktion menschlicher Gesellschaften und schon wesentlich älter als der Anlass für unser Osterfest.
      Abschreckung -und damit das Verhindern von all zu häufigen Verletzungen der Gemeinschaftsregeln und das Destabilisieren im Alltag – ist jedoch der Hauptgrund außerhalb von Krisenzeiten. War es zumindest. Solange die Strafen auch für kleinste Vergehen drakonisch waren und unter allen Umständen und ohne große Hoffnung auf Erlass durchgeführt wurden.
      Aber dem Grunde nach, und wenn wir uns in der Welt umschauen, mit einem längeren Seitenblick auf Ruanda oder Darfur oder auf die Schuldzuweisungen an Randgruppen in unserer Gesellschaft für wirtschaftliche Verhältnisse – und es ist nicht so, dass “Ruanda” in Europa nicht möglich wäre; die Infrastruktur der Kontrolle und Überwachung funktionieren bei uns nur wesentlich besser – kann man die politische Instrumentalisierung solcher Riten bis heute klar erkennen.

  3. @ANH Aufzeichnungsapparate Es üben aber auch die Aufzeichnungsmedien selbst eine Attraktion aus (wörtl. attrahere = anziehen), und provozieren Posen – vor allem Siegerposen. Ich bin mir nicht so sicher, dass es dabei allein um die neutralisierende Abspaltung des Täters von seiner Tat geht. Ich sehe die imperialistischen Fotos von Großwildjägern mit Fuß auf dem Kopf des erlegten Wildes, den Angler mit dem Hecht – Beuten und Siege, die nach Verewigung rufen. Überhaupt glaube ich nicht so definitiv an einen apriorischen Zwang zur Verdrängung, zu sehen, an sehr alt gewordenen Tätern, die, solange man sie in Ruhe lässt, wie mir vorkommen will, mit sich selbst völlig kongruent sind, ja nicht einmal mit der Wiederkehr des Verdrängten in Form von Albträumen Probleme zu haben scheinen.
    Wie Sie es aus dem Litell herausfiltern geht es offensichtlich genau um den Widerspruch zwischen doing the job und Moral. Es scheint nun wieder die Zeit gekommen zu sein, dass ein solches Thema im Scheinwerferlicht willkommen ist – wie damals die Serie Holocaust, die diesen verhängnisvoll ungenauen Begriff kollektiviert hat. Als Anglizismus hier doppelt willkommen, weil er eine zusätzliche Möglichkeit der Distanzierung bietet.

    1. @hurka. Das Bild mit der Großwildjagd stimmt nicht, weil sich die Großwildjäger, etwa Hemingway, durchaus nicht als Schuldige fühlten, wenn sie jagten. Es gab dafür auch keinen Grund, sofern man sich selbst dem Todesrisiko aussetzt und es also ein K a m p f ist, bei dem der objektiv Stärkere siegt (das kann, muß aber nicht, auch der Intelligentere sein). Etwas anderes wären unsere hiesigen Jagdvergnügen, zu denen man in ein Wäldchen schreitet und ballert. Selbst da aber ist kein Schuldbewußtsein vorhanden. Deshalb kann man diese Fotos da auch aus ganz anderen Gründen tätigen.
      Daß unbehelligt altgewordene Täter mit sich selbst im reinen seien, mag sein, mag auch nicht sein; sie sind es aber entweder, glaube ich, weil der Verdrängungsmechanismus sehr gut funktioniert hat, oder aber, weil sie eine Schuld gar nicht sehen. Das ist im Fall Aues prinzipiell anders. Er i s t ja ein unbehelligt überlebender Täter, der solch ein Buch gar nicht hätte schreiben müssen. D a ß Littell es ihn schreiben läßt, ist eine weitere psychologische Fundierung dieser Figur.

      Daß es für dieses Thema “wieder Zeit geworden” sei, wage ich nach Lektüre der deutschsprachigen Kritiken zu diesem Buch zu bestreiten. D i e s e Zeit ist eben n i c h t gekommen. Das hat (mögliche) andere, sozusagen aufs Bleiben hin zugerichtete Gründe. Vielleicht komme ich auf die in einem späteren Notat noch zu sprechen.

    2. @ANH sich schuldig fühlen: Argumentiert man von dieser Seite, bewegt man sich auf brüchigem Boden. Wenn Jäger keine Schuldgefühle haben, wozu dann ein Jagdheiliger, Halali-Rituale? Am Großwildjäger soll nicht scheitern, was ich sagen möchte. Die Posen vor der Kamera haben eine eigene Ikonographie. Standbein – Spielbein – Opfer: Bilder, die die solange als sauber gegolten habenden Wehrmachtssoldaten ihren Familien nach Hause geschickt haben, dies wohl im Bewußtsein ihrer kampflosen Überlegenheit.
      Dass die Täter mit sich im Reinen waren, ich weiß, das bleibt ab einem gewissen Punkt spekulativ – ich formuliere da auch vorsichtig. Aber verdammt alt sind sie manchmal schon geworden. Ein Wort noch zum “Scheinwerferlicht”: Für einen ordentlichen Medien-Hype braucht es doch gerade Kontroversen.

  4. Wie Herr Herbst es bereits beschrieben hat, ist das Unerhörte an diesem Roman, die Hauptperson, nicht Aue sondern der Leser. Er ist Voraussetzung für diesen Roman. Das gilt natürlich für jegliche Art von Kunst. Hier aber bleibt der Leser, sofern ich das nach bisherigem Verfolgen der Diskussion beurteilen kann – kein Fremdling, der das Geschehen aus einer Distanz heraus betrachtet, er wird sich selbst gegenübergestellt. Ähnlich, denke ich verhält es sich mit solchen Aufnahmen, die sich einem sogar bis ins Mark einbrennen.
    Etwas so Unbeschreibliches durch Fotografie zu bannen oder zu “verdinglichen” funktioniert allenfalls während dem Akt des Fotografierens. Sich aber dann dieses Bild anschauen, dieses direkte und konkrete Anschauen von mir, dem Betrachter – zeigt mir nicht nur ein Bild mit ungeheuerlichem Schrecken sondern noch etwas anderes und das ist es womöglich was einen so absolut erschüttert, wie bei Littells Roman – die Voraussetzung für eine Aufnahme wie diese!
    Und die Voraussetzung bin ich, bist du!

  5. Was bisher in der Rezeption und in den Rezensionen m.E. übersehen wurde (abgesehen von biographischen Fußnoten), ist, daß Littell seinen Roman auch als selbst erlebte Geschichte empfunden haben dürfte. Das Projekt zu diesem Werk (in welcher Modifizierung auch immer) trägt er mit sich herum, seit er zwanzig war (siehe Gespräch mit Pierre Nora im Marginalienband).

    Zwei Jahre war Littell in Bosnien, danach in Tschetschenien: “Ich habe zum Beispiel einmal mit Nikolai Koljevic diskutiert,… er war Vizepräsident der Republika Srpska… Ein Literaturwissenschaftler, der jugoslawische Spezialist für Shakespeare, von einer ungeheuren Bildung, und er war so etwas wie der Ideologe der bosnischen Serben…. Übrigens war er der Einzige von der ganzen Bande, der aus dem, was geschehen ist, die Konsequenz gezogen hat: Er hat sich umgebracht, gleich nach Dayton.”

    Das denen ins Stammbuch geschrieben, die eine Figur wie Aue als reines Produkt der Phantasie ansehen oder für unglaublich konstruiert halten. DAS alles ist noch lange nicht ausgestanden. Ich wage zu behaupten: Es hat nie aufgehört – nur die Schauplätze wechseln. Vorgestern Polen, gestern Bosnien, heute Tibet.

    1. @ UlrichFouré vielen dank für diese biographische ergänzung, die für eine angemessene beurteilung des romans sicherlich relevant ist. freilich: obwohl Littells Aue kein “reines Produkt der Phantasie” seind dürfte, ist er dennoch literarisiert, sprich: ästhetisch ‘überformt’. diese verfremdung (bzw. verähnlichung zum leser) scheint ja auch ANHs lesenotate wesentlich angeregt zu haben. dass es sich eben nicht nur um das wiederkehrende arguments von der dünnen schicht zivilisation und der allgegenwärtigen abstoßenden unmenschlichkeit (bosnien gestern, und morgen? tibet, rwanda &c.) handelt, sondern um einen roman mit diesem unerhörten als stoff, der gleichsam als perspektivische umkehrung von kertész’ werk funktioniert.

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