Reisejournal, Siebenter Tag. Konzerthausorchester Berlin. Lleida. Donnerstag, der 14. Februar 2008. Schubert, Haydn, Bruckner.

8.38 Uhr:
[Lleida, Hotel Conde de Urgell.]
Ich geh erstmal frühstücken.

(Der Abend gestern, der ebenfalls Nacht wurde, was metaphorisch gemeint ist, war lange nahezu musikerfrei; mit dem Orchestermanager war ich essen, und es ist schon eigenartig, daß wir viele Jahre nebeneinanderher gelebt haben, und zwar direkt: in Bremen erst, dann in Frankfurt und nun, bis vor so kurzem, in Berlin… mit bisweilen denselben Bekannten, in denselben „Fächern“, aber man hat gegenseitig voneinander gar nichts gehört. Und jetzt aßen wir gut, ich viel zuviel, darunter Schnecken und Polüpiges… als wir dann „heim“kehrten aus dieser spannenden Stadt, saßen noch drei Orchestervorständler im Foyer, so daß ans Bett nur zu denken, aber auch wirklich nur zu denken war. Wir dürften hier im Foyer nichts trinken, wir hätten auf unsere Zimmer zu gehen, sagte die mis(t)(s)gelaunte junge Dame am Foyer; die Bar hatte nämlich geschlossen. Dabei saßen wir abseits und waren ganz ruhig, vollkommen zivilisiert, ich versicher es Ihnen… Sie wurde immer ärgerlicher, weil *** eine Flasche Wein aus seinem Zimmer herunterbesorgte und ich den Rest Brandy, den ich noch hatte. Ich nahm mein Glas, nahm den Brandy, ging an die Rezeption und schenkte mir vor ihren Augen ein und nippte vom Glas. „Holen Sie jetzt die Polizei?“ fragte ich. Sauer war sie dann auch, weil sie mir immer wieder die Tür elektronisch öffnen mußte, wenn ich in die Nacht treten wollte, um zu rauchen, was ich im Foyer ebenfalls nicht durfte und das ganz einsichtig akzeptierte. Ansonsten haben wir wirklich nur gesprochen, und wieder war Thema das Verhältnis von Leitung und Orchester; unterdessen ist ja auch hier einiges von dem, was ich bislang schrieb und meinte, gelesen worden, unterdessen wird es diskutiert, und nicht immer ist man mit mir einig. „Es m u ß Distanz zwischen den Orchestermusikern und dem Dirigenten sein, nein, ich wollte das gar nicht, daß er sich nach jedem Konzert mit uns trifft,“ „Darauf kommt es nicht an. Wäre ich Dirigent, ich würde das setzen, nur für ein paar Minuten, eine halbe Stunde, mehr nicht.“ Ulf Werner und ich hatten eine Idee gehabt während des Essens, von der wir nun erzählten, die wir in die Runde warfen: eine Programm-Idee. Sehen Sie mir nach, daß ich sie hier nicht verpetze… allein, weil sie Realität werden könnte, ja, das ist drin – und ich möchte ihr ungern die Ausstrahlung nehmen. Da muß Überraschung her. Seien Sie gewiß, es wäre eine. Und nicht nur Berlin, und zwar ganz, schaute auf das Konzerthaus. Für Jahre.)

10.30 Uhr:
Zwar wollt‘ ich längst schon lossein, aber Helge v. Niswandt möchte nun mit zu den Templern, muß und will indes vorher üben, nicht für diese, sondern für das Konzert; also haben wir uns auf halb zwölf verabredet, und mir bleibt etwas Zeit, Ihnen ein wenig was nachzutragen — etwa: daß diese Tournee zu den eher gemütlichen Unternehmen gehört; als das Orchester in Japan war, gab es 15 Konzerte in drei Wochen, da hieß es dann raus aus den Koffern und spielen und schlafen und rein in die Koffer und weiter und raus aus den Koffern… mitunter lagen Flüge dazwischen, nicht nur Busfahrten; sowas macht Stress – nicht zuletzt auch den drei Orchesterwarten, mit deren einem ich gestern an der Autobahnraststätte ein Gesprächchen führte, zum Beispiel darüber, wie man so etwas w e r d e. „Also diese Musik lieben, das mußt du s c h o n, und du mußt alles unter Kontrolle haben, besonders, wenn die Instrumente von der Spedition befördert werden… daß da nichts schiefgeht… und dann bei den Aufbauten abends, da muß ja alles stimmen, und die Musiker müssen ihre vorbereiteten Garderobenräume beziehen können, die Pulte müssen stimmen, die Stühle… all das kontrollieren wir… und manchmal sind die Musiker nervös… weißt du, das hat auch etwas von einem Psychologen…“ er lacht auf „… Orchesterpsychologen, was wir da tun… Manchmal muß man auch etwas durchgreifen, muß ein bißchen autoritär sein, damit sich niemand verschwatzt, damit alles pünktlich dasitzt und vorbereitet ist. Bei ganz dichten Tourneen fahren wir deshalb immer schon vor, also wenn ein Konzert zuende ist und die Leute essen gehen oder schon schlafen, sind wir zum nächsten Ort unterwegs… manchmal muß man den Spediteuren auf die Finger hauen…“ Es ist so etwas wie ein basales Controlling. Ähnlich der Orchestermanager, Ulf Werner, der selber Geige studiert hat, also Musiker i s t, aber auch Kulturmanagement studiert hat, einst ein Festival gegründet hat, das Furore machte, dann zum >>>> Ensemble Modern als Manager ging, danach zur >>>> Jungen Deutschen Philharmonie, mit der wiederum Zagrosek gleich am Tag nach unserer Rückkehr aus Spanien auf Tournee gehen wird, und nach einem knappen Umweg über Köln vor zwei Jahren von Zagrosek selbst ans Konzerthaus geholt worden ist. Er kennt sich, schon wegen des Ensembles Modern, gut aus in der Neuen Musik, kennt wiederum meinen Freund Leukert, sowieso, aus der Frankfurter Zeit, und sehr wahrscheinlich saß er damals, 1976, bei Stockhausen mit mir am Tisch… – Von Pamplona hat er nichts mitbekommen, weil er einer Musikerin helfen mußte, einen Arzt aufzusuchen, niemand sprach Englisch, „das war ein ziemliches Hin und Her“. In Zaragoza wurde er, das erfuhr ich ebenfalls erst gestern, von zwei Männern überfallen, auf offener Straße, man bettelte ihn um einen Euro an, er gab, man wollte zwei, drängte ihn gegen die Wand, wollte mehr, noch mehr, man puffte ihn, schon setzte es die erste Kopfnuß… und er, langsam weichend, seitlich weichend, schob sich, vor den Schlägen der beiden Räuber immer geduckt, langsam an eine entfernt stehende Frau heran, die Ticketts verkaufte. Dann rief er „Polizia!“ In Minutenschnelle war die da. Die Räuber gaben Fersengeld und verschwanden in den Gassen. – „Warum hast du mir das nicht erzählt? Mensch, das ist doch prima für meine Erzählung!“ Und jetzt typisch, jetzt ganz Verantwortung: „Das hätte auch in Berlin passieren können, und ich wollte einfach niemanden aus meiner Truppe beunruhigen. Es ist besser, man behält sowas für sich, damit nicht Nervosität ausbricht, wo wir sie nicht gebrauchen können.“

11.20 Uhr:
Einerseits. Es macht mich rein fuchsig, daß es bislang in keinem der eigentlich durchweg guten Hotels eine Toilettenbürste gab. Das führt, ist man, wie es Orientalen sind, sauber, jedes Mal zu einer ziemlichen Schweinerei aus zerklitschendem Klopapier und Geschmiere. Andererseits. Für persönliche Sauberkeit gar nicht genügend zu rühmen sind die hierorts völlig normalen Bidets. Sie ersparen es einem, ständig darauf zu achten, daß man eine leere Flasche dabeihat, die man mit Wasser gefüllt nebens Klo stellen kann, um sich angemessen zu säubern. Wie man’s halt lernte im Orient. (Japaner und Inder gehen nicht unbegründet davon aus, daß wir „Westeners“ schmutzig seien. Insgesamt ist ja Toilettenpapier eine hygienehalber ziemlich peinliche Erfindung.)

16.51 Uhr:Der vielleicht witzigste Satz heute, geäußert charmentest von ***: „Heut hab ich Zeit, ich spiele nur Bruckner.“ Allgemeines Lachen. Helge v. N.: „Neenee, ist schon so. Man muß auf den Bruckner nur L u s t haben und Kraft haben, aber richtig zisselig ist das bei Schumann, da fällt immer alles auf.“ Jedenfalls zogen wir zu den Templern los, an deren Tisch ich mich hierüber setzte; wir, das sind das LaptopQuartett Nerina Mancini (Cello), Burkhard Hilse (Flöte), Helge v. Niswandt (trombona malata) und ich am Lapboard; Msre Hilse übernahm später die Predigt, indes Signora Mancini kurzfristig die Reiseführung einer Gruppe Katalanen besorgte. Danach, zur Belohnung, gab Herr v. Niswandt Frau Mancini Flugunterricht; all das ist nun hier dokumentiert. In der Tat schob man uns sichtbare 850 Jahre zurück erst ins „befreite“ Jerusalem, dann nach Rom und bald schon Nordspanien; wir nahmen an recht heftigen Kämpfen teil, verloren Arme, Beine, siechten (sächsisch für „siegten“) dahin und wurden schließlich sämtlichst ermeuchelt, so daß sich unsere vier Seelen zur >>>> Seu Vella hinweg- und hinauffleuchten… nein, dreie nur, denn die Flöte verklang (nach einem kleinen Mittagsessen) in Richtung aufs Üben und Hotel; dafür harrte im Kreuzgang >>>> Severin v. Eckardstein unsrer. Doch sprach er nicht viel. Schritt uns voran in den Turm, kam indes nach halber Stufenlage (238) zurück und redete leise also: „Das wird zu eng, ich habe da Angst. So bin ich eben.“ Also nahmen wir drei Restseelen die letzte Levitation in die Attacke und hofften an beiden Zwischenhochgeschossen nur, daß nicht die riesigen Glocken zu läuten begännen. Taten sie nicht. Von oben Aussicht über die Stadt und das weiteste Land und nach Gardeny zum Templerfelsen. (Nerina, die zwischenzeitlich meinen Pullover trug, will mir bis jetzt nicht glauben, daß Lleida (Lerida) eine großartige Stadt ist… „das findest du schön???!“ „Nein, lebendig. Quirlend. Bizarr. Phantastisch.“ Einig wurden wir, bevor wir uns an den Abstieg machten und zu den Lebenden wiederrückerstanden, für Genova und Napoli; nicht einige blieben wir, die Fiorentinerin und ich, auch bei der Tatsache, daß Florenz und die Toscana noch nicht Italien sind, sondern daß Italien erst südlich Roms beginnt. Alles darüber (ausgenommen Genova und Venezia) ist Schweiz. Diskussionen darüber werden von meiner Seite aus nicht weiter geführt. Punkt.)Noch etwas weniger als zwei Stunden bis zur Anspielprobe, die Musiker sind auf ihre Zimmer entfleucht, um zu baden und zu üben; erstres tu nun auch ich. Wenn danach noch etwas Zeit ist, oder halt morgen, erzähle ich Ihnen Anekdoten von anderen Reisen des Konzerthausorchesters, etwa aus New York City, von U-Bahnen, die ins Dunkel führen (zwei Geiger fuhren mit) und dann stehenblieben. Und blieben. Und immer noch blieben. Und das Geigerpärchen war ganz allein, weil alle anderen vorher ausgestiegen waren. Sie hatten die Ansagen nicht verstanden, denn konnten kein Wort Englisch, dafür freilich Russisch, nur daß das in NYC alein in Little Odessa, Brooklyn, von lebensrettendem Sinn ist. Aber zu sowas dann wirklich erst später. Schön auch die Geschichte eines allgemeinen Konzerthausorchestergroßeinkaufs in Cybercity, Tokyo, zu DDR-Zeiten noch… nein nein nein. Später.

19.22 Uhr:
[Lleida, Auditori Enric Granados, Sala I.]
Nach einer unfreiwilligen mehrfachen Stadtumrundung in den Bussen sind wir nahezu zwanzig Minuten zu spät zur Anspielprobe erschienen. Soeben beginnt die Haydn-Probe. Es istz ein diesmal eher kleiner, recht halliger Saal, aber die Laune ist ziemlich gut bei allen; Zagrosek strahlte mir gleich entgegen. Neben ihm saß die künstlerische Direktorin des Konzerthauses, die für heute und wohl die nächsten Tage eingeflogen ist. „Kennen Sie einander schon?“ (Zack). Wir: „Jetzt.“ Sie, vorher: „Ich habe schon viel von Ihnen gelesen.“ „Das Wichtigste überhört er“ (Zack). „Nö, er geht nur nicht drauf ein“ (Hoffmann). „Sie haben schon viel von mir gelesen“ (ich).
Die Geigen klängen sehr hart, moniert jemand aus dem Auditorium, das jetzt, zur Haydn-Probe, voller Musiker sitzt, die erst beim Bruckner „dransein“ werden. Der Klang ist in der Tat hallig, aber ausgesprochen präsent, ich möchte das nah nennen, ganz eng an den Ohren, man sitzt quasi mittendrin.

19.32 Uhr:
Zagrosek: „So. Schubert!“ Musikerwechsel zur Dritten. Da stellt sich heraus, daß die erste Klarinette fehlt. Gerade kommt sie herein, Zagrosek sauer, „ich kann doch nicht für jeden einzelnen einen Butler aufstellen… das geht nicht!“
Sie spielen den ersten Satz an; für meine Ohren klingt der Saal, sowie es etwas lauter wird, nach einer nassen Pappe; spielen die Musiker leise, ist der Hall überdeutlich. Man wird sehen müssen, wie der Bruckner das verträgt. Zack bricht ab: „Denken Sie daran, daß dieser Raum unglaublich hallig ist… Sie können ruhig pianissimo spielen, das trägt hier.“ „Können wir ein anderes Licht bekommen?“ Zack: „Das Licht! Das Licht ist schlecht! Bitte!“ und dirigiert bereits weiter, während die Technik mehr Helligkeit zur Bühne gibt.

„Sò… letzter Satz.“

19.43 Uhr:Bruckner nunmehr. Tutti. Ich setz mich mal etwas weiter nach hinten, um d e n Klangeindruck zu haben.

20.08 Uhr:
Der Bruckner ist, wenn er laut wird, geradezu irrsinnig laut… und es wird ganz sicher die aggressivste aller Aufführungen werden.




21 Uhr.

DAS KONZERT VON LLEIDA.


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