Reisejournal, Sechster Tag. Konzerthausorchester Berlin. Nach und in Lleida. Mittwoch, der 13. Februar 2008.

7.52 Uhr:
[Hotel Tres Reyes, Pamplona.]
Das ist gestern ein a u s g e s p r o c h e n schönes Konzert gewesen, klanglich, auch wenn einige Musiker nölten; denn auf dem Podium selbst, wo sie saßen, habe man einander kaum hören können in dem Kasten; Ferenc Gabor (Bratsche): „Nicht e i n Ton kam von den Geigen bei mir an!“ Und von Helges Posaune hatte sich ein Stückchen so gelöst, daß es in der Gefahr war abzubrechen; also wurde schon während der Busfahrt telefoniert und dann weiter hier in Pamplona, bis sich zwei Jungens fanden, die ihm eine andere Posaune brachten. „Sowas kommt vor, es ist ein altes Instrument, und das kann auch noch halten ein Jahr, aber vielleicht hält es auch nur noch drei Stunden… und dann, wenn das bei dem Bruckner…“ Weiters war ein Hornist ausgefallen, der am Vorabend verdorbene Muscheln gegessen hatte: er schlief im Bus, erwachte, der Drang kam – seither liegt er. Ich erfuhr davon, da es in einem anderen Bus geschehen, erst abends. Mit Fischvergiftung ist nicht zu spaßen; man hat klugerweise einen Arzt geholt. Also einiges Widrige, das auf Reisen halt geschieht, und dann muß man handeln. Wegen des Instrumentes: Jemand weiß einen Freund in dem Ort, der weiß einen Freund in dem nahen Orchester, der ist zwar gerad unterwegs, weiß aber seinerseits jemanden.
Und so, lassen Sie’s mich burschikos ausdrücken, „kacke“ es auf dem Podium auch tönte – im Auditorium hörte man herrlich; für meinen Geschmack war es der durchsichtigste Klang aller drei bisherigen Häuser. Vielleicht auch deshalb die gesammelte Selbstkritik hinterher: „Wir waren hier nicht gemeinsam am Takt, da nicht… und *** setzt immer eine Spur zu früh ein.“ Das Publikum, wie es nun sei, war’s hochzufrieden, und der große Saal war voll. Mir gefiel diesmal auch Severin v. Eckardstein. Nur Intendant Schneider meckerte leise, wobei er gleichzeitig neben mir schwärmte: „Ich habe den Franck noch mit Emil Gilels gehört. D a s war was!“ Darauf ich: „Sie sind vielleicht ein Meckerpott!“ Er, jetzt auflachend: „Gar nicht wahr!“ Und nahm den rechten Arm und dessen Hand als Schaufel, die er gleich tief in der Kiste seiner Erinn’rung versenkte, um ihn dann voller Schätze herauszuziehn. Das war insgesamt ein kompliziertes Unternehmen, weil der Mann zugleich dabei klatschte – das ist, gewiß, a u c h Virtuosität.
Treffen schließlich, nachher, im Hotelfoyer, Ferenc wußte ein besonderes Restaurant… da war man aber nicht auf uns-in-solchen-Mengen eingestellt, hatte für zwölf Vorbestellte gedeckt, wir aber kamen zu achtzehnt, ja ein neunzehnter kam nach (der vier von uns rettete, nein, nicht uns selber, wohl aber unsren Kontostand). Es war ein fast privater Ort; man richtete zu Füßen des eigentlichen Tisches einen weiteren Tisch für sechse her – zu Füßen, weil der Raum zwei Ebenen hatte. Geleitet wird er von einer alten Vampirin, so mein Eindruck, „sie schläft bei Tage im Sarg und steht mit Sonnuntergang wieder auf; dann wartet sie auf Gäste, bedient sie wie in alten Zeiten, aber keiner kommt unausgesogen da wieder weg.“ Jedenfalls kleckerte, wir zwölf saßen bereits oben und wie viere unten, Helge nach, wirkte ponsaunig zerknittert, sah in die Karte (Beluga-Kaviar, 30 Gramm, 130 Euro), zerknitterte noch mehr und sagte dann: „Mir ist so nach Tapas, ich wollte nur Tapas und ein Bier.“ Amelia, neben mir: sie ja eigentlich auch. „Dann gehen wir halt“, so ich. Teresa schaute ratlos-traurig, dabei ging es ihr eigentlich gut, von Edelglas zu Edelteller; man spürte, wie es auch sie hinwegzog. Nur der schöne Cellist, und hatte recht, bemerkte: „Das ist jetzt aber peinlich.“ Über unseren Köpfen die Füße lachten bereits. Das war der reinste Galgenhumor, auch wenn sie es nicht merkten. „Die merken auch nicht, wenn wir gehen“, sagte ich. Der Cellist: „Wir müssen aber wenigstens etwas erklären.“ Da ich mich meines Jungen halber mit Vampiren gut auskenne (als er eingeschult wurde, erzählte er in der Schule zum Schrecken seiner Kameraden gern, nachts, wenn der Papa schlafe, fliege er durchs Zimmer in die Nacht), übernahm ich die Begründung unsrer Selbst-Exkommunizierung als Gourmets. Was nicht leicht war, ich sprech ja keinen Ton Spanisch, und spanische Vampire sind ihrerseits zu stolz, um polyglott zu sein, anders, g a n z anders als italienische etwa. Der Blick der Alten war auch durchdringend; er schauderte mich, da warn die andern vier schon hinaus. Ich mußte mich dringend stärken, Leser, mein ganzes Blut hatte solch einen Andrang zu meiner linken Schlagader am Hals, die den ganzen Weg über pulste und sich erst durch eine Creme beruhigen ließ, die aus dem Inneren von Seeigeln geschlagen… jaja, sowas aßen wir dann: Seeigel, Krebsmousse, Bacalao in mit Lachskaviar verschlagenem Ei, worüber eine Sahne gegeben; letztres wird in einem Eierbecher serviert… in einer Tapasbar, die sehr klein und vor allem von zwei dicken Wirten, von dem Wirt und der Wirtin, belebt wird, von denen man annehmen konnte, sie seien der Vampirin kulinarische Erstlieferanten. Wir tranken Bier, die Damen Wein, und hatten einen prima Abend, der jeden soviel kostete wie die Opfer der Vampirin die Vorspeise-allein, die dazu dient, Süße in ihr Blut zu bringen.Der Abend wurde lang, wurde deutliche Nacht, als wir am Hotel ankamen, aber sofort von ebenfalls eben heimgekommenen Freunden wieder abgeschleppt wurden: schließlich hatte abermals einer der Musiker Geburtstag… überhaupt nimmt es der geburtstagigen Fanfaren vorm Probenbeginn gar kein Ende; man könnte Absicht wittern, daß die Tournee ausgerechnet über solche Daten gespannt ist. Außerdem war ich eben verdammt ungerecht; denn von den zwölfen, die bei der Vampirin zurückgeblieben waren, waren nun hier auch schon wieder drei, und die erzählten von einem herrlichen Essen und hatten am Hals nicht die Spur einer Bißnarbe. Nein nein, sie trugen keine Schals, es war zu warm und zu stickig und zu verraucht, und sie tanzten, und die Spanier, die dawarn, tanzten auch und spielten tanzend Torero und Stierin und sprangen über ausgestreckt ineinandergreifende Hände als Seile… Mich überkam dann schnell wieder mein leidiges Fremdheitsgefühl; ich hielt es erst etwas aus, dann verzog ich mich langsam. Aber das ist m e i n Ding, nicht Ihres und nicht deren.

Es wird eine lange Fahrt heute werden, um zehn geht es los; an die vier Stunden sind angegeben, aus denen, fürcht‘ ich, wieder sechs werden könnten. Zeit genug, um Ihnen zu erzählen, denn das vergaß ich bislang allezeit, daß auf dem Programmheft von Valladolid nicht etwa das Konzerthausorchester abgebildet ist, das >>>> den Abend bestritt, sondern das Basler Kammerorchester. So auch auf den Plakaten. Auf diese Weise darf man sich spöttisch erklären, weshalb das Konzert des ersten Abends so wenig besucht war, die Konzerte der beiden folgenden Abende aber so angenehm proppevoll warn.

11.04 Uhr:
[Bus Pamplona-Lleida. Haydn, Sinfonie Nr. 88]Also jetzt auf der langen Fahrt. Diesmal deutlich ruhiger, stiller, auch etwas müde. Busmittig wird wieder Skat gespielt; die Nachttänzerinnen sprechen leise immer dicht an ihrem neuen Schlaf vorbei. Helge hat sein Posaunenproblem für Lleida bereits telefonisch gelöst. Zack saß bereits beim Frühstück in anderer Runde, als ich herunterkam; er werde noch etwas in Pamplona bleiben, erzählte er mir, bevor er aus dem Speiseraum schritt; mein vorsichtiger Versuch verfing nicht, der ohnedies mehr als ein solcher bloß Andeutung war, nämlich, man könne doch vielleicht morgen früh einen Wagen mieten, um einen Abstecher nach >>>> Vostells Anwesen und Museum in Malperbida de Caceres zu machen. Ein paar von uns wollen die 1 ½ Stunden Fahrt nach Barcelona auf sich nehmen, das eben nicht weit von Lleida weg ist. Andererseits soll Lleida selbst sehr schön sein, hörte ich.Ich habe gestern den Neusatz der AEOLIA per Mail bekommen; den seh ich mir jetzt, während der Fahrt, erst einmal an, bevor ich etwaige Korrekturen anbringen werde.

[Das „Hommer ist bitter, ich weiß.]
15.29 Uhr:
[Lleida, Hotel >>>> Conde de Urgel.]Angekommen. Von den komischen Situationen unserer Fahrt durch die nach Halbwüste wirkende Landschaft („ach, d e s halb haben die Mauren sich in Spanien so wohl gefühlt…“ „…deshalb entdeckte Columbus Amerika… einfach weil er hier wegwollte…) erzähle ich später. Erst einmal ist von dem Schock zu erzählen, den fast alle Musiker haben, als sie Gegend und das Hotel gesehen haben, das in ihr liegt. Tatsächlich sind die Zimmer sehr schön, allerdings riecht es penetrant nach einem Desinfektionsmittel, das ich aus den alten Pornokinos kenne, denen mit den Kabinen. Daran gewöhnt man sich sicher ebenso schwer wie an den unentwegten Baulärm von draußen. Das Zimmerfenster zu öffnen, verbietet sich hier. Und dann, wirklich, die S t a d t: kilometerweit Mietskasernen und Baustellen; alles sieht aus, als hätte Gott in einen Zementsack gegriffen und das trockene Zeug über alles drüberrieseln lassen, mit einem gehässigen Grinsen im Antlitz, vor dem allein die Flucht in Depressionen hilft. Hier könnte ein neuer >>>> Edward Hopper sich bestens inspirieren.
Der Schock ging in vorsichtige Wogen des Protestes über, deren mächtigster der Drang ist, nach Barcelona weiterzufahren, bzw. bei mir: zu Wolf Vostell. Aber dann kehrte in mich die Lust auf Abenteuer zurück und: etwas zu sehen, zu hören, zu riechen, das man sonst meidet und das aber vielleicht a u c h eine Poesie hat. So werde ich in jedem Fall bleiben, und wenn man nachts mit den Armeen Bauarbeitern, die diese Gegend bevölkern müssen, seine Tapas einnimmt. Doch schon, als ich an der Rezeption etwas herumschaue (und vorher schon, als ich die Burg sah), war da ein Verdacht, es möchte doch u m diese Burg etwas ganz anderes sein. Außerdem soll es hier ein enormes Museum geben. Und die Templer waren offenbar hier. Also ist Geschichte angesagt. Ich mach mich gleich einmal bei >>>> wikipedia schlau. Danach wird der erste Spaziergang gewagt und hernach von dem Spaziergang berichtet.
[Blick aus dem außen zementbestäubten Fenster meines Zimmers, Raum 627. Es läßt sich anders als vermittels einer Kippe nicht öffnen und ist zudem mit einer schweren Kette gesichtert; wahrscheinlich, damit nicht die Selbstmordgedanken, die einen hier nach zwei Stunden befallen, in die spontane Momente eines fallendes Glückes – kippen. Nicht einmal dies, nicht mal Erlösung, ist einem vergönnt.]
(P.S.: Zu Lleida und den Templern lesen Sie besser >>>> hier.)

19.39 Uhr:Was für eine Stadt! Man muß nur erst durch den zementigen Produktionswulst hindurch und durch das Mietskasernenviertel, das aber von unten, auf der Straße, dann eigentlich ganz annehmbar wirkt… vor allem, anders als Pamplona, ja selbst Zaragoza: u r b a n. Und das heißt eben n i c h t: heimelig, das ist n i c h t für den Touristen auf gemütlich-historisch gemacht, sondern l e b e n d i g, lebend, l e b t, lebt in Prachtstraße und Prachtgassen und in Elendsgassen mit Hunderten Schwarzen, und lebt in den kräftigen, starren Gebäuden und einer glatten, enormen, phantastischen Architektur…. ebene Treppen, die von mittelalterlichen Kirchen, die wie riesige Klötze stehen, ab- und in die Höhe gehen, dann wieder Boutique an Boutique, und vor von Repräsentationskitsch geblähten Jugendstilhäusern mit Türmchen für das Innre der Seele… da gibt es Ramblas, Rampen – all das berghinauf… auch öffentliche Aufzüge, ja eine Rolltreppe, mitten von der Plaza Sant Joan, geht hoch zur Feste, einer riesigen, ursprünglich maurischen Anlage, die das christliche Mittelalter überrannte und dann weiter ausgebaut hat… als Ulf Werner und ich oben ankamen und unsren Intendentan trafen, der grad hinabwollte, wurde der Zugang geschlossen, doch blieb gute Zeit für Cafe solo und Geplauder und Schneiders, der mir nie was glaubt, Ironie bezüglich „meiner“ Entdeckung der Tempelritter… aber ich hab ja >>>> „meine“ Site als Beweis, sie ist insgesamt toll; klicken Sie sich einfach durch. Die modernistischen Gebäude, mit denen Lleidas Netzreiseführer die frühe Moderne meint, imgrunde den fin de siècle, ergänzt sich hier durch permanenten Neubau; kaum irgendwo außer noch in Berlin habe ich derart viele Kräne gesehen, und kaum irgendwo sonst wird so renoviert und gehämmert und Schutt weggefahren und neu gestrichen; kaum irgendwo auch mit solch einer schroffen Phantastik… überhaupt mag „der“ Spanier das Eckige, Kantige, aber plötzlich fällt „ihm“ ein, man könne doch das Dach eines sehr sehr langen Gebäudes in Form einer ewigen Welle errichten… Überall hat man den Eindruck eines wirklichen Aufbaues Ost in diesem spanischen Westen. Ganz sicher kommt dem die Europäische Union zugute, man kann da nur frohsein, was sich dadurch als kulturelles Erbe erhält. Überhaupt wirkt in Nordspanien insgesamt ganz offenbar ein kulturelles Aufbruchsbewußtsein, das wir in Deutschland für die Künste so allmählich wegsickern lassen für Poppups und andren Kommerz. Man muß sich ja nur anschauen, was bei uns in den öffentlichen Rundfunkanstalten los ist, die meines Wissens noch immer einen Bildungsauftrag haben, wofür – und n u r dafür – sie ja ihre Gebühren einziehen dürfen. Na egal. Jetzt bin ich hier.Morgen wird also, bis zur Anspielprobe um 19 Uhr, flanierender Kulturtag sein; selten hatte ich mal so sehr Lust darauf, wie hier in dieser borstigen, n i c h t bequemen, in dieser eigenwilligen, sperrigen Stadt. Und freu mich nachher aufs Abendessen. Nur meinen Eintrag möcht ich vorher eingestellt haben.

Ah ja, und wissen’S, Pamplona ist für den Tourismus gemacht. Da fährt man hin, das fläzt sich einem zu als Besucher, der sein Geld dalassen soll – hier aber, ist mein Eindruck, muß man sich, was man sehn will, erobern und wie ich selbst durch sein erstes Vorurteil durch. So etwas mag ich. Daß unser Hotel ein wenig außerhalb liegt (das andere liegt zentral)… je nun, es sind zehn Minuten zu gehen, nicht mehr, dann ist man bereits übern Fluß und eigentlich mitten schon drin im historischen und ebenfalls in dem modernen Kern. Gemessen an Berliner Dimensionen ist das ein Witz, der als Grund für Gemecker nicht taugt. Hab ich eigentlich schon erzählt, daß in den Bäumen des Parks Tausende Vögel schlafen, die bei einem knappen Klatschen mit irrem Rauschen hinaufstieben, bis sich sich beruhigt haben und sich wieder „setzen“? Und daß die Stadt von Störchen überflogen wird, die ganz oben auf den Baukränen landen und dort klappern?

Ich mochte Ihnen, neben den hierüber eingestreuten Stadtimpressionen dieses Bild nicht vorenthalten, das den Intendanten des Konzerthauses dabei zeigt, wie er Tatar zu kaufen versucht, ohne ein Wort Spanisch zu sprechen. Das ging schief, aber er warf in enorm charmanter Geste der Verkäuferin einen Handkuß zum Abschied zu. Hat mich beeindruckt. (Er suchte nach Wein; wäre er uns weiter gefolgt, er wäre nicht nur damit, sondern auch für sein Gehacktes hoch fündig geworden; allein, er hat sich getrennt… Werner und ich hingegen standen dann zwei Gäßchen weiter vor einem L a d en… ich sag Ihnen: Laden… Und die Weinhandlung gab es gleich nebenan.)
Wieder im Hotel. Der Baulärm ist übrigens versiegt; der raunende Krawall von der Autobahn freilich geblieben; darein mischen sich Töne einer Posaune, die Mahlers Dritte übt. Dasselbe – nicht das Gleiche, ecco! – hör ich allmorgendlich ab sieben an meinem Berliner Arbeitswohnungs-Schreibtisch. Ich kenne den Posaunisten jetzt, und es wäre doch eine Geschichte, die keinesfalls der Zufall schriebe, wenn… ja… w e n n… Und wirklich, dieser Musiker lebt auf dem – – – Prenzlauer Berg. (Erfinde ich diese Geschichte, oder frage ich nach? Nein. Ich erfinde. Le mentir vraie.)

>>>> Siebenter Tag.
Fünfter Tag <<<<.

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