Reisejournal, Vierter Tag. Konzerthausorchester Berlin. In Zaragoza. Montag, der 11. Februar 2008. Haydn, Strawinski, Franck, Schumann.

9.31 Uhr:
[Zaragoza, Hotel Goya.]Ein Sinfonieorchester besteht aus Menschen, verschiedenen Menschen; so banal das ist, man macht sich’s, hört man solch einem Klangkörper zu, erst einmal nicht klar. Das soll man ja auch nicht; Musik will davon abstrahieren, will eine Reinheit ihrer selbst erzeugen und darin etwas Fremdes neu in die Welt bringen, das ganz nahe ist; diese abstrakte Reinheit ermöglicht es ihr, eine Vielzahl Seelen zu erreichen und sich in ihnen als deren Eignes zu behausen; wir empfinden sie als persönlichstes Unsres. Wobei imgrunde schon der Plural des Pronomens stört oder nur dann nicht stört, dringt sie in Bereiche der Massen-, wenigstens Mengenpsychologie vor und ergreift. Was immer etwas Manipulatives hat, auf dessen Klaviatur vor allem, in der Gegenwart, die Filmmusik zu spielen versteht: kalkulierte Erzeugung von Gefühl, ohne daß man die Musik eigentlich merkt; der Eindruck soll sein, man sehe nur die Szene; doch man erlebt. Große Orchester verstehen sich ohne Szene darauf; vielleicht ist das auch der Sinn ihrer bürgerlichen, wie aller sonstigen, Uniformierung. Uni – Form. Keiner hebe sich heraus (oder sinke hinunter), die Stirnen sind sämtlichst auf e i n Ziel gerichtet; ob du Schnupfen hast oder sonst etwas nervt, spielt keine Rolle. Dazu, das zu erreichen, dient ein Dirigent vielleicht mehr noch, als um ein Klangkunstwerk in seiner bestimmten Weise einzustudieren und zur Aufführung zu bringen. Sein Rücken muß der des Orchesters sein, und all die Individualitäten, die Scherzbolde und Melancholiker, die jungen Mütter und Familienväter, die Maniker, die Bürokraten, die Beamten und Trinker, die Belesenen und Unbelesenen, solche, die gern kurze Hosen tragen, lange, die Scheuen, die Nörgler, die Raucher und anti-Nikotin-Erbosten, die Spätkommunisten und die Konservativen, die Pflichtbewußten und die Abenteurer, all sie müssen hinter diesem Rücken Platz finden, sowie es um die Musik und sowie es um ihrer aller künstlerisches Wohl geht. Deshalb auch heute, immer wieder, Barenboim, das Ärgernis und das Vorbild: Als ich zum ersten Mal sah, wie er nach einer Aufführung in der Staatsoper sein ganzes Orchester auf der Bühne hatte sich aufstellen lassen und wie er dann vor dem Orchester stand, klein, sehr klein, aber präsent und ohne sich zu verbeugen, einfach so dastand, und alle standen einfach so da und schauten das applaudierende Publikum herausfordernd an – da war es deutlich: Ich habe meine Hand gegeben, nun führe ich dieses Orchester, wohin sein alter Rang wieder will. Und ich werde nicht weichen.
Aus vielen Gesprächen dringt die Sehnsucht danach immer wieder durch: Es nehme endlich jemand auch dieses Haus und schlage präsent auf den Tisch. Deshalb hat, bei allem Spott und manchmal Unmut, auch Gezänkel, das durch den Alltag immer mitläuft, und auch der Musiker untereinander, Lothar Zagrosek hier jetzt eine, wenn nicht d i e tragende Rolle. An und mit ihm wird sich wahrscheinlich das weitere Schicksal dieses Orchesters und damit des Hauses bestimmen: bleibt man trotz der 16.000 Abonnenten – kein anderes Orchester Deutschlands kann mit solch einer Zahl aufwarten – eine zu vernachlässigende Nebengröße in Berlin und wird weiter im Zuwendungsgekabbel zwischen Staatskapelle und Philharmonie (und Deutscher und Komischer Oper) zerscheuert, oder wird man zu einer unverrückbar weiteren Größe? – wird es w i e d e r, das m u ß sagen, wer auf die Geschichte dieses Orchesters zurückblickt. Und wenn es denn an dem i s t, daß einen die Streichungen aushungern wollen, muß mit einer Gegenkraft geantwortet werden, die sich am Finanziellen gar nicht aufhängt und also nicht erpreßbar, sondern – ohne zu weichen, eben – künstlerisch innovativ ist. Das ist für einen Dirigenten, der eigentlich nur Musik machen möchte und sie bekanntlich g u t macht, keine friedvolle Weide; er braucht ein Gutteil strategischer Feldherrenart; hießen und heißen Musikchefs denn umsonst Generalmusikdirektor? Ich weiß, den Pazifisten unter Ihnen mißhagt das, auch hat Ihr Mißbehagen meine Sympathie, allein: Im Zweifel für die, sagt Hegel, Tatsachen. Und die sind nicht friedlich. Warn sie’s denn je? Jedenfalls kann es nicht angehen, daß gute Musiker des Orchesters Ihr Haus verlassen, einfach, weil man sie mit dem Lohnzettel abwerben kann. Da muß ein Gefühl herbei, berechtigtes Gefühl, man drehe wieder maßgeblich m i t. Dahin muß eine I d e e. Leute, worum geht es denn? Um das Konzerthaus im Zentrum Berlins. Öffnen muß man es, ö f f n e n. Zu viele Interesse bereiteten gerne auch diesem Haus das klaegliche Schicksal des Schillertheaters. Kleinmodulige Arbeit, und sei sie noch so perfekt, genügt hier nicht mehr. Haben wir denn n i c h t in Berlin ein nahezu unversiegbares Grundwasser aus Kreativität, dem man nur eine erste Leitung legen müßte? Den Aquadukt baut es sich dann schon selbst: quer über den Gendarmenmarkt.– So mein Gespräch gestern nacht. Es wurde sehr spät und ward heute früh mit meinem brummenden Schädel bezahlt. Es sind kleine hübsche, konservative, holzlastige Zimmer, in die wir verbracht sind; in das Betteil ist die Bedienung eines Radios eingebaut, die, schiebt man am Lautstärkeregler, klassische Musik aus der Wand tönen läßt. Freilich schaut man entweder auf eine nachts von Müllautos frequentierte Gasse hinaus; stundenlang wird sich prasselnd am Altglascontainer zu schaffen gemacht. Oder man schaut rückseits auf die Baustelle, wo eine Gebäudewanne ausgehoben wird und eine riesige Zementmischmaschine am Werken ist. Das hielt die Cellisten aber nicht davon ab, um ein Uhr nachts einen Männerchor zu gründen, der abwechselnd auf Deutsch und Finnisch trefflich sang. Auch die Bratschen begingen feiernd ein Beisammen, während Violine, Flöte, Posaune, Kontrabaß und ich mein erstes warmes Mahl der Reise bestritten – bei grasklarem Wein, fischdunklem Thinto und sprudelndfrischem Pivo. Bis ich, lange schon danach, mit dem klugen bedaechtigen Mann, der zu DDR-Zeiten die Akademie für Alte Musik gegründet hat, in einem Pub meinen Kopf zu seinem steckte und dann unsrer beide Köpfe in einer komischen Allianz von Traditions-Ossi und Vorzeige-Wessi versackten, die vielleicht ein Zeug zur Fruchtbarkeit hat.

Heute ist Probe- und Aufführungstag; die Zimmer sind hellhörig, man hört die Musiker spielen von Zimmer zu Zimmer und durch die Gänge hinab bis an die Rezeption. Bisweilen wallt ein Duft nach faulem Unrat durchs offene Fenster herein und zerflattert. Ich bastle im Kopf an Konzepten. Noch bin ich mit der Überarbeitung der Elegien nicht sonderlich weitergediehen, auch die paar neuen Gedichtanfänge liegen unaufgenommen in den Milliarden Bits der Festplatte herum. Fern ist der Tod meiner Mutter, ferne das Hausacher Grab, das ihren Namen nicht trägt. Vielleicht doch, daß ich heute ihr Sterbgedichtchen schreibe (-/-/-/- | -/-/-/-).16.19 Uhr:
Dann ruft mich in meine Siesta hinein und mit einer so tiefen Stimme, daß ich glauben m u ß, sie sei Mann, Reubusch an… um fast unabbrechbar zu erzählen, welch ein Mißverständnis >>>> das sei. „Entschuldigen Sie bitte, das wird für mich ein sehr teures Gespräch, ich bin in Spanien…“ „Das ist mir bewußt“, erzählt und erzählt aber weiter. „Können wir vielleicht nach meiner Rückkehr am Montag telefonieren?“, nein, hört nicht zu, spricht einfach weiter. Da wende ich den Radikalgriff an den Tasten an. Na egal. Ich meine, Reubusch kann ihren/seinen Kommentar ja einfach wieder löschen, dann wär das Mißverständnis dahin, oder Sieer bittet m i c h, ihn zu löschen; das tät ich dann auch. Nebbich! Außerdem Nachricht von der Komischen Oper >>>> wegen meines La-Bohème-Textes, bei dem ich mich einmal in den Namen vertan hab. Das läßt sich leicht korrigieren. Und >>>> Titania http://rdh.twoday.net ruft an wegen der >>>> ANNO-1900-Anthologie, deren Rahmengeschichte zu schreiben ich wegen des Todes meiner Mutter nun absagen mußte; „ich zahl die Auslandskosten, aber das ist jetzt wichtig, weil wir entscheiden müssen.“ Womit sie recht hatte. Und entschied: Das Buch erscheine nun erst nach April, so daß ich neue Zeit für meine Erzählung bis Ende März bekomen habe.

In einer dreiviertel Stunde fahren wir zum heutigen Konzertort los. Ich werde den Laptop mitnehmen; vielleicht gibt es dort einen Netzzugang. Dann könnte ich wieder in Echtzeit erzählen.

Ah, und man faßt es nicht! Jetzt ruft doch abermals diese/r Reubusch an… „Tut mir leid, ich habe dafür jetzt gar keinen Sinn.“ Das durchaus scharf im Ton – und dann gleich die Abbrechen-Taste gedrückt. Es hatte mich bereits genervt, daß mich jemand, dieden ich nicht kenne, schon gar kennt derdie m i c h, einen “Kollegen” nennt. Ekliger geht’s nicht, als auf diese Weise Distanz zu verschmieren.

So, zusammenpacken und unten gegenüber einen Caffe solo genommen. Das ist jetzt erstmal mein Ziel.

18 Uhr:
[Großer Saal von Zaragoza.]Probenbeginn. Und das ist neu, daß ich hier eine Steckdose gefunden habe und im Rücken der Orchesters während der Probe live mittippe. Zagrosek gerade: „Ich will nur ansagen, daß wir heute in der ersten Hälfte des Programms d r e i Stücke haben, und erst nach der Pause kommt der Schumann.“ Vorher gab es einen allgemeinen Begrüßungstusch, und auch der Pianist ward eben begrüßt. Ahhhh! Und der Auditiorio hat einen freien Netzzugang!

Na dann! Stravinski.

Das Bild hierunter stammt von vor einer Minute: Es ist ein herrlicher großer Saal, dessen Segmente durchaus an die Berliner Philharmonie erinnern. Und vor der Probe verstreuen sich einige Musiker quer hindurch in die Publikumssitze, und dort proben sie leise für sich.

Zagrosek, ins Solo des Pianisten hinein: “Fagott!” Die eine Hand mit gestrecktem Finger erhoben.

18.25 Uhr…. César Franck…. Und der Saal hat einen unglaublichen Klang…Und… wahnsinnig schön plötzlich diese Musik, ein Wogen… (ich schneide die Probe direkt in den Computer hinein mit… das, ja!, funktioniert!!)

18.44 Uhr:
Umbau zu Schumann III. Helge v. Nisswandt erscheint wieder, er hatte mich vorhin korrigiert, Die Dschungel gelesen und gemerkt, daß ich >>>> Muti mit Mehta verwechselt (im Link ab 18.53 Uhr) hatte. “Kommentier das!” SMSte ich ihm zurück, aber da “zwangsterminierte” das Programm seinen Netzzugang im Internet Point, wie wiederum e r mir per SMS zurückSMSte. Nun winke ich ihn her… der er ein wenig übernächtigt wirkt von unserm Wein gestern abend, : “Ich habe live-Netzzugang, ich erzähle live mit!” “Nee!” “Doch!… Warte… ein Foto….” (—–) “Oh je, nein, bitte, ich will noch mal glücklicher schauen.” Tut er’s?:Und Zagrosek eben, kurz darauf: “Ich möchte mich für das wunderscjhöne Konzert vorgestern bedanken. Das hat mir gefallen, besonders auch der Bruckner. Heute haben wir Schumann, das ist eine andere Musik, das ist keine Metaphorik, das sind auch keine wagnerschen Mythen, sondern das ist – poetische Prosa. Und so möchten ich Sie bitten, das auch zu spielen.”

Und, ach ja, entschuldigen Sie bitte die Bildqualität. Meine Digitalknipse hat wirklich den Geist aufgegeben; zwar scheint im Programm alles zu funktionieren, aber statt eines Bildes auf dem Display lese ich nur das Wort “Zugriff”; keine Ahnung, was das bedeutet. So muß ich einstweilen mit dem Mobilchen weiterknipsen. Ist ja nicht für einen Katalog.]

Und dann d o c h mal ein scharfer Ton, als die Geigen anders phrasieren, als es ausgemacht war: “Diese Opposition akzeptiere ich ü b e r h a u p t nicht.” Zischend die Luft zwischen die Zähne gezogen: ich – und spüre die kleinen Kügelchen Eises, die momentlang übers Podium rollen. Schon schmilzen. Dann verdunsten und – Musik werden.

19.10 Uhr:
Zweiter Satz. “Und wir bleiben schön schlank….” Vergegenwärtigen Sie sich, daß das jetzt eine Stunde vor dem Konzert geprobt wird.19.21 Uhr:
“So, Dritter Satz… schön k l i n g e n! Pizzicati…” – Zagrosek hat wirklich eine ausgesprochen erzählerische Auffassung von dieser Musik… er entschlackt sie völlig von allem tümelnden Überhang… eine reine Lust, das zu hören.

19.26 Uhr:
“Und jetzt noch ein paar Takte Haydn.” Noch 48 Minuten bis zur Aufführung.

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D A S K O N Z E R T V O N Z A R A G O Z A


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