Tagebuch schreiben – was heißt das überhaupt. Die Tage in einem Buch verschwinden lassen?. Zwischen den Seiten?. Die Worte so klug formulieren, dass sie nicht nur den Wortwächtern durch die Lappen gehen?. Formen, Reflektieren, Auflösen?. Ein Tagebuchschreiber schreibt immer im Geheimen mit sich selbst. Ein Tagebuch wird nicht im Bewußtsein einer möglichen Veröffentlichung geschrieben, niemand ist auch nur annähernd dazu in der Lage, etwas dazu zu sagen, wie denn auch – es liest ja schließlich niemand, weil immer im Verborgenen geschrieben wird. Und es darf alles hinein… Lachen, Freude, Depression, Angst, Liebe, Sonne, Schmerz, Empfindungen, Stimmungen, Regen, Dunkelheit, Licht, Interpretation, Liebesmarken, Wind, Traurigkeit, Zeichnungen, Bilder, Hass, getrocknete Blumen, abgerissene Eintrittskarten, Gedichte, Wut, Lakritzpapier, Brausepulvertüten – die Würfel passen schlecht zwischen die Seiten, die Jahreszeiten, Sehnen, die Nacht, Erregung, Geborgenheit, Lust, Träume, Wohlbehagen, Geilheit, Ficken wollen, dunkelrosafarbene Farbfolien, das Recht der absoluten Sinnlosigkeit eines Handelns, die Farbe Rot, selbstverständliche“ Einsichten, ohne den eigentlichen Charakter dieser Einsichten jemals beweisen zu können, Irrungen, Wirrungen, Fotos, Erkenntnisse – welche man auch auf jeder Wegkreuzung erlangen kann, weil es entweder nach links, rechts, oder geradeaus geht, nur nicht wieder zurück, Mut, Einsicht, Gedanken, aber vor allen Dingen eines:
Das Leben!
Und dann gibt es da noch Tagebücher, die ganz besondere Tagebücher sind. In ihnen kann man sich neu erfinden. Es besteht allerdings das Risiko, dass man seinem neu erfundenen Selbst nicht mehr ausweichen will, diese Tagebücher schenken diesem neuen Selbst ein neues Leben, welches ein anderes Selbst – aus welchen Gründen auch immer – einmal verlor. Dieses neue Leben hat definitiv eine ganz andere Qualtität als das Verlorene.
Ich nenne ein Tagebuch inzwischen „Ego-Dokument“ und das ist gut so. Mit der Illusion der beschriebenen Wirklichkeit die nächste einfärben, auch das ist Leben. Félix, quí potuít rerúm cognóscere cáusas, oder auch nicht. Früher dachte ich immer, dass nur die Subtanzlosigkeit Wandel zulassen kann, es stimmt nicht… gerade die Illusion einer beschriebenen Wirklichkeit ermöglicht den Wandel.
Mit der Illusion der beschriebenen Wirklichkeit die nächste einfärben,
auch das ist Leben.
Goldene Wortschmiedearbeit, die Sie da leisten, Herr Cellini! Woran ich mich allerdings ein wenig reibe, ist ‘die Illusion der beschriebenen Wirklichkeit’…
Meine Irritation, mein vages Unbehagen, lässt sich am Begriff der ‘Illusion’ verankern…Dieser Begriff, der bei Ihnen doch immerhin eine gewichtige Funktion im ‘richtigen’ Leben übernehmen soll, scheint mir zu schwach für die ihm zugedachte tragende Rolle…! Wahrscheinlich ist es dessen massiver Scheincharakter, der meinen ‘Widerstand’ herausfordert. Nun bin ich ja sonst eher ein beharrlicher Verfechter des ‘Scheins’ in allen seinen manchmal auch grellen Varianten, aber hier suggeriert der Begriff ‘Illusion’ in seinem ‘als ob-Charakter’ die Anwesenheit einer Wirklichkeit, welche wirklich als d i e wirkliche – sich verbergend oder nur verborgen hinter dem bloß illusionistischen Schein – ihrer endlichen Entdeckung nur zu harren brauchte…
Das nun wage ich zu bezweifeln!
Mein völlig belangloser Widerstand gegen den gewählten Begriff der ‘Illusion’ löste sich sofort auf, wenn an dessen Stelle das >> ‘Phantasma’ träte…Die imaginäre Phantasie begründet und entwickelt das, was der gemeine Mann ‘Wirklichkeit’ nennt. ‘Wirklichkeit’ nicht als ‘fable convenue der Philister’, wie Hofmannsthal sie nennt, nicht als ‘die Kunst, nach festen Begriffen zu lügen’, wie Nietzsche sie definiert, sondern ganz anders….
(Fortsetzung folgt…)