…Bedeutungsh ö f e, die eben nicht definiert, sondern ungefähre sind und insofern musikalischen, nicht technischen Welten verwandt. Indes zeichnet das Ungefähre semantischer Höfe aus, daß sie demjenigen, der sie wahrnehmen kann, ganz ungefähr bleiben und auch bleiben müssen. Ich kann mit semantischen Höfen nicht kalkulieren, da sie eben nicht-definierte s i n d – oder sie verlören ihren Halo, diesen Mondhof des Bedeuteten, der sich jenen Wahrnehmungen vergleichen läßt, die wir am Rande unseres Gesichtsfeldes haben: sie sind unscharf, aber – als eigentlich evolutionsbiologisch entstandene Warnsysteme – unmittelbarer, als wenn wir uns direkt auf etwas konzentrieren. So spürt ein Kämpfer den Angreifer im Rücken eben nicht nur, wenn er mit dem Wind angreift und nach Knoblauch riecht – wie Morgan „Azeem“ Freeman das in >>>> Reynolds „Robin Hood – Prince of Thieves“ völlig richtig bemerkt. Sie kennen das ganz alle: Man muß gar nicht hinschauen, um zu bemerken, daß jemand – oder ein Etwas – in den Raum tritt, der bzw. das mit Ihnen etwas zu schaffen hat. Was hier wahrnehmungspsychologisch gespürt wird, erscheint in der Dichtung als Bedeutungshof.
Es gibt dazu eine sehr schöne Stelle bei Edgar Poe, nämlich in den Morden der Rue Morgue. Da sagt Dupin folgendes, und das ist eine viel mehr poetische als naturwissenschaftliche Erkenntnis, ja ist vielleicht das Z e n t r u m poetischen Denkens (und es hat, in diesem Fall, mit detektivischem Instinkt zu tun):
>>>> (…), and it is possible to make even Venus herself vanish from the firmament by a scrutiny too sustained, too concentrated, or too direct.
Poe, Murders in the Rue Morgue.<<<<
Das ist eine sinnliche Erfahrung, die wir tatsächlich alle machen können und immer wieder machen, die aber, nutzt man sie zur Konstruktion eines Textes, kaum mehr verstanden wird, weil wir verlernen – und, glaube ich, verlernen s o l l e n -, auf solche Höfe zu achten; statt dessen werden wir auf – moralische, soziale, personalpsychologische – Inhalte gelenkt. Man behauptet das gerne als Konzentration, vergißt aber, daß manche Formen der Konzentration den Wahrnehmungen poetischer Wahrheiten ganz abträglich sind, ja die Poesie aus der Dichtung damit geradezu eliminiert wird und damit sie selbst. Das ist der Grund, weshalb bei einer wirklichen Dichtung Bemühungen um Interpretation, die nicht ihrerseits poetischen Characters sind, immer scheitern müssen. Und das ist auch der Grund, weshalb den Jugendlichen auf dem Gymnasium jegliches Verständnis für Dichtung vermittels halbgarer Interpretations-Verlangen so furchtbar ausgetrieben wird, die man zudem noch benotet. Wer unter Ihnen hat n i c h t bis zum Kotzen Kafka interpretieren müssen? Und wenn Sie ehrlich sind, werden Sie zugeben, daß keine Klassenarbeit, die Kafka interpretieren sollte, je dazu geeignet war, Ihnen Kafkas Dichtung nahezubringen. Bei Gedichten verschärft sich diese Abschreckung noch. Literarwissenschaftliche Disziplinierung hilft Ihnen nämlich nur dann, wenn ihr eine L i e b e zum Gegenstand vorausgeht, die so groß ist, daß auch staubigste Analyseexerzizien ihr nichts anhaben können. Allein in diesem Fall kann aus dem gymnasialen und später akademischen Staub etwas Organisches werden, das lebensfähig ist und aus Ihnen eine gute Germanistin, einen guten Germanisten, bzw. Literaturwissenschaftler werden läßt – einen guten Dichter freilich immer noch nicht. Keine Universität, kein Institut für Literatur und kein creative writing-Seminar kann das aus Ihnen machen. Einer der intensivsten lyrischen Poeten der Gegenwartsliteratur, Wolfgang Hilbig, war Werkeugmacher. Liebe ist nicht lernbar, und übertragbar nur dann, wenn etwas da ist, auf das eine Übertragung wirken kann.
….”Bedeutungshof”… so müßte man die Bahnhöfe an den Schnittstellen zu der jeweils anderen Welt des Anderen nennen und eben die Schnittstelle zwischen Text und Leser. Der Inhalt Ihres zweiten Teils wird innerhalb eines Studiums nicht gelehrt, ich glaube allerdings auch, daß man das nicht lernen kann.
Ihren Bedeutungshof setze ich mit meinem Gefühl für einen Text gleich. Manchmal nehme ich in der Buchhandlung ein Buch in die Hand… ist mir kürzlich passiert, da nahm ich mir von Kenzaburo Oe das Buch “Eine persönliche Erfahrung” aus dem Regal, setzte mich, holte mir einen Kaffee… das kann man hier in Hannover bei Schmorl u. Seefeld machen, und begann zu lesen. Ich vergaß alles um mich herum… irgendwann tippte mich eine Verkäuferin an: “wir schließen gleich, sie müßten sich jetzt dazu entschließen, das Büchlein zu kaufen”… ich schaute sie an, ich tauchte aus meinem “Bedeutungshof” wieder auf und kaufte es. Ich las es am gleichen Abend und in der Nacht zu Ende. Der Inhalt und die Art und Weise, wie Kenzaburo Oe schreibt… (ein Mann wird mit der Tatsache konfrontiert, daß er Vater eines behinderten Sohnes werden wird). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb hinten auf den Einband: “Dieses Buch, das mancher Leser vielleicht als obszön empfinden wird, denn es verletzt, absichtlich sogar, das Schamgefühl, darf man wohl sittlich nennen”.
eine sehr interessante Bemerkung von Poe Diese Bemerkung von Poe über Venus hat bei uns eine komische Folge gehabt. Anfang des XX. Jahrhunderts erfand Maurice Leblanc die sehr bekannte Gestalt von Arsène Lupin. Als groβer Bewunderer Poes hat Leblanc den Namen Lupin aus Dupin entnommen. In einem seiner besten Romane: Die Gräfin Cagliostro oder die Jugend des Arsène Lupin ist der Held auf der Suche nach dem mittelalterlichen Schatz der Mönche, der in der Normandie liegt. Wo? Lupin entdeckt, daβ die sieben Abteien vom Pays de Caux (Normandie)auf der Erde das Bild vom groβen Bären im Himmel widerspiegelt. Er erfährt auβerdem, dass der Schatz mit dem arabischen Wort „Alcor“ in Verbindung steht. Alcor bedeutet im Arabischen: Probe. Um welche Probe geht es? Hier tritt Poe ein: man muss einen Stern anstarren (hier „Milza“ vom groβen Bären) und bald verschwindet er – genau so wie Venus bei Poe – und wenn man gute Augen hat (das ist die Probe !)entdeckt man neben Milza, den Stern Alcor,der sonst von Milza geblendet wird. Lupin überträgt diese Entdeckung auf Erden und findet die genaue Stelle, wo der Schatz der Mönche begraben liegt.
Die Affäre ist aber viel komplizierter noch als ich sie hier erzähle und es lohnt sich, den Roman zu lesen, um festzustellen, wie sich die Poesie von Poes Bemerkung erweitern kann.
ein kleiner Irrtum Der Stern heisst nicht Milzar sondern: “Mizar”.