Arbeitsjournal. Dienstag, der 2. Oktober 2007.

7.36 Uhr:
[Arbeitswohnung. Scelsi: Yamaon >>>> für Marianne Fritz.]
Verschlafen, da nach einem langen Gespräch mit dem Profi erst um halb drei im Bett gewesen; also n i c h t verschlafen, sondern willentlich, als der Wecker klingelte, liegengeblieben. Nachts noch ein, man muß es so sagen, mieser Briefwechsel mit dem neuen (ehrenamtlichen) Redakteur von >>>> Opernnetz.de, einem Menschen namens… sagen wir Jon Heebsteven, der die Auffassung zu verteten scheint, sich tatsächlich in einem Wald zu befinden, wenn er mit mir korrespondiert. Ich habe auf das schärfste zurückgeschrieben – und gehe jetzt einmal davon aus, daß das meine Arbeit für das Opernnetz beenden kann. Aber das wird von dem Herausgeber dieser Internet-Publikation abhängen. Ich würde es sehr bedauern, ginge meine Opernnetz-Zeit wegen eines solchen Schnösels zuende, der es ausgerechnet mir vorzurechnen wagt, daß er von etwas leben müsse.

Dann finde ich heute morgen >>>> den Kommentar AbeißtZ’s, mit dem es in Der Dschungel einen Streit gegeben zu haben scheint, an den ich mich aber gar nicht mehr erinnern kann; es sind dazu einfach zu viele Streits, mit und in denen ich lebe und leben muß. Jedenfalls, ob ich damals nun recht oder unrecht hatte, freute ich mich über AbeißtZ’s Rückkehr, – aber das war schnell getrübt, weil er mitteilt, >>>> Marianne Fritz sei gestorben. Ich konnte zu der Nachricht erst gar kein Gefühl entwickeln, sie ging wie taub durch mich hindurch.

Gestern wäre dann auch noch mein Junge beinah überfahren worden. Das Beinahe ging so:
Wie überfuhren auf dem Rad, der Junge hinter mir, ich sichernd vorweg, den Zebrastreifen Stargarder/Dunckerstraße. Ich sah in guter Entfernung einen Wagen und fuhr vorweg, meinem Jungen bedeutend, daß er folgen könne. Kaum ist das Kind auf der Straße, fängt der herankommende Wagen zu hupen an und – gibt heftig Gas. Adrian, der schnell ist, tritt in die Pedale, ich hab mich des Hupens wegen herumgeworfen, sehe dem Fahrer des Autos noch ins Gesicht, da knallt mein Junge mir hinten drauf und fällt. Ich hatte so unmittelbar gebremst, weil ich mein Fahrrad herumreißen und dem Auto nachfahren wollte, um den Typen zu stellen und von seinem Fahrersitz herauszureißen. Der Mann hatte gesehen, daß mein Junge (noch auf den letzten drei Zebrastreifen der Stargarder) gefallen war – gab nun erst recht Gas und jagte davon.
Weil mein Junge gefallen war, jagte ich nicht hinterher, sondern kümmerte mich – mit sofort hinzugeeilten vierfünf Leuten – um das Kind. Dem aber nichts geschehen war, außer daß der Oberdeckel seines Fahrradhelms gebrochen war. Es erboten sich unmittelbar drei Zeugen, die den Vorfall gut beobachtet und sogar das Kennzeichen des Fahrzeugs notiert hatten. Es lautet

B-PM 1281
.
Sollte also jemand von Ihnen den Fahrer, bzw. Halter des Fahrzeuges kennen…

Einer der Zeugen holte die Polizei – ein Schritt, der mir ja prinzipiell fernliegt und unangenehm ist; ich löse sowas lieber selbst, anstelle mich an fremde Schein-Autoritäten um Hilfe zu wenden. Es hat etwas Peinliches, wenn man sie ansonsten meidet und auch nicht sonderlich mag, aber dann, ist man geschädigt worden, dennoch nach ihnen ruft. Egal, i c h bin’s ja nicht gewesen, der sie geholt hat.
Sowieso hätte ich, hätte der Fahrer angehalten und sich entschuldigt, die Sache auf sich beruhen lassen. Jeder kann mal einen schlechten Tag haben, jeder kann mal einen Zebrastreifen übersehen; wenn nichts wirklich Schlimmes passiert, muß man es auch nicht prinzipienhalber mit Führerscheinentzug ahnden. Nur hatte der Mann in diesem Fall ja noch absichtlich Gas gegeben. Das geht tatsächlich entschieden zu weit.
Sa sah das auch mein Anwalt, den ich, während wir auf die Polizei warteten, angerufen habe. „Tatbestand: Gefährlicher Eingriff in die Straßenverkehrsordnung.“ Und einer der beiden Polizisten, beides in ihrer Distanziertheit sehr freundliche Menschen, sagte: „Das klingt so, als hätte der Fahrer das Kind gejagt.“ Ich für meinen Teil glaube, der hat das Kind gar nicht gemeint, sondern mich: weil er sich ärgerte, daß ich als Fahrradfahrer über den Zebrastreifen fuhr, und m i r wollte er den Schrecken einjagen und hat dabei aus seinem Ärger das Kind ganz übersehen. Als er merkte, was geschehen war, bekam er Muffesausen und gab fahrerflüchtiges Fersengeld.
Interessant hier meine Wahrnehmungspsychologie: Anders als die Zeugen würde ich nicht sagen können, welch ein Fahrzeugtyp das gewesen ist, ja nicht einmal, von welcher Farbe es ist. Aber ich kenne das Gesicht des Fahrers, sehe es hinter der Scheibe der Fahrerseite mich ansehen.

Ich sollte meine Arbeit auf etwas anderes konzentrieren, aber die >>>> Scelsi-Variationen gehen mir nicht aus dem Kopf; ich schlief sogar über zwei Verszeilen ein, und in der Bar, während ich gestern frühnacht auf den Profi wartete, bastelte ich bereits an der dritten.

16.48 Uhr:
[Mozart, Klaviersonate Nr. 16, Glenn Gould.]
Ich hab zwar die Heidelberger Datei schon mal geöffnet, aber komme nicht von diesen >>>> Scelsi>>>> Stücken los. Nun steht bereits der Anfang der Variation V. Da ich von Scelsi persönlich fast nicht weiß, bzw. wußte (was seiner Auffassung der Unpersönlichkeit von Kunst sehr entspricht), recherchier ich dauernd im Netz und muß dabei ebenso dauernd Italienisch lesen, den riesigen Nuovo Dizionario mit seiner absoluten Miniaturschrift immer neben mir. Es war denn doch ein Moment… sagen wir: evidenten Aufstaunens, als ich las, daß Scelsis Familie sizilianischer Herkunft ist.
Scelsis Musik begleitet mich seit Jahren, und oft intensiv. Jetzt aber frage ich mich, w a s diese auf mich so enorm wirkende Faszination eigentlich ausmacht; denn Scelsi tendiert zur völligen Aufhebung des Persönlichen, Urheberschaft interessiert ihn eigentlich nicht (was nach seinem Tod zu urheberrechtlichen Streitigkeiten geführt hat, die bis jetzt nicht ganz geklärt sind); er verweigerte Fotografien, wollte nicht gesehen sein und sich, von indischer Philosophie geprägt, in seinen Klängen sozusagen auflösen, während ich selbst mich ja eher mit einem distinkt-Persönlichen und der Unterscheidung, ja einem manchmal radikal-Individuellen positioniere.
Zur einer „Erklärung“ der >>>> Variation IV verhilft dieses Bild:.Es ist >>>> von dieser Site genommen.

2 thoughts on “Arbeitsjournal. Dienstag, der 2. Oktober 2007.

  1. Ungebremst Wer Zeit zu hupen hat, hat Zeit zu bremsen! Ich werde diese Zombies im Straßenverkehr nie verstehen. Deutschlands Autostraßen bleiben die größte nicht-überdachte Psychiatrie Europas.

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