Die Nacht vom 1. auf den 2. April 2016, Silent Green Berlin: Hélène Grimauds WATER in der Yellow Lounge der Deutschen Grammophon.




Eine siebzehn Meter hohe überkuppelte Halle mit zwei rangartigen Umläufen, in deren Wandseiten Mulden für Urnen eingelassen sind, davor im ersten Etagenrund Stühle; der Flügel steht auf einem Podest mitten in dem alten Trauersaal, Elektronik für das zweite Featuring des Abends ein wenig abseits. Schon um halb einundzwanzig Uhr stehen die Leute in einer sehr langen und dichten Schlange den engen Anweg hinan; die letzten Besucher werden erst gegen Viertel nach zehn hereingekommen sein und ihren Platz gefunden haben: die glücklichen auf Sitzkissen oder direkt auf dem Boden rund um das Klavier herum, die meisten stehen dahinter, eng; auch oben auf der Empore haben sich noch vor den Stühlen Besucherreihen gebildet. Wer die Zeit fand, allerdings, konnte sich ein Glas Wein, ein Bier, eine Cola besorgen. Hin und wieder fällt dann während des Konzertes eine Flasche um und klirrt nach – was in den zur Aufführung kommenden Wassermusiken entweder nicht stört oder ihnen sogar ein liveKlirren hinzuschenkt, das als Tonreflex der Halle selbst wirkt. Nur die anfängliche Weiterquasselei, wie gemurmelt auch immer, geht ein bißchen auf die Nerven.


           Ein Mond geht in der Hallenkuppel zweifach auf. Die Großleinwand zeigt Wasserbilder, Blumenbilder, permanent wechselt die Lichtbedimmung des Saales. Strahlen von Kameraleuchten schießen auf, noch immer drängen Leute herein. Schließlich stehen, bzw. sitzen und hocken wir dicht an dicht.

Das >>>> Silent Green ist unterdessen einer der „angesagtesten“ Veranstaltungsorte Berlins jenseits der bürgerlich-konservativen Kunsttempel; hier gehen New Age, Pop und Techno, House und Hochkultur nicht nur zusammen, sondern bisweilen ineins. So war und ist es eine rundum überzeugende Idee der Deutschen Grammophon, ihr genialisches Format der >>>> „Yellow Lounge“ aus dem in anderer Weise perfekten >>>> Berghain eben hierhin zu verlegen. Vielleicht war die Anmietung dort zu teuer geworden. In jedem Fall hat das Konzept von Anfang an mit der sei es verklemmten, sei es sonstwie hölzernen Situation in bürgerlichen Konzerthäusern restlos aufgeräumt; sogar das Repräsentative spielt hier keine Rolle mehr, sondern beinahe alles fällt weg, das nicht auf die Künstler:innen selbst, bzw. ihre Künste bezogen wäre. Hier ist niemand hingekommen, weil es sich für Stand und Klasse so gehöre. Dennoch wurde mir, als ich das Gelände einmal umfuhr und den riesigen Schornstein sah, momenthaft etwas schummrig, in Deutschland zumal, also eben nicht nur wegen der quasi selbstverständlichen Morbidität, die erst ehemalige Todesstätten von Tieren zu Kulturzentren gemacht hat und jetzt auch die Entsorgungsstätten gestorbener Menschen. Doch tritt man in das clubnahe Gedränge unter den Lichtinstallationen und drückt sich in das wogende, bisweilen auflachende Gesprächsrauschen, verliert sich das bedrückte NachLuftSchnappen schnell. Außerdem liegt unter alledem, quasi ein stehender Fluß, der elektronische Pop, oder er fällt auf es herab: Die Yellow Lounge gibt einzig vor, es müßten elektronische Remixe „klassischer“ Musikstücke eingespielt werden. Unter anderm war dies gestern, im quasi Trance-, bzw. House-Stil, eine seltsame Variante der burlesken Trunkenheitsarie aus Purcells The Fairy Queen. Auf solchen Klängen schwammen dann, zwei Inseln gleich, die beiden Teile der eigentlichen Aufführung, durch die aber aus dem elektronischen Meer gespeiste Wasseradern führten.
Nun diente der Abend der Promotion der neuen CD Hélene Grimauds, >>>> Water:


Sie besteht aus acht „klassischen“ Klavierstücken von Franz Liszt über Debussy und Ravel bis zu Luciano Berio, für die aber der britische Allroundkünstler >>>> Nitin Sawhney Transitions geschrieben und für den Klangcomputer programmiert hat. Schon auf der CD konnte mich ihr Ambientsound nicht überzeugen; im ersten Teil des Konzertes im Silent Green stimmte überdies nicht die Legierung von Live und Zuspielband, die im zweiten Teil allerdings perfekt war: Hier erhoben sich – anders als auf der CD – aus dem je letzten natürlichen Anschlag die elektronischen Laute, und der erste natürliche Anschlag des nächsten Stückes erhob sich aus ihnen. Freilich wäre zu wünschen gewesen, daß die Elektronik tatsächlich eine motivische Arbeit leistet, die je das Vor- ins Folgestück musikalisch überführt, vielleicht sogar beide miteinander thematisch verwebt. Doch da sie sich im liveKonzert sozusagen aus den clubhaften Vor- und Nachmusiken, also aus den Remixen erhob, bzw. von ihnen über die Inseln zu fließen schien, störten mich Sawhneys ziemlich simple Kompositionseinfälle weniger als auf dem, wenn man es mehrmals hört, Studioprodukt. Vor allem kam ja das dicke Ende überhaupt erst noch nach.

Seltsamerweise wirkt Hélène Grimaud heute mädchenhafter als auf der >>>> Bach/Busoni-Aufnahme von vor fünfzehn Jahren, die mich im vergangenen September >>>> derart berückt hatte, daß ich das Portrait der Pianistin wochenlang auf meinem Desktop behielt. Nun war sie, ist sie vielleicht, gefälliger, scheint nicht mehr ganz die Konzentration allein auf die Musik zu haben, ist vielleicht kompromißbereit geworden, etwas, das der Aufnahme im Berliner Kammermusiksaal noch völlig abgeht. In ihrem Spiel freilich ist sie es nach wie vor nicht, das auch bei Gefahr eines, seltenen, Fehlanschlages den Ausdruck über die Virtuosität stellt; diese ist vielmehr jenem zu Diensten, und auch die Idee von „Reinheit“ tritt zurück. Grimaud ist keine Fundamentalistin. Andernfalls hätte sie sich gewiß die, ich kann es anders nicht sagen, grauenhaft verkitschte „Visual Art“ von >>>> Marta Bala nicht gefallen lassen, hingegen die von drei verschiedenen Orten aus mitgeschnittenen Aufnahmen der Pianistin, meist nur ihrer Hände, bisweilen ihres Gesichtes, auch der gleichsam Panoramen ihrerseits so musikalisch gemischt wurden, daß nicht nur ich von Zeit zu Zeit von der tatsächlichen Künstlerin zu ihrem technischen Abbild abgelenkt wurde. Immer wieder, selbst gegen unbequeme Lagen, drehte ich den Kopf in den Nacken.
Es ist dies eine möglicherweise paradigmatische Beobachtung, daß uns die technischen Abbilder unterdessen lebendiger dünken als je ihr Vorbild. Allein an der Größe der Leinwand kann dies kaum liegen. Vielmehr ist es, fürchte ich, eine bestimmte Art von Autorität, deren Wesen darin besteht, uns die Wahl „abzunehmen“: Der jeweilige Ausschnitt ist gesetzt, unser Auge wird geleitet. Fremdbestimmtheit, wofern in einer einverständigen, sich vertrauenden Menge erlebt, wird als erlösend empfunden.


           ‚Ich sitze ihr so nahe, daß ich ihre Haut riechen könnte‘, dachte ich. Was nicht der Fall war. „Ich sehe euch alle nicht“, sagte wiederum sie, „aber ich spüre euch.“ Eine erstaunlich tiefe Stimme. Und wie froh sie darüber sei, ihre CD gerade in Berlin spielen und vorführen zu können, „to perform it the first, perhaps the last time in it‘s original form“.
Der zweite Teil hatte begonnen.
Es war Viertel nach elf.
In der Pause war selbst zur Toilette kaum ein Durchkommen gewesen.
Nun entwickelte sich tatsächlich eine Art Dialog von Klavierspiel und Zuspielband; ich hatte sogar bisweilen den Eindruck, der elektronische Hall verfremde, wie bei präparierten Klavieren, auch den direkten Klang – besonders bei Janáčeks Im Nebel Nr. 1. Aber der hohe Raum tendiert von sich aus zu an ihren Rändern verfließenden Tönen; die Klänge lassen sich kaum sicher orten: für Clubatmosphären perfekt – für Franz Liszts Wasserspiele, vorher, freilich erst recht.
Die „Jeux d‘eaux à la Villa d‘Este“ haben mich schon auf der CD am meisten beeindruckt, doch live, zumal in einem solchen Saal, läßt sich‘s Liszts melodisch durchzogener, manchmal auch wühlender, wenn nicht beharrender Klangmalerei gar nicht mehr entziehen, dieser Mischung von Virtuosität mit dem Experiment einer klanglichen Zukunft aus Pathos und Kalkül. Da warf sich die Grimaud „als wie“ mit ganzem Leib hinein, träumte in den melancholischen Phasen, sang in den sehnsuchtsvollen, wütete im auftrumpfenden Akkordanschlag. Und Debussys La Cathédrale engloutie, das den Abend beschloß, wirkte wie ein Nachfahr, der die Harmonik noch weiter auflöste, bzw. von Liszt vorangetriebene Entwicklung in neue Harmonien perfektionierte – wobei freilich sämtliche Musiken des Abends, auch die elektronisch „modernen“ der Clubs, in der Tonalität blieben. Insofern konnte und kann von Moderne nicht wirklich die Rede sein, selbst Berios Wasserklavier ist schon als Komposition harmonisch recht zahm und von seinen großen elektronischen Musiken fast so weit entfernt wie die neuen elektronischen Klänge der House- und Trancemusiken und Nitin Sawhneys esoteroklebriges Geklimper.




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Doch: …das den Abend beschloß? – : nein! Leider. Denn nach dem enormen Applausjubel setzte sich die Grimaud noch einmal ans Klavier, nun allerdings für die zweite Promotion des Abends: bewerbend eine mit >>>> Schiller komputierte Kurzstückssingle. Gegen das nun, was wir da zu hören bekamen, waren selbst die Klassik-Remixe, die den Abend eingeleitet hatten, hochkomplexe Organismen und nicht etwa Unterhaltungsmusik. Und selbst der Kitsch der „Visual Art“ wurde zur zwar nach wie vor Postkarten-, doch immerhin –kunst gegenüber dieser öde Akkord auf Akkord schichtenden und/oder Akkorde auflösenden Klangmarmelade, die nicht ein Klischee des Quintenzirkels ausließ. Daß hiernach der Beifall kaum minder brandete als bei der liveAufführung Waters, das freilich stellt das Konzept der Yellow Lounge dann doch etwas in Frage. Wenn jemand ein grandioser Schauspieler ist, bedeutet das mitnichten, auch jeder der Filme sei gut, in denen er mitgewirkt hat. „Ich mag ja Kitsch“, sagt Schiller, also Christopher von Deylens, „nur muß es guter sein“:

Ecco.

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Deutsche Grammphon

>>>> Yellow Lounge

Hélene Grimaud

>>>> Water