ARGO. ANDERSWELT. Textauszüge für das Preislesen am 12. Mai 2007. LCB Berlin. ARGO (264).

[Als >>>> Tonaufnahme (mp3) vom Döbin-Preislesen 2007.]

I

aus der Dritten Abteilung: AISSA DER STROMER
TS-S.328 – 335

(…)
Freilich war, wovor sich Goltz, auch Fischer jetzt und von Zarczynski so fürchteten und was andererseits Ungefugger offenbar zur sozialen Basis derart radikal umgestalten wollte, in Buenos Aires längst signifikante Praxis des seelischen

Lebens: besonders dort, wo man 5. Kapitel liebte. Nicht nur, daß, der Krankheit wegen und also aus hygienischen Gründen, sich die meisten geschlechtlichen Akte ohnedies in Infomaten vollzogen (die Propaganda der Myrmidonen nannte sie Vögelvolieren: wurden die Menschen lüstern, so schnallten sie sich ins Gerät und fielen erst dann – real völlig getrennt, in den Ganglien aber verschaltet – übereinander her). Sondern bereits erste Kontakte spannten sich, leise schwingende elektronische Fäden, im Cyberraum; vermittels kleiner anonymer Profile, die durchaus annoncierenden Character hatten, machten sie einander ihre Partnersuche bekannt. Und wurden beinahe immer fündig. Woraufhin sie sich, je nach Mentalität, vorsichtig oder ironisch näherten: sich erst zu unterhalten begannen, schon sich zu öffnen und überaus schnell deckten sich auch erotische Vorlieben auf – sagen wir: Fantasien. Aufgrund der pseudonymen ‚Urheberschaft’ kannten diese nur wenig Grenzen. Begegnete man einander dann real und matchten nicht nur sie, sondern die pheromonen Körper zugleich, was freilich nicht immer der Fall war, ließ sich eine unmittelbare Vereinigung im Infomaten nahezu nicht mehr vermeiden; sie ja war gerade angestrebt. Selbst wenn ihr das speziell Körperliche genommen wurde – physischer Austausch und physischer Kontakt -, ließ sich der Vorgang als neue sexuelle Befreiung begreifen. Immerhin war der Gebrauch von Kondomen schon lange vor der Geologischen Revision sozial verpflichtend gewesen, a u c h eine Spanische Wand zwischen den Körpern, man warf die in ihren länglich schlaffen Ballons wie kleine Hoden schaukelnden Flüssigkeiten ins Klo, anstelle sich diese und damit den anderen im Liebesakt einzuverleiben: Schärfer ist Getrenntheit symbolisch nicht zu fassen. Und hatte doch allen Grund dazu gehabt. Auch so, notwendig-profanierend, war der Zukunft zugestrebt worden, die unterdessen Buenos Aires’ Gegenwart war.
Dennoch gab es Liebe, sogar mehrere Lieben zugleich, die sich gerade dadurch legitimierten, daß an körperliche Realisierung nicht gedacht war. Denn der verbale Kontakt affizierte nahezu jeden empfänglichen cerebralen Bereich, so daß bereits die alten Chats nicht wenig von den heutigen Infomaten gehabt hatten; das gegenwärtige Web sowieso. Man liebte, um es paradox auszudrücken, den Klang, den die geschriebene – unterdessen nur noch gedachte – Mitteilung des nicht selten fünf/sechshundert Kilometer entfernten Gesprächspartners hatte. Man hätte für den Opfer gebracht. Und brachte sie bisweilen. Es gab große Sehnsucht. Wer mit seinem Jürgen in Sevilla lebte, konnte sehr wohl mit Achim ein zweites, seelisch nicht minder intensives, vielleicht sogar intensiveres Leben in Genua führen. Mit einem dritten, vielleicht einem vierten Mann noch im Freiburger Breisgau und in Nomentana. Paradoxer- wie moderierenderweise ließ sich so das traditionelle Konzept der Monogamie erhalten, wie es doch, zugleich, strikt allen Boden, außer eben diesem, verlor. Selbst brüchige Menschen fanden da ihr inniges Auskommen, mochte auch Physis oder Geist zu geschwächt sein, um eine reale Partnerschaft zu ertragen.
Etwa war, ein Jahr vor ihrem Tod, Corinna Frieling mit Cord-Polor Kignčrs bekanntgeworden, der sich im Web Wolfsgrau nannte und ihr eine Form von Lebenskraft gab, ohne die sie ihre Krankheit möglicherweise weniger stolz ertragen hätte. Kignčrs, das sagte schon sein etwas mythischer Name, stammte aus dem tiefsten Osten, er war Söldner gewesen, ein Mann, der nicht viel fragte, wenn es zuzuhauen galt. Aber das Innre voller Poesie, im Sturmgepäck stets Ungaretti dabei. Er konnte viel reden, eine sich dann unabreißbar entladende Suada, die zwar auf ihrem intellektuellen Recht nicht ohne gute Gründe bestand, aber doch etwas so Gewaltsames hatte, daß sich Gesprächspartner schnell wie ein gestelltes Wild vorkamen. Meist indes saß er in den Kampfpausen da, stumm, grollend irgendwie, entweder in seine Gedanken versenkt oder das Gedichtbändchen nah an den Augen; nicht selten murmelte er Verse mit: Ma se mir guardi con pietà,/ E mi parli, si diffonde una musica,/ Dimentico che crucia la ferita.*. Er war Freischärler der unteren Stufe gewesen, hatte auch niemals soldatische Karriere im Blickfeld gehabt; so war er nach dem Ostkrieg ausgemustert worden. Er hatte dem Osten für immer, dachte er, seinen Rücken gekehrt und verzehrte sein Ruhegehalt in Palermo. Aber er fand keinen Anschluß in der Stadt, hauste in einer Einzimmerwohnung mit Balkon vor sich hin, war insgesamt schroff, doch hing an schmalen Frauen. Er trank viel, das mochten die nicht. So betrat er das erste Mal einen Chat, Wolfsgrau, das paßte, und da er gut lesen konnte, verstand er es zu schreiben. Daß ihm, wo immer er war, der Tod so klein wie ein Wellensittich auf der rechten Schulter saß, war seines mächtigen Nackens wegen nicht gleich zu sehen. Doch hatte er mit seinen beiden Ehefrauen eine so tragische Erfahrung gemacht, daß er sich, er war da für so etwas an sich schon zu alt gewesen, jedenfalls hätte ihn keiner gezogen, für Skamanders Sonderbrigaden anwerben ließ; sogar an zwei Freischärler-Kommandos Brems war Kignčrs beteiligt gewesen. Susanne und Maren waren – im Abstand allerdings von acht Jahren – jeweils tödlich erkrankt. Es lag darum an ihm, daß sich die Frieling und er nie trafen, sondern eine Cyber-Affaire durchlebten, die zart wie unter Jugendlichen war. Und ebenso intensiv: die Sehnsucht schäumte und schäumte. Kignčrs dachte, sähe er Corinna nicht, bleibe sie frei von dem Fluch. Die Frieling wiederum, der ihr nahes Ende schon anzusehen war, war gleichfalls froh darum; sie mochte sich nicht zeigen fast ohne Haar. Dennoch war sie jeden Tag stundenlang mit dem Mann. Es war das erste Mail seit Broglier und nach der kurzen Affaire mit Deters, daß sich diese lebenskluge Frau wieder derart auf jemanden einließ. Wahrscheinlich war Kignčrs ihre überhaupt beste Wahl. Sie mailten einander Bilder von sich, sie aus der Zeit vor dem Krebs, er aus einer, die ihn ganz saftig aussehen ließ, obwohl durchaus schon die massiven Spuren zu erkennen waren, die der Alkohol hineingeätzt, ja -gewühlt hatte. Doch die spezielle Hyperchondrie, die ihn quälte, seit er so galoppierend alterte, war seinem Wesen da noch fremd gewesen. Eigentlich war es auch keine, sondern eine Melancholie, die im Altern körperlich wurde. Nun erlebte er einen dritten Frühling im Geist, und die Frieling konnte lieben, ohne sich aus chemotherapeutisch zugefügter Erschöpfung ständig erbrechen zu müssen. Dann schwieg sie mit einem Mal, er war ganz ratlos. Rief bei ihr an, seit einem Jahr telefonierten sie bisweilen, auch wenn die Stimmen ihnen etwas anderes erzählten, als die geschriebenen Küsse so sehnsuchtsvoll erwarten ließen.
Niemand nahm ab.
Er wäre nicht ein solcher Soldat gewesen, hätte er sich da nicht aufgemacht und wäre nach Rheinmain in die Wilhelm-Leuschner-Straße gefahren, ihre Adresse kannte er, denn er hatte ihr zweimal dahin Blumen geschickt. Nun schritt er – massiv, ein wenig hinkend wegen der Fußhebeschwäche -. ratlos auf die Nummer 13 zu, es war der 6. November. Unterm Arm hielt Kignčrs ein Päckchen mit dem teuren, n i c h t synthetischen Olivenöl, das er der Frieling besorgt. Er war ein guter Koch, ihr hatte das gefallen. Oft hatten sie, jeder an seinem Screen, imaginäre Gerichte zubereitet: Straccetti auf Rucola, coniglio al rosmarino, auf Panacotta verstand er sich ganz besonders. Frielings Name stand auf dem Klingelschild, es gab hier nicht die sonst üblichen Paneele, in die der Zahlencode zu tippen war. Sie öffnete aber nicht. Er klingelte woanders, klingelte an drei Türen insgesamt, bis ihm endlich eine ziemlich distanzierte, mißtrauische Person davon erzählte, daß Frau Frieling vor ein paar Tagen von einem Krankenwagen abgeholt worden war. Da wußte Kignčrs, er war seinem Fluch ein weiteres Mal nicht entkommen. Telefonierte herum, wurde ausfällig, brüllte, bis er endlich das zuständige Krankenhaus gefunden hatte und sogar vorgelassen worden war… nun gut, es war Gewalt notwendig gewesen und ein Griff, der einem dem Mann an der Portiere beispringenden Pfleger den rechten Arm zerbrach. Man zeigte Kignčrs deshalb an, aber die Polizisten hatten immerhin so viel menschliche Einfühlungskraft, daß sie den groben Menschen ein wenig trauern ließen, bevor sie ihn abführten. Er setzte sich nicht zur Wehr – schritt über den ganzen kahlen Gang schwer durch das Spalier der Neugierigen noch Entrüsteten, links und rechts einen Beamten, die Lippen zusammengekniffen, zwei getrocknete, wie staubige Tränenpfade führten über die narbige Haut der fleischighohen Wangenknochen zu seinen Nasenflanken. Und als er sich auf den Rücksitz des Wagens setzte, der ihn zur Vernehmung fuhr, murmelte er, aber die Leute verstanden ihn nicht: E subito riprende/ il viaggio/ come/ dopo il naufragio/ un superstite/ lupo di mare.**. Er wurde schnell auf freien Fuß gesetzt, bis zum Verfahren war es noch einige Zeit. Mit einem verhältnismäßig kleinen Schmerzensgeld und zur Bewährung kam er heraus, das große Schmerzensgeld hatte er vorher gezahlt:

Er stand vor der Zimmertür Nr. 26, wußte schon, was geschehen war, als er die Klinke hinunterdrückte und zugleich den vor Schmerz immer wieder aufschreienden ächzenden Pfleger wegstieß. Krankenschwestern und ein paar Patienten waren zusammengelaufen und standen nun rechts und links in zwei ziemlich entsetzten Trauben; Besucher gab es zur Zeit nicht. Außer eben Kignčrs. Er verkantete die Tür innen nicht, aber, fast vorsichtig, schloß sie. Drehte sich zum Bett. Die Tote war noch nicht abgedeckt, man sah Kabel und dünne Schläuche, auch der Tropf stand noch da. Die Apparate waren schon ausgeschaltet. Dennoch summte etwas maschinell, vielleicht die Deckenlampe. Kignčrs setzte langsam Fuß vor Fuß. Nahm die noch nicht völlig kalte Hand Corinna Frielings, die linke, nahm sie in seine beide Tazten. „Verzeihung“, sagte er, „Verzeihung, daß ich jetzt erst komme.“ Er sah sie an, sah das schüttere Haar an, legte seinen Männerblick auf ihr Gesicht, folgte ganz langsam den Erhebungen Senken, versuchte ein Gespräch mit der Toten. „So also warst du. Du siehst ja, auch ich bin ganz anders. Doch schöner bist du als deine Bilder sind.“ Als eine Träne auf ihr Kinn fiel, ließ er sie ihr. Kniete. Umfing die Frau mit dem Oberkörper, den Kopf, die Wange rechts, auf ihrer dürren Schulter. Weinte. Hörte nicht, daß die Tür geöffnet wurde, die Polizisten standen darin. Begriffen. Schlossen die Tür wieder und blieben ein paar Minuten draußen stehen. „Noch nicht“, sagten sie zu den Leuten. Ein entrüsteter Arzt redete auf sie ein. „So seien Sie doch barmherzig“, sagte der ältere Beamte. Der Arzt, die kleine Kohorte Studenten um sich: „Und wenn er flieht? Durchs Fenster?“ Darauf der jüngere Beamte: „Halten Sie endlich den Mund.“
„Darf ich bitte?“ fragte drinnen, als er Abschied nahm, Kignčrs. Er stand wieder und zog vorsichtig einen Ring von Corinna Frielings rechter Hand, der war für seine Pranken viel zu fein. Er versuchte erst gar nicht, ihn drüberzustreifen, drückte ihn zwischen die drei hinteren Finger und den Ballen seiner eigenen Rechten. Mit deren Daumen und Zeigefinger und mit der anderen Hand nahm er das Laken vom Stuhl und zog es der Toten sorgsam bis über den Scheitel. Dann schritt er zur Tür, öffnete, sah die Polizisten an, nur sie, nicht den Pulk um sie herum, der ohnedies zur Seite wich. „Es tut uns leid“, sagte der ältere von beiden, „aber wir müssen…“ Er nickte. „Bitte“, sagte der ältere und wies vor sich nach links in Richtung zum Fahrstuhl. So ging, sich wendend, Kignčrs zweidrei Sekunden voraus, doch so gemächlich, daß die Polizisten schnell neben ihm waren. Die Leute, den Gang herauf, tuschelten. Und in Točná rezitierte der Achäer:

In sich hielt er fest am Alten, barg es schuppend im Rücken,
niemand wußte, auch er nicht selber, daß er geschickt war,
seegezeugt, um, achäisch Lieder schaffend – Gedichte
vollgepackt mit Hoffnung und Seele -, Vater zu werden:
Goldhaar, Niam, erwache! Deiner ist unsere Zeit jetzt!

Das war nun nicht mehr gesprochen, das war gerufen, ein raschelndes Schauern ging über die Hörer, selbst Brem stellten sich auf beiden Armen die Härchen auf, selbst Goltz, kurz warfen die Männer einander den Blick zu; der Ruf bekam etwas Flächiges. Durch den Osten ging, und wehte nach Westen davon, ein Schauer, der, als er die Dunckerstraße erreichte, schon ganz zerfasert war.; fast fünf Jahre brauchte er, um dort anzukommen. Da bewirkte er kaum mehr als eine weitere Bebung im Wäscheberg vor dem Ofen. Dennoch hatte Brem in Točná geahnt, es dürfe so nicht weitergehen, man müsse Erissohn unterbrechen, ihm das Versmaß zerschlagen, am besten, den Mann völlig zum Schweigen bringen. Und sicherte sich schon, war bereits auf dem Sprung. Aber wartete noch, war zu sehr in Goltzens von den Amazonen je seitlich gesichertem Blickfeld gefangen. Nämlich schob Kali an Gelbes Messer heran, langsam, wie unabsichtlich, ihr war dieser Duft in die Nase geraten, der etwas Schänderhaftes hatte, auch wenn es ganz a n d e r s roch, geradezu zivilisiert gegen die Astern. Von rechts wiederum näherte sich Thisea, in der ebenfalls und neuerlich die Kriegerin aufgescheucht war. Goltz hatte gar nichts anweisen müssen, sein unentwegter Blick hatte völlig genügt.
Brem tat stur. Rührte sich nicht, nahm die Blicke nicht auf, sah zum Achäer, der immer und immer, sich wieder mäßigend, weitersprach, von seinem offenen Hänger herab in die Menge ins bogenlampenbeleuchtete Dunkel der Schönhauser Allee, aus der Ferne waren Rufe von Tieren zu hören. Nur selten mal ein Auto, oder ein Motorrad röhrte stadtauswärts. Ein Straßenköter jaulte im Kiez.
Ich ging zum Fenster, öffnete es, sah hinaus. Die vierspurige Straße, mitten darin der Streifen einer besonders dunklen Passage, über die sich die Hochstrecke der U-Bahn entlangzog, streckte sich in dieser Nacht derart still bis nach Mitte, daß es gar nicht schwierig war, dahinten Točná zu sehen, den kleinen Platz, die mundoffnen Dörfler, die vier Amazonen, sowie Goltz und den Achäer, außerdem Brem – und eben den niedergeschlagenen, wieder brummigen Kignčrs, tags, der soeben aus der Wache trat und zur nächsten Tram schritt, weil er nicht wußte, was sonst tun und wie er mit dieser Traurigkeit umgehen sollte. Er fühlte sich schuldig an Corinna Frielings Tod, vor allem daran, sie alleingelassen und allezeit nicht bemerkt zu haben, wie krank sie gewesen war. Er hätte es sich denken können. A l l e seine Frauen wurden krank, das war ein Gesetz; kein Veteran wird diesen bösen Sittich je los, jeder Soldat fängt ihn sich ein. Und Herbst, in Deters’ Arbeitswohnung, hatte sich auf seinen Schreibtisch konzentriert, hatte den Laptop geöffnet und beschrieb, wie ich für noch fast eine halbe Stunde in die Nacht schaute und sich mir über den davonschreitenden Kignčrs ein wieder ganz anderes, ein transparentes Bild deckte, so daß der Mann darin ebenso erhalten blieb wie Erissohn und seine Hörer: Kamatipura, die über die Straße gehängten ProstituiertenKäfige, Pfiffe aus den Häusern, um den möglichen Freier zu locken, die Hitze, der Schmutz. Nebenan schlief leise mein Junge. Schlief auf dem Hochbett seines Berliner Kinderzimmers in das Knattern einer Zuckerrohrpresse. Im Schneidersitz saßen die Regenschirmflicker. BelpuriStände Ohrenputzer. Tardeo Chowk. Rechts führte über die Geleise, die man von hieraus nicht sah, der Beton des breiten langgezogenen FlyOvers, je zu Seiten die Händler, paar Gewürzbuden gleich rechts neben der Ausfahrt, teils breiteten die Menschen Tücher auf den schmalen, aufgesprungenen Gehsteigen aus, darauf kunstvoll getürmt Bohnen Möhren Tomaten Guaven.*** Es war so heiß, daß mir das Hemd am Rücken backte; gegen den Schweiß und die Sonne trug ich ein dünnes, im Nacken geknotetes Handtuch über dem Kopf. Lieben, tippte, ins aufgerissene Lederpolster des alten englischen Stuhles gedrückt, Herbst, Leben. Merkte, daß etwas an ihm zog, daß er wieder unsichtbar wurde, die rechte Hand, ausgerechnet, fing damit an. Er stand auf, ging in die Küche, um in der Pavoni einen latte macchiato zu bereiten, deshalb bemerkte er die nächste Regung im Wäscheberg nicht – und daß sich alles auf die folgende, eine vulkanische Phase dieser Erzählung vorbereitete, an der er selbst nicht mehr teilhaben würde, jedenfalls nicht direkt, weil das fragile Gebilde einer stabilierten Harmonie auf neuen Ausgleich drängte – aber imgrunde war das bereits geschehen, das wußte Herbst in diesem Moment nur nicht mehr.
(…)

II

aus der Dritten Abteilung: AISSA DER STROMER
TS-S. 568 – 574

(…)
And the sorrow that you know will melt away.
Kignčrs erschien in dieser Nacht nicht mehr, den mußte Willis eigens kontaktieren. Was er am 1. November mittags tat, er war mit der Öffentlichen nach Palermo gefahren und deshalb nicht daheim, als Eidelbek und ein paar Beamte anrückten, um ihn in Haft zu nehmen. Der verunfallte Wagen war unterdessen untersucht und die Grenzsignatur entdeckt worden. Aber Koblenz hatte nicht gehandelt, Goltz schien den Befund geradezu bewußt zu ignorieren. Er war mittlerweile überwacht, wußte es wohl auch, tat aber dennoch nichts. Wartete ab. Was wiederum Eidelbek nicht wußte, das war, daß auch er beobachtet wurde, er nun freilich von SZKlern, unter anderem von Hünel, den Goltz von Kehl wieder abgezogen hatte. So war der Polizeichef über Eidelbeks eigenmächtige Aktion sofort informiert und rief bluffend in Pontarlier beim Präsidenten durch: „Herr Ungefugger, Buenos Aires ist mein Zuständigkeitsbereich. Ich muß Sie bitten, Ihre Schutzstaffel abziehen zu lassen. Sie hat in Buenos Aires absolut keine Befugnis.“ Er wartete nicht auf die Entgegnung ab, sondern knallte dem Präsidenten den Hörer auf. Danach informierte er Deidameia sowie Fischer und von Zarczynski, die vermittels des Parlamentes auf Ungefugger Druck auszuüben versuchten. Das wiederum bekamen die alten Feinde Hugues und Martinot mit und wurden gegen Ungefugger propagandistisch tätig. Er würde sein Amt nicht mehr lange halten können. Da scheuchte er abermals Skamander aus seinem Sumpf, das Geländer der schlafenden Zukunft war kurz. Der Präsident schickte den Emir tief in den Osten. So daß für die Geschichte Europas etwas völlig Unerwartetes geschah. Nämlich durchbrach die Lamia Niam, die noch völlig unbewußt, die noch nichts als ein reiner Instinkt war, der sich gefangen fühlt, nicht das Küchenfenster, sondern – es war von außen abgeschlossen worden – die Tür der Arbeitswohnung, stürzte in den Hausflur Quergebäude Dunckerstraße 68 und raste wie ein stürzendes gieriges Wasser die Treppen hinunter; das Unheil schleuderte die Mutter mit ihr in die Straßen – er hatte nicht unrecht, der Präsident, sein Volk und sein Land vor einer solchen Natur schützen und ins Gelobtes Land des reinen Geistes führen zu wollen: Eine Schneise Zerfetzter Gerissener legte sich wie ein in der Mitte geöffneter und beidseits umgeklappter Lappen aus legierten losen Organen blutig vom Fahrdamm der Prenzlauer Allee bis an die Hausmauern rechts und links. Schreie schon Sirenen, man konnte von Glück sagen, daß es noch ein derart früher Morgen war.
Was war geschehen?
Die Behörden sprachen in den Nachrichten von zwei neuen terroristischen Anschlägen, die hätten erst die Strecke der M2 zerstört und dann den Regionalbahnhof Alexanderplatz zerlegt. Dort hatte die Lamia desgleichen gewütet, ein paar Minuten nachher. Dann verkroch sie sich – vielleicht, weil es tagte. Verantwortlich wurde aber nicht sie, sondern abermals der zweite Odysseus gemacht, zumal sich wenig später die Al Kaida auch zu diesem Sieg des Heiligen Krieges bekannte. Und Haßflüche ausstieß auf die gottvergessene westliche Welt. Kaum wurde das publik, erschienen die ersten holomorfen Rebellen vor dem Regierungsgebäude Pontarliers und zertrampelten die Rosen. Sie fragten gar nicht erst, sie schossen gleich. Und Präsident Ungefugger, der Präsident noch war, verhängte den Ausnahmezustand über Europa. Imgrunde kam ihm diese Entwicklung, beides, sehr recht. Wie ihm schon Nullgrund rechtgekommen war. Ausgerechnet seine erbittersten Gegner ließen ihn die wenigen Tage gewinnen, derer das Stuttgarter Projekt noch brauchte. Mit denkbarer Härte schoß seine Schutzstaffel auf die Rebellen zurück. Es waren mehrere Tausend gegen vielleicht zwei Hundertschaften. Obendrein war schnell der Energieschirm hochgezogen, der die Villa Hammerschmidt für Holomorfe unzugänglich machte. Sollten sie draußen ihre Energiezustände zerstrümmern, drinnen konnte Ungefugger beruhigt seine Verfügungen treffen. Und traf sie. Und sprach an das Volk. Der Holomorfenaufstand in der Weststadt. Odysseus’ beide neuen Anschläge in Buenos Aires Berlin. Verstehen Sie? Wir brauchen den Lichtdom.
Bereits während der Fernsehansprache kippte die Öffentliche Meinung erneut. Ungefugger rief den nationalen Notstand aus, woraufhin Eidelbek, den Ungefugger vortags hatte aus Buenos Aires wieder abziehen lassen, mit einer ganzen Schwadron F16**** vor dem Gebäude der Sicherheitszentrale Koblenz anrückte. Er trug Order, Markus Goltz in Haft zu nehmen. Aber der war schon weg. Wen immer man in diesem seltsam nüchternen SZK-Gebäude antraf, das nicht einmal von Zäunen Schlagbäumen Wachen gesichert war, sondern als unangenehm glatter, fensterloser Klotz mitten in der Asphaltwüste stand, keiner wußte über den Verbleib des Polizeichefs etwas zu sagen. Vor dem, was Eingang zu sein schien – mehr als drei türähnliche, offenbar durch ein Magnetfeld gesicherte Öffnungen gab es ja nicht – standen Eidelbeks F16er zwar schwer unter Waffen, aber ziemlich hilflos in der Leere herum; wirklich niemand war draußen zu sehen, auch kein Empfang, keine Seitenloge, nichts. Es gab weder Klingel noch Lautsprecher, geschweige gab es Bildgeräte. Überdies waren die Milizionäre von der simulativen Weststadt so viel Realität nicht gewohnt und nicht so viel Glätte. Die und der Anblick der in Zwanzigerreihen in die stille Luft gehängten Gleiter machten sie schwindeln. Und sowieso, daß man keine Seele zu Gesicht bekam! Man stand auf dem Präsentierteller wie zum Abschuß. In dem Gebäude hingegen schwirrten kopflos aufgescheuchte SZKler durcheinander. Eidelbek wütete. Wer hatte den Polizeichef gewarnt? Der SS-Mann hatte kein Gespür für den Instinkt, der einen Mann wie Goltz immer wieder aus heikelsten Situationen herauskommen ließ.
Sein Instinkt hatte ihn noch in der Nacht – nach dem Gespräch mit Deidameia und dem kurzen Telefonat mit Ungefugger, sowie einer knappen Besprechung mit Beutlin – die SZK ziemlich eilig fliehen lassen. Man konnte sich leicht ausrechnen, was infolge des in der Weststadt losgebrochenen Aufstands geschehen würde: wenigstens würde es heißen, er, Goltz, habe in der Terroristenbekämpfung auf ganzer Strecke versagt. Dabei konnte Goltz von den beiden neuen Anschlägen jetzt noch gar nichts ahnen. Dennoch hätte er gern abermals mit Deidameia konferiert. Die war aber nicht mehr erreichbar. Verschlüsselt webbte er ihr. Fortan würde Aissa die Wölfin endgültig für eine Terroristin dieses zweiten Odysseus gelten. Goltz sah bereits Ungefuggers Geheimpolizei übers Boudoir und wohl auch weitere Zentralen Deidameias hereinbrechen.
Wie schnell das passierte, ahnte er allerdings nicht. Nämlich hatte der Generalleutnant in Konsequenz der neuen Order einen zweiten Trupp zu Willis geschickt; doch hatten die Leute Anweisung, sich unsichtbar zu halten. Als nun morgens gegen sieben zwei Männer aus der Haustür traten, der Beschattete und ein Halbwüchsiger, die sich in Richtung Zentrum davonmachten, folgte man ihnen. In Palermo stieß ein Dritter dazu, ein älterer, ungepflegter, schwankender Mann. Er schien getrunken zu haben. An der nächsten Straßenecke nahm sie ein Taxi auf. Es wurde von Pal gefahren.

Cordes sah aus dem Fenster, bei ihm war es erst 6 Uhr in der Frühe, etwa eine Stunde nach den Explosionen auf Prenzlauer Allee und im Hochbahnhof Alex. Die hatten ihn geweckt. Über den halben Prenzlauer Berg und ganz Berlin Mitte krachten die Detonationen dahin und brachten vor Nullgrund die Luftwand zum Zittern. Selbstverständlich hatte Cordes nicht gewußt, woher der Krach rührte, doch war seine Fantasie rege wie Deters’, der, weil sowieso auf dem Weg zum Alex, die drei Lichtfontänen sogar sehen konnte, unter deren Stroboskop das Gebäude in die Luft flog. 233 Leute kamen um. Das war, ein Nachbeben des Nullgrunds, wie einzig dafür inszeniert, ihn niemanden jemals vergessen zu lassen. Daß ein Ungeheuer schuld war und eben nicht ein Terrorismus, kam niemandem in den Sinn… in keinen anderen jedenfalls als den metaphorischen, der den zweiten Odysseus für solch ein Ungeheuer nahm. So sehr war die Mutter, war Thetis vergessen. Eben das, so läßt sich das auch betrachten, rächte sie nun. Das rächte sie durch die Tochter. Aber dem Kalkül Europas ging sowas längst nicht mehr ein. Und Harpyien spielten diesmal in der Tat keine Rolle. Jedenfalls anfangs.
Dabei wäre genau das zu erwarten gewesen, hätte Odysseus für diese Anschläge zu Recht die Verantwortung übernommen. Er tat es, aber zu Unrecht. Man sah den bärtigen Mann unter flammenden Augen aus einem Video sprechen. Dann sprach, fünf Minuten später, der Präsident; er sprach sehr ruhig, sehr bestimmt. Deutlicher spürte nie die Nation, wem sich noch vertrauen lasse. Er halte, sagte Ungefugger, an seiner Demission zwar fest, werde Neuwahlen allerdings erst in die Wege leiten, wenn die momentane Krise ausgestanden sei. In der Tat, er nannte die Situation eine Krise. Er werde sich gerade jetzt, anders als sein Vorgänger, nicht aus der Verantwortung stehlen. Den Neuwahlen dann werde er sich allerdings nicht mehr stellen; anderhalb Legislaturperioden seien genug. Er habe Sehnsucht nach Reinheit und Ruhe.
Etwas Mönchiges strahlte er aus, das gab ihm die auratische Kraft seiner früheren Jahre zurück. Pontarlier sei belagert, er könne um Gefahr seines Lebens die Villa Hammerschmidt zur Zeit nicht verlassen. Der Terrorismus zeige jetzt auch im Westen die Hörner. Aber man werde sie kappen, die Wähler seien dessen versichert, und Odysseus werde man jagen und strafen. Wobei Ungefugger nicht von dem zweiten Odysseus sprach, nämlich schon deshalb nicht, um den ersten vergessen zu lassen. Er hatte sich ein Glas Weißwein einschenken lassen, Nahewein, er besaß bisweilen einen Humor. Mit beiden prostete er den Zuschauern zu, bevor das Fernsehprogramm auf eine Werbung für cloning switchte.

Cordes, da er keinen Fernseher besaß, hörte beide Ansprachen über ein InternetRadio. Abermals Verwüstung, abermals Odysseus‘ Drohung, man werde keine Einmischung des Westens in die Angelegenheiten des Ostens mehr dulden. Einen neuen sehr alten, einen geradezu achäischen Ton schlug der Mann dabei an, argumentierte mit Kungír, dem höllischen Jenseits der Heiligen Frauen, und mit einer Rückkunft der Hundsgötter, ja der gesamten durch AUFBAU OST! längst überlebt geglaubten mythischen Welt. Auch von Thetis war plötzlich die Rede. Wären nicht so viele Tote zu beklagen gewesen, das Ganze hätte einen großen rhetorischen Witz gehabt. Wer wollte von mythischem Unfug ernsthaft noch wissen? Längst war die Stratosphäre, längst waren die Ozeane in logisch wirkenden Elemente zerlegt und Funktionen handelbarer Mengenlehren geworden; desgleichen Geschlechterverhältnis und Sozialität allgemein. Und dann kamen solche Barbaren und mordeten nicht mit Messern und Lanzen, sondern mit modernster Technologie. Allah, der nicht ist, tobte durch Kybernetik und Reitspiel, kotzte in den Rosenatem der Reichen und zerfetzte ihnen die Schimmel. Was waren das für Menschen, die ihr Leben einer Sache wegen ins Feuer warfen, für die es nicht einmal Rente gab? Nein, Harpyien waren noch nicht wieder eingesetzt, das ist wahr, kein Bionicle hatte die kriegslogistische Fratze gezeigt. Aber man e n t s a n n sich. Die Selbstmordattentäter waren Skandal: ihnen waren Ideen näher als ihr Kontoführer… von Zivilisation keine Ahnung. Entsetzlich Berserker! was wußten die von Steuererklärung und Vattenfall? vom 40-Stunden-Tag, der drohte? von Komischer Oper und Schalke 04? Statt dessen drohten s i e, drohten mit lächerlichem Lebenspathos, so rasten sie daher. Banden sich Sprengstoff um den Bauch – einen Tauchgürtel, der in die letzten Tiefen zieht, Ozeanografen sind’s der allerfrühsten, allerersten Dinge – und dachten an ihre Kinder und ihre Frau, als sie am Leinchen der Verkabelung zogen, das einen Fallschirm auffalten läßt, an dem sie ins nächste Leben sinken, durch Schreie und geplatzte Organe… Schmerz… sich zerfetzende Kinder… auf Fetzen Frau liegen getrost noch Fetzchen des Mannes. Denn wenn eine Plage kommen will, so fürchtet er sich nicht; sein Herz hoffet unverzagt auf den Herrn******. Noch küßt sich eben ein Paar, da sind schon in die Zungen Plexiglasspäne gedreht. Ein Auge baumelt am Sehverv von einem geknickten Gestänge herunter. Spirriges Schmauchgas flattert auf. Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen***** wehten überm zerstückten Bahnhof. Das regnete als bachsche Kantate herab, um durch die vier paradiesischen Türen den Märtyrern hinterherzuschwimmen.
In den Sirenen war der Morgen zu ahnen. Reflexe rotierenden Blaulichts jagten in Richtung Hackescher Markt. Paar jugendliche Nachtschwärmer, gothic wie aus kommenden, aus noch zu grabenden Gräbern, paar Torkelnde, die fast immer Männer mittleren Alters sind, einige aufgestylte Handtaschen, eine Tram und zweidrei Radfahrer. So war es auf der Oranienburger um diese frühen Zeit bestellt.
(…)

*): Ungaretti, Il Lampo della Bocca (Die späten Gedichte, 56).
“Blickst du mich aber voller Mitleid an/und sprichst du zu mir, verbreitet sich Musik,/
und ich vergesse wie die Wunde brennt.“
**): Ungaretti, Allegria di naufragi, Zeitspüren, DVA Stuttgart 2003.
“Und schon begibt er sich wieder/auf Fahrt/wie/nach dem Schiffbruch/ein überlebender/Seebär”
***): Frei variiert nach Buenos Aires. Anderswelt, TS 42.
****): Nach >>>> Feldpost.de
*****): „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“, BWV 12, nach Psalm 112,7: komm.:
„kann aber dein Zweifeln und Zagen, dein Jammern und Klagen, als ob du
keine Hilfe finden könntest, den Höchsten verherrlichen?“: „Wenn eine Plage
kommen will, so fürchtet er sich nicht; sein Herz hoffet unverzagt auf den Herrn.“
******): Psalm 112,7.

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