Eine Reise zum Stromboli (5. Tag, Montag). Auf Stromboli. (Stromboli 7). Reisejournal (16. April 2007).

6.11 Uhr:
>[>>>> Hotel Villa Petrusa, Stromboli. Loggia.]
Schon seltsam. Habe tief geträumt, habe eine tragische, seelenvolle, unheimliche Werwolfgeschichte geträumt. Ich gehörte zu den Werwölfen, aber man sah uns nie jemanden reißen, sondern wir wurden von mächtigen, grauenvollen Werwolfsjägern gejagt – Ungeheuer, wie wir selber, wandlungsfähig, zahlreich, grausam. Eineswar besonders gefürchtet: Es konnte sich wie Einzeller spalten, wurde dann mehrere, gestaltenwandelnd, riesig groß, eine Masse von Vieh. Es fiel der Satz: „Wer wäre ich denn, könnte ich meinen König nicht auch mit nur e i n e r Hand schützen?!“ – und das Vieh schlägt sich vor meinen…unseren… Augen die rechte Hand ab – und greift uns allein mit der Linken an. Der Ausruf ist ganz sicher ein Zitat, ich weiß aber nicht, woher es stammt; der Vulkan hat es aus mir hochgegraben. Wir fliehen, wir spritzen vor Panik über die Insel davon, sammeln uns erschöpft, vereinen uns: Einige wollen Jäger der Werwolfjäger werden, spüren ihrerseits diese Jäger auf, um sie gemeinsam zur Strecke zu bringen. Es ist gefährlich, viele sterben dabei, aber viele Werwolfjäger auch. Der Krieg ist unentschieden, als mein Traum beginnt. Was ich bis jetzt erzählt habe, ist die Erinnerung, die der Traum als sein eigenes Wissen schon mitgebracht hat.
Mich liebt eine Frau, eine Schönheit, ein wenig geheimnisvoll, sehr still, sehr stolz. Oft taucht sie auf, wenn ein Kampf zuendeging – etwa als wir das Ungeheuer besiegten, daß sich die rechte Hand abgeschlagen hatte und noch als Kloß weiterkämpfte, wie Matsch war, wie ein Knetgummi für Brobdignag, das sich w i e d e r zu formen versuchte und schließlich d o c h erliegt – wie >>>> Skamander erliegt; die Kampfszene, die ich träumte, stammt aus >>>> ARGO; jetzt gerade, hier auf der Loggia, noch in der vollen, mich immer noch etwas benommen machenden Nachwirkung des Traums merke ich es. Endlich liegt das völlig zerschlagene Vieh am Boden, das wie zertrampelte Vieh – unsere Kämpfe haben etwas Biblisches, Alttestamentarisches, man könnte sagen: Fundamentales… da erscheint „Am…“ (mehr weiß ich von ihrem Namen nicht mehr) aus dem Dämmern und versorgt meine Wunden, streichelt mich, küßt mich… verschwindet wieder… ich hätte so gern, daß dieser Krieg endlich aufhört, daß wir, Am… und ich, zusammenleben können in Frieden (keine Ahnung, wie das bei Werwölfen gehen soll…), ja Frieden… wir versammeln uns, wir Werwölfe, um den nächsten Schritt zu planen, die nächste Gegen-Aktion. Am… ist bei mir. Ein Freund steht bei mir, wir stehen zu dritt aneinander. „Ich muß dir etwas sagen“, sagt er, „es ist schrecklich für dich, aber du mußt es jetzt aushalten.“ Ich sehe in seiner Hand etwas Langes, Spitzes, eine Art Stilett, denke ich j e t z t, d a aber war es eine Nadel… und er ersticht Am… Sie wehrt sich nicht, ihr Blick bricht. „Sie gehört zu den Werwolfjägern, sie ist eine der schlimmsten“, sagt er, und bevor sie langsam an ihm heruntersinkt, quasi in seinen Armen heruntersinkt, sieht sie zu ihm auf und sagt —- „Danke“. Voller Liebe, voll eines wirklich dankbaren Glücks, das sie erlebt, weil sie nicht auch mich noch jagen und töten muß.
Von diesem Danke wache ich auf.

Als wir gestern nacht durch die Schwärze von der Sciara del fuoco zurückgingen – wir nahmen den alten Weg an der Küste entlang, dann ein wenig über den Berg – nur teils noch – und grob – gepflastert – das Pflaster weggebrochen teils – nach dem letzten Ortsteil durch Macchiabewuchs die Vulkanflanke entlang bis zum Observatorium – dann hinauf zur Sciara – man sah aber nicht viel, außer daß der Vulkan stark qualmte und die Qualmwolken über die Sciara und seitlich von ihr hinabgetrieben wurden – wir kehrten um – Nachtschwärze, ohne Taschenlampe wäre selbst dieser geführte Weg schwierig geworden — da, einmal, hatte ich das Gefühl, etwas sei uns im Rücken. Etwas Unheimliches, das uns folge, nicht Geheueres, Ungefähres… eine wirklich mythische Angst war das, die mir die Härchen aufstellte, und zwar immer dann besonders, wenn ich mich umdrehte und den Lichtkegel nach hinten richtete… d a v o n ist der Traum ein Reflex, oder d a s hat ihn ausgelöst und hat Anderes mehr hervorgegraben. – Auch davon – von so etwas – sollte das Poem erzählen. Ich war sehr froh, als wir, die kleine Hand immer in der großen, die ersten (ortstechnisch gesprochen: letzten) Ausläufer des Fleckens Stromboli wieder erreichten, die mir übrigens sehr viel besser gefallen als der vordere Teil des Dorfes. Hier hinten ist es fast arabisch verwinkelt, un-touristisch, verschwiegen, möchte ich sagen, meditativ und für sich. Weiße flache, ineinander verschachtelte Kästen mit quadratischen Fensteröffnungen und schulterhoch ummauert ein jedes, wie um sich zu schützen, ein Inneres, das es noch i s t, zu schützen und quasi nirgends öffentlicher Raum. Die See ist‘s, und ich bin‘s, und es ist der Vulkan. Nichts m e h r.

Das einfache Leben. Gestern. Francesca, Barbaras Tochter, trug Wäsche hinein und hinaus und hing sie unten auf. Ich dachte: einatmen – ausatmen.

Jetzt schreib ich mal die >>>> Nachträge. Und hoffe, über den Tag von Claudius Seidl zu hören, ob es mit der Sondergenehmigung klappt, mit einem Bergführer höher zu steigen und näher an die Krater heran, als gegenwärtig offiziell erlaubt ist. Eventuell laß ich dann aber den Jungen unten bei Barbara; das hängt davon ab, wie es der Bergführer ggbf. einschätzt. Und nun, bis zum Frühstück um neun Uhr, wird ein wenig gedichtet.

ABERMALS NACHTRAEGE:

18.51 Uhr:
[Wieder bei Barbara auf der Terrasse überm Hafen. Stromboli.]
Hier tagt eine Versammlung; ich bin mit dem Laptop, ja, immer noch dem alten, der unterdessen die staunende Bewunderung mancher Sizilianer erregt („wie? der funktioniert noch? so, wie der aussieht?“ – ich gewinne das Ding richtig lieb), – bin mit dem Laptop hierher gezogen, weil mein Junge mittags hier (italienische! es g e h t also….) Freunde gewann und gar nicht mehr wegwollte, weil ich zum anderen später am Abend hier kochen will – spaghetti vongole, zwei spigole, der schreiende Fischhändler in seinem Piaggio war teuer, aber egal (und ich hab seine Stimme auf Disc!) – und weil auch die Aussicht aufs Meer so sehr schön ist. Mich hat die sizilische Zeit erwischt, also keine; ich schau vor mich hin, denke, notiere, rauche, denke, notiere, plaudre, tu ein wenig in Barbaras Garten; daß von Seidl keine Nachricht wegen des Bergführes kam, schert mich grad nicht. Daß wir übermorgen in der Frühe mit der Fähre wieder abreisen werden, hat etwas völlig Irreales.

„Das war die alte R…“, sagt Hannelene L., die ich am Nachmittag besuchte, „sie ist etwas eigen. Aber das w i r d man, wenn man hier lebt.“ Ich machte meinen Gastfreundschaftsbesuch, ließ >>>> das Sizilienbuch und >>>> das Notturno da, wir plauderten. Sie war vier Jahre lang Leiterin der Fischer-Theater-Verlages, war langjährig Dramaturgin, wir kennen viele Literaturbetriebs-Leute gemeinsam und mögen gemeinsam einige nicht. – Leider war wenig Zeit; ich war nach dem heute ziemlich späten Mittagsschlaf hinübergegangen, mein Sohn war bei Barbara geblieben, weil er mit den Freunden spielen wollte, um 18 Uhr sollte die Versammlung sein und ich den Burschen eben um halb sechs abholen. Dann kam wieder einmal alles anders, er wollte gerne bleiben, „du kannst auch bleiben, wenn du magst“, sagt Barbara, „nur wird es halt wohl laut werden.“ „Na gut, dann hol ich eben den Laptop aus dem Hotel.“ Besorge noch Passata di Giornata für den Sugo, setz mich auf die Terrasse, aus dem Wohnraum plaudert‘s, manchmal etwas aufgeregt; die Idee, auf den Vulkan zu steigen, wo ich doch hiersitzen und vor mich hinsinnen und -tippen kann, kommt mir momentan absurd vor. Wieder vor Augen, auch real, die „Ur“einwohner Srombolis: ein kleiner, gedrungener, immer etwas vorgebeugt gehender Menschenschlag mit grauem stark lockigem Haar und ebensolchem Bart, rotbraunen Gesichts, das ebenfalls gedrungen wirkt, massiv, aber dennoch nicht grob. Kurze, breite Hände mit flachen Fingern, die kräftig zugreifen können und zugleich den Eindruck vermitteln, an der Innenseite samtig zu sein. Im Aschenbecker, für den ein terracottaner Untersetzer für Blumentöpfe dient, liegt rücklings eine von der Katze geschnappte Eidechse, der sowohl der Kopf als auch der Schwanz fehlt; sie hat ihn auf ihrer Flucht vergeblich abgeworfen; nun quillt Innerei unterhalb der Kehle heraus; der Bauch ist schon ganz eingefallen und ledrig. „Sie kommen hier nie w e g, s e l t e n weg, es hält sie immer hier“, erzählt H., „es gibt ausgebildete Architekten, die zu Pizzabäckern werden, damit sie hierbleiben können… andere Akademiker, die Touristen um die Insel schippern…“ Man wird eigen, wenn man hier lebt, auf der Insel, unter dem Vulkan. Man haftet. Als wäre der transistorische Zustand, der m i r so eigen ist, stillgestellt… ich spür es ja selbst: drei Tage reichen hin, fast, um den Organismus umzustellen. Den Kindern zusehen, die beginnen, sich zu verständigen. Was Leben ist.
(Balance halten, dachte ich, zwischen Leben und dem gesellschaftlichen Regelwerk, das es erleichtert – erleichtern s o l l t e; aber eben dort, wo es nottut, und eben n i c h t im Banalen bis in die letzte Äußerung, und a u c h nicht in der Eigenentscheidung, Risiken einzugehen. Die Gesellschaft definiert aus dem Umstand, daß sie im Zweifelsfall rettet, also die Kosten einer etwaigen Bergung zu tragen hat, das Recht, solche Bergungen präventiv zu verhindern: durch Wegnahme der Eigenentscheidung. Je sicherer deshalb, desto überwachter wird man auch – um schließlich, ist der soziale Schutz allgemein geworden, als restlos unfreier Mann zu sich zu kommen und d a n n, zu spät, die Ketten zu spüren. Domestiken der Demokratie. Im >>>>LEDERSTRUMPF sagt, als immer mehr Siedler kommen, Chingachgook zu Bumppo: „Laß uns weiterziehen. Hier ist die Zeit des freien Mannes vorüber.“)

Übertrag CASSA 474,20
./. Fisch 30,–
./. Zigaretten 5,80
./. Passata 1,17
verbleibende CASSA 437,23

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