6.31 Uhr:
[>>>> Hotel Villa Petrusa, Stromboli. Loggia.]Um sechs hoch. Das Aufnahmegerät läuft, um eine Ecke in den Hibiskus gehängt, weil ich fürs Hörstück die Morgengeräusche mitschneiden will. Übertragen sämtlicher Bilder von gestern vom Fotoapparat in die entsprechende Datei auf dem Laptop. Ich warte darauf, meinen latte macchiato von der Hotelbar holen zu können. Der Junge schläft, der Vulkan wirkt völlig ruhig, wie ein „normaler“ Berg. Von seinem Ausbruch am 15.3. hat mich Barbara gestern drei kurze Filmsequenzen mit Ton auf den USB-Stick überspielen lassen, die sie selbst aufgenommen hat. Auch diesen Ton will ich in dem Hörstück verwenden.
Dies heute ist unser letzter Tag auf der Insel. Morgen früh um fünf – „die fährt eh nicht vor sechs!“ (Ungewißheit ist etwas, das ich auf Sizilien ganz besonders liebe, auch wenn ich schon manchmal drüber fluchte) – wollen wir die Fähre zurück nach Milazzo nehmen. Ich muß nachher bei Barbara im Netz nach Zugverbindungen weiter nach Catania schauen. Später will ich den von der Galerie Jesse, bzw. Robert J., verschlossenen Umschlag mit dem Hotelgeld an den Hotelier weiterreichen; hoffen wir, daß es dann keine Schwierigkeiten gibt. Mir selbst, für die Dichtung, wird allmählich klar, in welche Richtung sie gehen wird. Und seit gestern ist mir wieder präsent, daß ich die >>>> BAMBERGER ELEGIEN weiter hexametrisieren muß; ich hatte momentlang Lust, daran weiterzutun. Doch sind heute noch Tonaufnahmen zu fertigen; ich will noch einmal ein wenig in den Sentiero am Berg dazu, ebenfalls abends. Und nachts am Meer etwas aufnehmen, wenn nicht dauernd die Mopeds und Minitaxis dazwischenröhren. Den Helikopter, der dauernd den Berg anfliegt und nach dem Rechten schaut – also nach „Unrechtem“ wie unerlaubt aufsteigenden Touristen -, möchte ich ebenfalls original auf der Minidisc haben, auch wenn mir klar ist, daß solch Originales eben n i c ht das ist, das einer empfindet und spürt, der sich hier aufhält. Das Gehirn filtert; dem hat ein Hörstück Rechnung zu tragen (wir sehen in einem gut inszenierten Stück auf dem Theater nicht eine Küche auf dem Theater, sondern eine Küche).
Gestern, übrigens, erreichte mich ein Anruf von >>>> Strato, wo man möglicherweise gar nicht merkt, daß ich mit den Monatszahlungen immer wieder in Verzug gerate: Mein DSL für die Arbeitswohnung sei jetzt geschaltet. Ich werde also nach meiner Rückkehr sofort ‚normal‘ zu arbeiten beginnen können – vorausgesetzt, ich bekomme die aus Bamberg mitgebrachten Geräte zum Laufen. Auch, fällt mir jetzt ein, sind offenbar nun die Bögen unterwegs, auf denen Prunier und ich signieren sollen, >>>> Dielmann will >>>> die Vorzugsausgabe obendrein durchnumerieren. Jedenfalls wird >>>> das Gedichtbändchen nun wirklich bald erhältlich sein. Hab ich das erste Exemplar in der Hand, anoncier ich es hier in Der Dschungel noch einmal. Aber es wird wahrscheinlich doch wohl noch Mai werden dazu. Der nächste Publikationsschritt ist dann der Umgang mit den Elegien: Bringen wir sie tatsächlich bereits in diesem Herbst heraus, oder verschieben wir nicht besser aufs Frühjahr 2008. Wie ich nämlich die Überarbeitung in der Zeit hinbekommen soll, wenn nun auch die Dichtung über Stromboli ansteht, der Artikel für die Sonntagszeitung und das Hörstück für den DLF, das ist mir insgesamt nicht recht klar (auch >>>> ARGO, die nunmehr Dritte Fassung, muß angegangen werden) – außerdem wird mich sicher auch der Privatkonkurs noch viel Zeit kosten. Aber der m u ß nun beantragt werden, schon, damit ich die Krankenversicherung wieder aktivieren kann; mir ist ein Stück einer Zahn-Krone herausgebrochen, ich habe dauernd leichte Zahnschmerzen (aushaltbar); schon aus Klugheit sollte ich deshalb zum Zahnarzt gehen.
Merken Sie‘s? Meine Gedanken zeigen schon wieder auf Deutschland… (Den latte macchiato hab ich unterdessen vor mir stehen und schon halb getrunken.)
Wir haben lange noch zusammengesessen, zusammengegessen… bei Barbara überm Aliscafo-Hafen… aber im Zimmer, nicht draußen, denn es frischte deutlich auf. Die spigole, weil ich wieder mal zu viel eingekauft hatte fürs Essen, werden wir uns h e u t e abend einverleiben.
Nachts legte eine Fähre an; ich hätte nicht gedacht, daß sie das bei dieser schmalen Mole schafft: sie lag da wie ein leuchtendes Glücksversprechen auf Ferne. Adrian und ich schauten es uns von der hochgelegenen Piazza aus auf dem Heimweg an. „Man wird eigen, wenn man hier lebt“ – eigen, dachte ich, wie französische Bauern vom Jean-Gabin-Schlag, deren Sturheit nichts, aber auch gar nichts bewegen kann, das, was sie den rechten Weg finden, zu verlassen, starr zugleich und stolz – völlig das Gegenteil des mobilen, flexiblen, sowohl in Haltung wie in Wahl des Arbeitsplatzes dehn- und biegbaren demokratisch-„modernen“ Gesellschaftsmitglieds, in das die Ökonomie uns nach und nach umformt. Wie Mahnmale ragen die Alten Menschen in die Moderne, wie eine Ortrud, die gegen den christlich (patriarchalen) Lohengrin auf dem matriarchalen Recht beharrt, dem heidnischen, das schon unterging, einem radikalen Recht der Ursprünge, von dem w i r meinen, daß es grausam sei, ohne zu sehen, daß das vorgeblich ‚verzeihende‘ Recht es nicht minder ist. Auch darüber sinne ich hier auf Stromboli immer wieder nach. Immer wieder geht es um Verbote, immer wieder um die gesellschaftlich gemachte, nämlich durch Strafe – n u r durch Strafe – bewehrte Unmöglichkeit, aus eigener Entscheidung an die Krater zu klettern. „Wir übernehmen die Verantwortung für euch und helfen, wenn ihr verunglückt (das G e s e t z sagt, daß wir helfen müssen), – dafür habt ihr euch unter unsere Entscheidung zu beugen.“ Der Gedankengang ist logisch nachvollziehbar, da es a u c h um Kosten geht, die enorm sein können. Zugleich wird vergessen gemacht, daß die Pflicht zur Hilfeleistung eigentlich unter „Gastrecht“ gehört und ein Akt menschlichen Selbstverständnisses ist – und das, im „Heidnischen“, selbst unter Feinden auch w a r. Da wird nicht nach Kosten gefragt. Wenn nun aber, daß nichts passiert, ständig überwacht wird, ein gefährliches Gebiet permanent unter Beobachtung steht – seinerseits schon ein enormer Kostenfaktor -, dann fällt der Mensch schießlich unter „Kataster“ – und damit geht etwas wie das Gastrecht, weil es sich zur sozialen Pflicht organisiert, verdinglicht zugrunde. Man formuliert eine soziale Norm, die aus gefühlter Ehrhandlung normierte Regulationen macht und das Verhältnis der Menschen untereinander in Vertragsverhältnisse bindet… sie festbindet und jeglicher Eigenentscheidung die Luft nimmt. Schließlich agieren nur noch Automaten, die sich mit der dürren Begründung, sie hätten das ja selbst gewählt (nicht ist dürrer als der „Gesellschaftsvertrag“), um den Selbstverlust herumtäuschen. Zu leben in einer Gesellschaft – wenn es einem aufs Menschlichsein ankommt -, müßte deshalb bedeuten, sich zwischen den Polen auszutarieren und stets zu entscheiden, wo eine Vorschrift unnötig und wo sie sinnvoll ist. Unnötig ist die Vorschrift, man solle nachts an roten Ampeln halten, wenn weit und breit kein anderes Auto in Sicht ist; wir sind aufs Gegenteil allein über die Furcht vor Strafe gesellschaftlich konditioniert. Da liegt das Inhumane. Unnötig ist es nicht, den Berg auf gefährliche Aktivitäten zu überwachen; unnötig ist es aber, aufsteigende Kletterer zurückzupfeifen, bzw. hernach zu bestrafen. Sie nehmen sich nur ihr Lebensrecht, zu dem das Risiko g e h ö r t, das i m m e r dabei ist, wenn einer Lebenskräften nahekommen will. Verunglückt von denen einer, und man entdeckt ihn, dann ist es selbstverständlich, daß man rettet; entdeckt man ihn aber nicht, ist es ebenso selbstverständlich, daß er umkommt. Das Inhumane beginnt dort, wo permanent aufgepaßt wird, o b einer umkommt. Das Inhumane ist nicht, nicht helfen gekonnt zu haben, weil man einen Verunglückten nicht entdeckt hat, sondern präventiv die Möglichkeit des Umkommens abzuwehren.
Um sich das ganze inhumane Ausmaß der Prävention klarzumachen, halte man die im Berg durch Vulkanismus oder Gebirgsrutsch umgekommenen Kletterer gegen die im Berliner Straßenverkehr Umkommenden. Man sagt hier, der Berg nehme sich jedes Jahr ein O p f e r, um den übrigen Menschen gegenüber friedlich zu sein. Auf das letzte Jahrhundert gerechnet, kommt diese Zahl der Realität sehr nahe. Dagegen ließe es, gäbe es im Berliner Straßenverkehr jährlich nur ein Opfer, die Statistiken lachen vor Glück…
Es geht mithin um etwas anderes: „Sicherheit“ zieht Touristen an, die dennoch den Vorschein eines Nervenkitzels gehabt haben dürfen, „am Vulkan gewesen“ zu sein. All die Aussichtsplattformen, die nunmehr an der Sciara del fuoco errichtet werden, sprechen eine deutliche Sprache. Ich meinerseits hätte nicht einmal einen W e g in den Berg angelegt; wer nicht klettern kann, soll halt unten bleiben. Nichts Unnötigeres, als auf dem Mt. Everest ein Ausflugslokal zu erbauen, in dem man Kuchen essen kann. D a ß man‘s erbaut, allerdings, zeigt deutlich, wie wörtlich der Mensch den monotheistischen Auftrag genommen hat, sich die Welt „untertan“ zu machen. Er will es sich und ihr mit solchen Ausflugslokalen (und mit für Touristen gangbaren Wegen) noch und noch beweisen: daß er‘s g e t a n hat (dies übrigens ist einer der schwersten Gründe für den Schock von 9/11; es ist ein Schock an der vermeintlich zivilisierten Sicherheit). Letztlich ist jede Sicherheitsvorschrift, ist jeder Weg durch sonst unwegsames Gelände, ist jedes Lokal auf dem Berg ein Sakrileg gegen Natur, dessen Antriebskraft aus dem Bruttosiozialprodukt gesogen wird: auch Natur wird vergesellschaftet, soll vergesellschaftet s e i n und sich den regulations b e u g e n.
15.29 Uhr:
[Bei Barbara auf der Terrasse. Stromboli.]Also wir waren wieder an der Sciara… vorher mußte ich für ein Medikament in eine Farmacia, weil ich mich dummerweise – es ist mir reichlich schleierhaft, wieso – wundgelaufen habe. Das gibt vor allem miese Nächte… na gut, also hin, erklärt… man bekommt was (CIDIS Spray), liest den Beipackzettel, ob man wohl auch das Richtige hat, und da steht dann Folgendes:
Gut, also erneut zur Sciara del fuoco. Wir gingen den unteren Weg, der etwas oberhalb der Küstenlinie bis zum Observatorium langt und an S. Bartolomeo vorbeiführt („Die Wände haben gewackelt am 15.“, erzählte H., „es war ein Erdbeben; die Kirche bekam einen Riß. Sie ist seitdem zugesperrt wegen der Gefahr, daß sie noch zusammenbricht.“), der danach durch den Ort hinaus ins Naturreservat geht – wenige, vielleicht drei oder vier Kilometer. Dann stiegen wir auf. Es war bald sehr wolkig, den Vulkan sah man eh nicht, aber bisweilen riß „das Bild“ a u f. Auf dem Weg hinauf nahm ich immer wieder Töne der Landschaft, durch die ebenso immer wieder der Wach-Hubschrauber kreiste. Doch manchmal war Ruhe.
wunderbare Gerätschaften, deren Perfektion übrigens ein Ergebnis von
>>>> Mossad in Auftrag gegebener Technologie sind.)
Dafür, „Töne zu nehmen“, sollte diese ganze kleine Wanderung auch dienen. Auf 300 Meter Höhe gelangten wir, dann kaschten uns zwei absteigende Bergführer. „Sprechen Sie Italienisch?“ „Ein wenig.“ So an der Aussichtsplattform. „Sie müssen wieder hinunter, hier ist das nicht mehr erlaubt.“ „Ich weiß. Aber ich nehme Töne auf für ein Hörspiel…“ Ich zeige auf das aufgebaute Gerät. „Na gut, wie lange brauchen Sie?“ „Zehn Minuten.“ „Aber nicht höhersteigen.“ „Man sieht ja eh nichts.“
Unten treffen wir die beiden wieder, an der „erlaubten“ Plattform. Sie bringen ein Schild an. Den ganzen Weg hinauf wird – gegen Touristen? – ein Elektrozaun verlegt. Das Verbot braucht wohl Nachdruck. Außer Touristen weidet hier ja niemand… ah, ich vergaß die Mufflons!Immerhin, die beiden sind sehr freundlich, wir kommen ins Gespräch. Momentan sei der Berg ruhig, man sehe bisweilen eine Gasexplosion, nicht mehr. „Waren Sie hier am 15.?“ Nein, leider nicht. Aber ich hätte die Bilder >>>> Marco Fulles gesehen, mit dem ich in Kontakt stünde. Sie kennen ihn (Barbara kennt ihn auch – nach meiner Reise werd ich ihm noch ein Dankeschön schicken und, falls er Deutsch kann, eines >>>> der Bücher oder Hörstücke.) Ich sei ‘99 oder ‘98 oben beim Ausbruch auf dem Ätna gewesen… Der Junge ist bei mir, sonst hätt ich jetzt die beiden gefragt, ob sie mich höher führen. Aber dauernd geht ihr walky talky, möglicherweise sind sie mit dem kreisenden Hubschrauber verbunden; außerdem ist die Sicht wirklich so schlecht, daß ein Höhersteigen kaum etwas brächte. „Das da unten ist die neue Lava…“ Sie hat eine längliche Plattform neuen Landes ins Meer vorgeschoben.Man kann sie auf dem Bild gut erkennen, die untere graue Fläche ist‘s; das ging alles nach dem 15. 3. ins Meer (und tiefer; man wisse aber nicht, wie fest der Untergrund sei, ob er halte – gut möglich, daß die Lavafläche noch ins Meer hinunterbricht).
Dann ziehen die beiden weiter, und Adrian und ich ziehen nach weiteren Tonaufnahmen zum sentiero hinab, dem Naturpfad, dem wir bis zum Abstieg zur Piazza folgen – immer wieder unterbrochen von Pausen, in denen Töne aufgenommen werden.
Und jetzt, nach Rasur und Dusche, sitze ich, einen Cigarillo rauchend, auf der Terrasse bei Barbara, trinke einen ziemlich schlechten Wein, den ich neulich kurz nach der Ankunft auf der Insel für die Abende im Hotel erstand und morgen früh nicht mit zurück aufs sizilische „Fest“land schleppen will, telefonierte mit Herrn Stolz vom Döblinpreis, schreibe diesen Eintrag und stelle ihn gleich ein. Mein Junge und sein neuer Freund malen Bilder und malen aus Ton gefertigte strombolianische Miniaturen aus.
P.S.:
„Papa, was bedeutet das Ding dort?“ (Er meint eine provisorische, transportable Absperrung aus Metall, die über den Pfad aufgestellt ist.)
„Daß man da nicht durchgehen soll.“ (Geht durch.)