Paul Reichenbachs Montag, der 5. März. Die leere Stunde.

>>>”Singen”, da war sie ungefähr 25 Jahre alt, “ist für ich mich mehr als Liebe machen”, habe sie einmal gesagt, erzählt er mir dann später und zündet sich, obwohl seine Frau striktes Rauchverbot im Haus verhängt hatte, ein Zigarillo an.
Stell Dir vor: Du liegst mit deiner Geliebten auf dem Teppich, schweißgebadet, ihr habt es gerade getan und deine Liebste erklärt dir, dass Gesang ihr größere Lust bereite, als das Wippen Haut an Haut. Wir wohnten damals in einem kleinen Vorort von W. zur Untermiete. Das Zimmer war nicht groß und karg eingerichtet. Ein Schrank, ein kleines Regal, ein Sekretär, Rokoko nachempfunden, mit unendlich kleinen Fächern und Schubladen. Das Bett, eingelassen in einem Alkoven, trennt ein Vorhang aus rotem Plüsch vom übrigen Raum. An der Wand ein mannshoher Spiegel, dessen Rahmen kitschige Rosen zieren. Alles ziemlich schwülstig. Sie steht auf stellt sich vor den Spiegel, das Vlies ihrer Scham glitzert noch, legt erst die linke, dann die rechte Hand auf den nackten Bauch, so dass die Fingerspitzen sich fast berühren, und beginnt mit Stimmübungen.
Bei mmmooooooooooooooommm gleiten ihre Hände zu den Beckenknochen…


Was hättest Du an meiner Stelle getan, fragt er mich und fährt, ohne wirklich Antwort zu erwarten, fort, ich ziehe mich an, sammle ein paar Sachen, gehe zur Tür, obwohl sie mich im Spiegel sehen kann kommt von ihr keine Reaktion, und verlasse das Zimmer. Die Nachmittagssonne, ein heller Fleck, wärmt den Boden.
Das Ende ist schnell erzählt. Am gleichen Tag, sie war im Theater, sie sang damals den >>>Cherubino, packte ich meine wenigen Habseligkeiten und quartierte mich vorübergehend, wie ich meinte, bei ihrer Freundin ein. Die studierte Romanistik. In unserer ersten Nacht las sie mir Aragon vor, “Blanche oder das Vergessen.”

“Ein Buch oder ein Mann, das ist für die leere Stunde.”

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .