Paul Reichenbachs Montag, der 22. Januar 2007. Die Puppe.

Seit vier Tagen versucht einer zu entkommen. Und schafft es nicht. Sein Blick hängt verzweifelt am Sekunden -, Minuten- und Stundenzeiger. Kann sie nicht aufhalten. Höhnisch grinst der Kalender. Vier Tage Flucht. Ein Laufen auf dem Band. Er rannte, als ob es ums Leben ging. Und kam nicht vorwärts.
Begonnen hatte alles mit einem Anruf seiner Mutter, die nach ihm verlangte. Ich bin krank meldete der Anrufbeantworter mit beleidigter Stimme. Er fuhr hin und sah sie fröhlich am Nierentisch sitzen, der Fernseher dröhnte. “Schnupfen habe sie und schwindlig sei ihr.” Ja, dachte er: Schwindlig. Ein ganzes Leben schwindelt sie schon. Sie ist 83 und wohnt in einem Hochhaus, das über die Jahre, ungeplant und wildwüchsig, zur Altenwohnanlage mutierte. 43 Quadratmeter hat die Wohnung incl. Küche und Bad. Vom Balkon geht ein wunderbarer Blick auf die Skyline von Frankfurt. Und immer, wenn er seine Mutter besucht, reißt er als erstes die Balkontür auf, tritt hinaus und träumt. Vergessen das Gezischel der Mutter, die durch die offene Tür klagt, dass er sich zu wenig um sie kümmere. Nichts kann er recht machen. Ein Leben, sein Leben lang geht das schon. Auf ihren Sesseln liegen, sitzen Puppen und starren mit toten Augen ihn an. Seit 12 Jahren ist sie blind. Diabetes. Und er denkt: Mitgefühl sollte ich haben. „Hör über sie weg, sagt seine Frau, sie will dich doch nur ärgern. Was weißt du schon, schießt es ihm durch den Kopf. Als er acht Jahre war, kam zum ersten Mal der Gedanke, dass sie nicht wie eine Mutter sei. Es war Lohntag. Und wie immer an solchen Tagen zog sie durch das einzige Kaufhaus der Stadt und kaufte. Kaufte. Puppen. Die Dienstwohnung, seine Mutter war Telefonistin, vollgestopft mit großen und kleinen Marias, Veronikas, denen Fritzen und Ottos sich beigesellten, hatte keinen Platz für ihn. Mama, sagte er leise schüchtern und zupfte sie am Ärmel ihres Mantels, Mama ich brauch noch Geld für die Essmarken in der Schule und neue Schuhe muss ich haben, die alten sind zu klein, sie tun mir weh.. Nächsten Monat Paul, lautete die Antwort. Nächsten Monat, immer nur nächsten Monat, schrie er, riss sich los und rannte heulend zu seiner Großmutter.
Seit 4 Tagen versucht einer zu fliehen. Und schafft es nicht.

3 thoughts on “Paul Reichenbachs Montag, der 22. Januar 2007. Die Puppe.

  1. Die Beklemmung und der Konjunktiv II. Ein furchtbar auf den Atem drückender Text ist das. Aber gerade deshalb, um das nicht zu verfälschen:Schnupfen hätte sie und schwindlig wäre ihr. Hier fehlt die Kondition: “hätte, w e n n” / “wäre, w e n n”. Deshalb muß der Satz, ist er ‘richtig’, lauten:

    “Schnupfen h a b e sie und schwindlig s e i ihr. “
    Nicht ärgerlich reagieren, bitte. Denn es geht um >>>> G e h a l t, nicht um beckmessernde Korrekturen.

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