Ein schwerer, seltsamer Samt. Anstelle eine Arbeitsjournales am Mittwoch, den 20. Februar 2019.

[Arbeitswohnung, 9.46 Uhr
Wolfgang Rihm, Klavierstück 5]
Es hat große Schönheit, daß in der Folge all der Tode auch zu Annegret geschrieben ward, der mir Unbekannten, den meisten Unbekannten, einer, die nicht öffentlich ging, deren Tod also nicht allgemein, nicht einmal halb allgemein war, es hier aber wurde. So steht sie, oder liegt, zwischen Bruno Ganz und Karl Lagerfeld, deren Schicksal es ist, Ideen geworden zu sein, in denen ihr persönliches Sterben wie aufgelöst ist oder seltsam verborgen unter dem schweren Samt, den ich spüre, weil er uns, die wir mediale Zeugen werden, ganz ebenso bedeckt.
Mein Verhältnis zu Ganz – wie l ä ß t sich eines haben zu ihm? G a r nicht! Sondern nur zu dem, was er vorschien; darum folgt, m u ß folgen, eine andere Rede als zu Annegret – war immer ambivalent, anders als Bersarins, dessen Nachruf ich mit solch einer Hingebung aus Interesse und Zugewandtheit las, daß ich diese meine Ambivalenz fast zurücknehmen mußte, die ihren Grund weniger in Ganz’ens Schauspielkunst hatte als in der Art seiner Gedichtrezitationen. Die mochte ich nicht. Denn immer klang da etwas Larmoyantes heraus, eine fehlende Schärfe, die eben, wenn sie fehlt, fehlen nicht einmal kann. Der Grund mochte in seiner Stimme-selbst liegen, ihrem Melos, die einem Sprecher schlichtweg gegeben, und wenn er technisch noch so perfekt ist. Ganz rezitieren zu hören, verschaffte mir fast dasselbe, also ein gleiches Unbehagen wie die Gedichtlesungen Peter Härtlings. Beider Stimmen hatten etwas von Männerfüßen, die zu lange in denselben Socken und Schuhen gesteckt; stets dachte ich die Hosenträger dazu.
Auch zu Lagerfeld schreibt Bersarin Bedenkenswertes und bezieht sich wie so oft auf Walter Benjamin, wobei er doch fast wie Ernst Bloch klingt, aus dessen Denkraum die wichtigste Bemerkung aufsteigt:

In der Seltsamkeit des Exzentrikers liegt die Utopie. Selbst da, wo er mitten im Betrieb steht und zum Erhalt beiträgt. Das Gespür für die Schönheit (…) verschafft manches Mal mehr als das lausige Reden, Machen, Tun und Schreiben und unser Einerlei.

Wie wahr dies ist, hat eine Karikatur erfaßt – ein wundervoller Beitrag zu diesem Tod -, in der Gottvater komplett unsicher vor seinen auf einer Stange hängenden Anzügen steht und einfach nicht weiß, welchen von ihnen er wählen, in welchen er sich kleiden soll, da Lagerfeld doch nun empfangen werden muß. Alleine deshalb hätte er, Gottvater, es vorgezogen, den Mann noch lange Zeit unter den Lebenden zu lassen. Nur hat ihm Mefistofele jetzt diesen, ich kann es anders nicht sagen, Lausbubenstreich gespielt und amüsiert sich prächtig. Denn darin liegt Hoffnung. Die einzige vielleicht, die wir haben. Daß Gott so ratlos ist, menschlich ratlos, und obendrein komisch. Alleine solche Bilder lassen uns religiös eine Chance.

Aber genau das, daß sie eben denkbar und vorstellbar sind und uns zum Lachen bringen, legt den Finger auf den Unterschied. Um Annegret würd sich der Teufel nicht kümmern, und auch Gott nähme sich ihrer nicht an. Also wenn es ihn gäbe. Bei Paulus Böhmer wissen wir’s nicht; sein Ruhm gehörte noch nicht ins Idole. Was andererseits aber heißt, daß er wirklich gelebt hat, gelebt, wie Annegret lebte. Das Wundersame ist, daß, wenn ich sie weiterhin so betrachte und über sie schreibe, und wenn Andere, weniger Unbedeutende als ich, es ebenfalls tun … – daß sie dann in Lagerfelds Welt hinzutreten würde – post mortem werden wie er: ewig Idee. – Niemand hat auf so etwas stärker sein poetisches Werk errichtet als eben Paulus Böhmer, in dessen Versen wir die “berühmten” Namen bei denen längst Vergessener gleichberechtigt stehen finden, Ingeborg Haberkorns zum Beispiel.

Ich schreibe von einem schweren, seltsamen Samt, den wir, werden wir älter, anfangs vielleicht kaum sehen, allenfalls spüren, aber noch nicht seine Weichheit. Und falls wir sie sehen, dann als verdunkelnd im Augenwinkel eine sich ballende Wolke, bevor sie sich senkt. Da schauen wir auf keinen Fall auf. Denn wenn wir es täten, berührte sie uns, wäre schon da. Und wir, bereits, lägen drunter.

Humus: der zersetzte organische Anteil im Erdreich.

Er breitet sich aus, dieser Samt. Ein Dichterfreund schrieb mir von schwerer Erkrankung. Die Erde gräbt sich um, sich selbst um und uns um. Sie braucht das, um fruchtbar zu bleiben. Hier sehe ich schon neue Halme, noch Sprößchen nur, dort den Trieb eines später vielleicht einmal mächtigen Ahorns. Quasi über Nacht schossen Schlüsselblumen auf, Himmelsschlüssel, ecco! Paulus Böhmer, Bruno Ganz, Karl Lagerfeld. Und Annegret genauso. Ihr Keimling habe, erklärt Wikipedia mir, eine verlängerte Radicula und zwei grüne gefaltete Blättchen. Die kann ich jetzt schon sehen.

 

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .