Es ist gestochen! Im Arbeitsjournal des Sonnabends, den 3. September 2022, drei Tage vor Triest und Karst. Mit Erläuterungen des weiteren Tattoo-Votiv*plans.

[Arbeitswohnung, 7.58 Uhr
Keith Jarrett, solo live Shelburne, Vermont 1977]
So hab ich vor Triest nun selbst d a s noch hinbekommen; die Grundform des Tattoos ist gestochen. Jetzt muß es vier Tage unter der Schutzfolie ruhen, die ich also in Triest abziehen werde, am Dienstag. Und gleich nach meiner Rückkehr aus dann bereits Wien, wohin ich unmittelbar nach Triest weiterreisen werde, wird es weitergehen. Denn die Idee ist ja, daß aus den Spiralarmen der Triskele immer wieder Ranken herauswachsen werden, die dann auch Blätter tragen — bis sich ein komplettes Bild ergeben haben wird, das ich aber ebenfalls sich weiterentwickeln lassen möchte, ein quasi-organisches work-in-progress. Und wer weiß, was meiner Tattoo-Künstlerin alles noch einfällt. Ich muß ihr nur meine Vorstellung übermitteln, daß ich ihr die größtmögliche Freiheit gebe – für sie möglicherweise ungewohnt, weil Fotorrealistin. Was sich an diesem Tattoo sehr gut erkennen läßt, das meine Vorlage präzis realisiert hat, aber nicht, wie ich wollte, über sie hinausgegangen ist. Doch wie genau Elena gearbeitet hat, ist auf der Vergrößerung trotz der Folie sehr gut zu erkennen (dieses Bild entstand unmittelbar nach Fertigstellung im Studio):


Sehr gut ist die von mir so gewollte Haarstruktur zu sehen, aus der dann später die Ranken heraus in die Zwischenräume wachsen sollen. Was jetzt witzigerweise wie eine dritte Brustwarze aussieht, also die Erhebung unter dem Triskelenzentrum, ist übrigens der Bioport; am Ende des oberen Spiralarms erahnen Sie außerdem den kleinen ebenfalls unter der Haut liegenden künstlichen Zuführungsschlauch, den Elena ziemlich raffiniert mit dem Spiralarm verband. Aber die eigentliche Wirkung insgesamt wird sich wahrscheinlich erst erkennen lassen, wenn die Folie abgezogen sein wird.
Elena, ja. Ich hatte bis gestern ja nur von ihr gehört. Und wie fast fassungslos war ich, als sie mir dann entgegentrat; vielleicht fünfundzwanzig Jahre, allerhöchstens achtundzwanzig alt, entspricht sie dennoch frappierend dem von mir so verehrten Frauentypus: eine sehr schmale, geradezu fragile Figur mit ausdrucksvoll schmalem Gesicht unter dunklem Haar; für eine Frau erstaunlich breite, bewußt so gepflegte Augenbrauen, schmale Hände an nahezu zerbrechlich wirkenden Handgelenken, die Unterarme ein einziger sehniger Traum; wenn sie spricht, hingegen, die Stimme, sie ist kräftig, selbstbewußt – und wie hinreißend, daß sie während des Stechens immer wieder – es lief eine Musik, die ich unter Rockpop einordnen würde – nicht zu singen, nein, aber doch mitzusummen begann. Welch eine innige Konzentration! Überhaupt war die Prozedur alles andere als schwierig auszuhalten, im Gegenteil wogen die Berührungen – auch weil sich Elena immer wieder mit einem Arm auf meiner Brust und meinem rechten Unterarm abstützen mußte – jeglichen, nun jà, in Häkchen, „Schmerz“ so sehr auf, daß es meinetwegen hätte noch Stunden so weitergehen können und ich es wirklich bedauerte, als alles nach knappen zwei vorbei war. So viel körperliche Zuwendung war mir lange nicht mehr vergönnt gewesen, organisch pulsierende, warme Berührungen. Einmal, als sie meinte, bereits fertig zu sein, und mich das Ergebnis im Spiegel begutachten ließ, zögerte ich die Prozedur noch einmal hinaus, bat darum, die Spiralarme noch etwas breiter anzulegen und das Zentrum etwas mehr zu betonen. So daß ich immerhin eine weitere Viertelstunde gewann. Übrigens läßt es sich für meine Empfindung von „stechen“ nicht eigentlich sprechen; es kam mir eher wie ein leicht schrammendes Ritzen vor, dem der Brummton des schmalen Tätowier-… — ich möchte es –stifts nennen … entsprach. Wie entscheidend Klänge für mich sind, zu denen Geräusche unbedingt gehören, wissen, Freundin, Sie ja.
Einhundertfünfzig Euro wollte der Chef nachher von mir haben, dreißig weniger, als er kostenveranschlagt hatte. Ich legte zehn für Elena drauf, bat ihn, sie ihr zu geben, weil ich selbst, es zu tun, für übergriffig hielt und nach wie vor eigentlich jetzt noch halte. Solche Bakschischs sind immer etwas von oben herab, streichen die Augenhöhe durch, die mir gerade bei einem solch intimen Prozeß wichtig ist, als den ich diese „Liegung“ allezeit empfand. Ich fühlte, Elena zu beschämen, steckte ich ihr Geld zu, sie vielleicht sogar zu beleidigen. Aber er, der Chef, bat mich, es ihr dennoch selbst zu geben. „Sei sicher, sie mag es mehr, als wenn ich es ihr gäbe.“ Und so geschah es denn.
Jedenfalls ein weiteres Lebenserfahren für mich, n o c h etwas durchaus berauschend Neues, wie es seit meiner OP vor heute fast genau zwei Jahren und einem Monat nun schon so oft bereitgestanden und gewartet hat, daß ich mich darauf einließ.

Und spätabends rief Freund Sascha an, ob ich nicht auf einen Absacker schnell noch rüberkäme, es gebe Neuigkeiten … So saßen wir von halb dreiundzwanzig bis halb vierundzwanzig Uhr bei Bier auf seinem Balkon und plauderten. Er werde noch einmal Vater … – was er sich so lange schon gewünscht hat … Mich durchfuhr erneut ein Glücksgefühl mit einer nur ganz leisen Beimischung Schmerz, weil mir dergleichen nicht vergönnt gewesen ist und nach der Chemo nun auch vergönnt gar nicht mehr sein kann. Doch sowieso, Sascha ist ja fast zwanzig Jahre jünger als ich, da läuft es in den Bahnen der schönsten Natur; bei mir, jetzt mit siebenundsechzig, wäre picassohin/picassoher leicht ein Hautgoût denn doch dabei, zumal der Krebs erst nach drei bis fünf Jahren als geheilt gilt. Die finanzielle Enge kommt noch drauf, die – wenn ich mir ansehe, wie wenig Engagements und sonstige Aufträge ich überhaupt noch bekomme – möglicherweise noch zunehmen wird; damit, daß eines meiner Bücher plötzlich Geld abwirft, ist sicher nicht zu rechnen; zu sehr liegt meine Arbeit neben dem Mainstream auch in der Literatur, und viele gute Kräfte sind nachgewachsen und fordern ihr Recht, zurecht. — Nein, Freundin, ich bin nicht im entferntesten niedergeschlagen, lebe gerne wie seit je und mit derselben Leidenschaft, was aber nicht bedeutet, sich etwas vorzumachen. Abfolgen sind natürlich.

So, jetzt mal ins Bad, dann kleiden, heute wieder Anzug, dann Besorgungen tätigen, auch und gerade für Triest. Die Planung für den Aufenthalt ist abgeschlossen; wahrscheinlich am Montag stelle ich die Pläne ein. Morgen wird es den wieder nötigen halben Wäschewaschtag geben, und vielleicht schaffe ich es ja doch, wieder etwas am siebenunddreißigsten Triestbrief weiterzuschreiben. Wichtig ist es aber nicht, hat Zeit bis nach Triest, wenn ohnedies einiges wird umgeworfen werden müssen.

Genießen Sie den Sonnabend. Wie, o Freundin, ich es ebenfalls tun werde, der in Musik doch jetzt schon schwimmt.

Ihr ANH

[10.02 Uhr
Keith Jarrett, solo live Budapest Oktober 2007]

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*) Ja! „Votiv-“ statt „Motivplans“!

3 thoughts on “Es ist gestochen! Im Arbeitsjournal des Sonnabends, den 3. September 2022, drei Tage vor Triest und Karst. Mit Erläuterungen des weiteren Tattoo-Votiv*plans.

  1. Hel Mi
    Ein überaus interessantes Tattoo, insbesondere weil es so widersprüchlich erscheint. Einerseits cyborgig, schon wegen des Bioimplantats, wirkt es, aufgrund der Farbgebung, Zeichnung und nicht zuletzt Ihrer ausführlichen Erzählung, vollkommen organisch. Gleichzeitig spricht die Präzision eindeutig für etwas Gemachtes, zu perfekt, um natürlichen Ursprungs zu sein. Es ist schaurig schön, mit der Betonung auf schön. Ein Mal, auf das man am liebsten verzichten möchte, schon wegen des Anlasses, aber eben eines, das so viele und so vielfältige Aussagen trägt und trifft, dass es schon fast poetische Züge zu haben scheint. Provokativ könnte man vielleicht von rechtschaffenem Kitsch sprechen? Wenn ja, dann ist er von einer Art, die mir persönlich sehr wertvoll ist, auch wenn er selbstredend Ihnen allein gehört. Wie so oft, wenn ich vor Ihrer Kunst „stehe“, mischt sich auch jetzt wieder gefühlter Erkenntnisgewinn mit völliger Ratlosigkeit. Bitte seien Sie großzügig und sehen Sie mir dies nach …

    ANH
    Lieber Hel Mi, sehr großen Dank für diese Einlassung. Das Wort vom „rechtschaffenen Kitsch“ möche ich sogar gerne annehmen; selbstverständlich werden, allein, weil die Triskele weißGöttin nicht ohne Esoterik ist, Kitschbereiche zumindest berührt, bei mir vielleicht sogar mehr als nur das. Es ist dies aber auch ein Grund, weswegen ich dieses Tattoo insofern leben lassen und es nicht bei der puren Symbolik bewenden lassen möchte, als ich es weiterzuentwickeln vorhabe, und zwar so weit, daß ich die Gestaltungshoheit meiner Tätowiererin über-, mich also anheimgeben will. Daß dies ein Risiko ist, ist gerade, was ich intendiere. Und auch mit dem „zu perfekt, um“ haben Sie recht. Artifizialität ist in meinem Kunstverständnis unabdingbar; es ist das, womit wir uns – jedenfalls ich als Künstler tu’s – gegen Natur (um ein Wort Saint-Exupérys zu verwenden) austauschen [„Der Mensch braucht etwas, gegen das er sich austauschen kann“, >>>> Citadelle 1948: ]. So daß Natur und Mensch sich gegenseitig, sich ineinander verschlingend, sowohl kommentieren wie umformen und damit bereichern. Es ist dies ein ästhetischer Ansatz, von dem ich, seit ich professionell zu schreiben begann, niemals abgelassen, sondern den ich stetig weiterzuentwickeln versucht habe. Das entspricht übrigens auch dem von mir sogenannten „perversen Prozeß“ aller Kunst, nämlich Leid, Schrecken, Entsetzen, Grauen durch Transformierung in ein anderes Medium in etwas „herumzudrehen“, das s c h ö n ist oder als schön wahrgenommen wird. Ein einfaches Beispiel ist der Blues, dessen Name doch eben „traurig sein“ bedeutet, hören wir ihn aber, also die Musik, erfaßt uns ein Glück. Was hier ebenfalls kitschig klingt, ist tatsächlich hochkomplex. Vielleicht hat Ihre Ratlosigkeit auch damit zu tun. Nahezu alles, was ich herausgebe (und habe zeitweise sogar „mein“ Ich immer zugleich durchgestrichen) und auch herausgeben mag, ist von großer Ambivalenz, das „zuhause“ immer auch sein Gegenteil, nämlich tiefe Fremdheit. Jede und jeder, glaube ich, kennt das; man drängt es nur gerne weg, aus verständlichen Gründen. Indessen ich so gut wie nie anders kann, als immer genau hinzugucken und dann zu versuchen dafür einen künstlerischen Ausdruck zu finden. Deswegen ist mir auch so weitgehend egal, was gerade en vogue ist und was nicht. ||| Ihr Einverständnis voraussetzend, kopiere ich unsern Gesprächswechsel als Kommentar unter das heutige Arbeitsjournal.

    Ihr ANH

  2. Lieber Alban Nikolai Herbst, selbstverständlich bin ich mit der Verpflanzung unseres Gesprächs in Ihren literarischen Dschungel einverstanden. Es hat für mich zudem etwas Versöhnliches, dass sie sowohl den „rechtschaffenden Kitsch“ so stehenlassen oder gar bestätigen mögen, als auch meiner Ratlosigkeit etwas Rechtschaffendes abgewinnen können. Versöhnlich insofern, als ich mit diesen Aussagen mitnichten anmaßend erscheinen wollte. Dies war vor dem Absenden eine – kleine – Sorge von mir gewesen. Danke also für Ihre Nachsicht.
    Als Leser möchte ich Ihnen sagen, dass, was Sie als perversen Schaffensprozess beschreiben, dieses Aufbrechen und neu Erschaffen, zumindest in meinem Fall voll auf die Leserseite durchschlägt. Nerds sprechen ja gerne vom Gehirn als leistungsstärkstem Grafikprozessor, zudem naturgemacht. Aber dadurch, dass sich zu Ihrer Phantasie ja noch die meine mischt, entsteht vor/in mir im Ergebnis oft eine wunderschöne, aber eben doch Ungeheuerlichkeit. Auf der einen Seite die grauen Herren von der (nicht Ihrer) Zeitsparkasse, gleich neben dem Duft von Kaffee und Backwerk, umweht von Grasgrün (oder wie das hieß). Meine Ratlosigkeit fühlt sich angesichts dessen an wie Notwehr, ein Schulterzucken, weil dieser Gafikprozessor zwar gut ist und viel denkt, aber wenig weiß.
    Haben auch Sie vielen Dank für diesen wunderbaren Austausch bei – zumindest hier – strahlendem Sonnenschein. Und weiterhin gutes Gelingen mit Ihrem Tattoo- und literarischen Projekt. Beides macht gleichermaßen Lust auf meer. Ihr Hel Mi

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