[Arbeitswohnung, 13.10 Uhr]
Man nehme eine (oder mehrere) tatsächlich existierende Personen und bringe sie mit den fiktiven Personen eines Romans zusammen. Es braucht gar nicht lange, da gehorchen sie denselben poetischen Gesetzen wie die erfundenen Figuren; sie haben rein denselben Atem und werden sich auch völlig anders verhalten. Sie werden also Avatar. Das ist eben das Interessante daran, eine genuin künstlerische Bewegung vollzieht sich, der die Realität völlig entspricht. – Darauf brachte mich eigentlich erst → meine Börsenzeit. Du hörst ein Gerücht oder setzt es in die Welt, es läuft als stille Post weiter und weiter… – und die Kurse ändern sich, was wiederum direkt marktwirtschaftliche Folgen hat und das Wohl und Wehe ganzer Familien bestimmt, aber auch die Technologie selbst. Ohne die großen (mythischen) Fantasien hätte es wahrscheinlich ganze Stränge technologischer Entwicklungen nicht gegeben.
Ich rede mir seit Jahren den Mund deshalb fusslig, der Literarbetriebler hört kaum zu und erwartet – vorgeblichen, logisch, aber er hält ihn für das – „Realismus“. Da holt sich – wenn Ralf Berhorst in der Süddeutschen schreibt, die einstweilige Verfügung kassiere die Grenze zwischen Literatur und Leben – mit einem Mal „Leben“ einen Anteil „Literatur“, den es ja sowieso schon hat, und zwar auch und gerade im Fantastischen. D a s ist das bedenkenswert Bedenkliche. Im Grunde muß es jetzt auch darum gehen, → dieses Verfahren mitzuschreiben und zu poetisieren. Kühlen Herzens sein, wo es doch jagt.
Mein Kopf arbeitet auf Hochtouren, hier kommen Einfälle um Einfälle, und ich muß sehr genau gucken, da man doch einen Strick schon dreht, den man mir um den Hals legen will. Bei aller Provokation, so kannte ich das bisher noch nicht.
Einwand des Freundes vorhin: Ich hätte das mit Rauschenbach nicht schreiben sollen, das sei doch Selbstbespiegelung. Nun ja. Aber weshalb soll ich einen Impuls von Stolz unterdrücken, wenn ich ihn habe? Weil es sich gehört, bescheiden zu sein? Wer hat das den Leuten eingehämmert und warum? Nervig wird solche Freude doch nur, wenn einer sie dauernd erzählt. Mal abgesehen davon, daß im Moment von „Freude“ eh keine Rede sein kann; ich hätte wirklich alles andere lieber als diese Schlammschlachten, die sich etwa da bereits andeuten, wo von den „pornographischen Stellen“ in → MEERE die Rede ist. Ihre literarische Funktion ist doch klar, die → SM-Fantasien werden von mir erzählt, weil ich sie und ihre Realisierungen, die ja tägliche Mode geworden sind, in den Zusammenhang mit der kybernetischen Entkörperung von Welt stelle: „Aus dem, was in den letzten Jahren dem Körper geschah, kann ich rückschließen, was dem Subjekt widerfuhr: Tattoo, Branding, Piercing, Body Art und der Einzug des Sadomasochismus in den Chic sind letzte aufbegehrende, perverse Akte der Selbstvergewisserung von Körpern.“ Das formulierte ich bereits in meinem Aufsatz „Das Flirren im Sprachraum“ (Schreibheft 56). In einem Roman, der die Geschichte einer zugleich tiefen Liebe wie exponentiell verlaufenden Obsession und ihrer Explosion erzählt, kann ich das gar nicht ausklammern, sofern ich nicht völlig neben der Zeit schreiben will, in der ich lebe. Es gab ja schon ganz die gleiche Dynamik in → THETIS: Dieses Buch mußte den Völkermord auf dem Balkan mitprotokollieren und poetisch in Bewegung setzen. Es wäre sonst ein rein-distanziertes, ja: germanistisches, akademistisches Buch – also Gelaber – geworden. Daß man mir hinterher die vielen geschilderten Grausamkeiten vorwarf, wunderte mich zwar nicht, machte die Notwendigkeit aber sogar noch im Nachhinein zwingend.
So, jetzt muß ich mir Ekelhaftes tun, wegen dieser MEERE-Sache. Was ich hier notiere, kann vielleicht wirklich einmal → eine Poetik werden. Ich schreibe (fabulierte) jetzt lieber weiter.
[Poetologie]