Das Literarische Weblog als Sozialbildung mit dem Leser. Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (41).

Insofern der Autor ein persönliches Tagebuch im Netz unterhält, offeriert er den Lesern einen Vorschein von Familiarität: Dies schafft eine Bindung, die auf der Oberfläche des Lesers voyeuristisch, auf der des Autors exhibitionistisch wirkt, tatsächlich aber der Raum einer insoweit nicht bloß imaginierten Sozialbindung ist, als eine jede Form der Beziehung auf neuronaler Programmierung beruht: – eine material-sinnliche Entsprechung kann das Gefüge zwar (empirisch) bestätigen, nicht aber, wo sie fehlt, aus der gefühlten Wirklichkeit hebeln. Da es immer Subjekte sind, die fühlen, spielen für Reichtum oder Armut der Innenwelt, also der Subjektivität, objektive Kriterien gar keine Rolle. Das gilt auch dann, sollte ein Autor in seinem Öffentlichen Tagebuch Geschehen, die ihm zustießen, erfunden haben. Ob etwas so oder so tatsächlich w a r, ist für ein entstehendes Sozialgefüge gänzlich unerheblich und wird erst dann zu einem den Leser frustrierenden Problem, wenn eine Überprüfung der geschilderten und mitgefühlten Sachverhalte zur Ent-Täuschung führt, das heißt, wenn sich ein Leser betrogen vorkommen muß. In Hinsicht hierauf unterscheidet sich eine solche Netz-Beziehung nun abermals nicht von der realen, anstelle derer sie sich surrogiert.
Macht der Autor auf diese Zusammenhänge aufmerksam, ja kündigt er an, daß er im Tagebuch Geschichten erfinde, so wird ihm in aller Regel nicht geglaubt. Um so stärker wird freilich später die Enttäuschung sein, da ihr ja auch noch eine Selbst-Täuschung zugrundegelegen hat. Dabei ist es ‘real’ ganz gleichgültig, ob ein Text objektiv Wirklichkeit beschreibt oder nicht. Doch das Bedürfnis nach familiärer, d.h. verläßlicher Identifikation wirkt über jede Fiktion weit hinaus. Was nicht zuletzt daran liegt, daß Familiarität und Sozialität ganz allgemein mächtige fiktive Grundlagen haben. Die spiegeln sich nun gerade in den kybernetischen communities der Schönen Neuen Medienwelt wider: Es sind zweidimensionale Projektionen, mit denen zu spielen geradezu handwerkliche Verpflichtung jedes Literarischen Weblogs ist. Wie alle Dichtung ist es der Betrug, der sie trägt, – nämlich um Wahrheit zu lügen.

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