„Gleißnerin, unerforschte, dem Meer gleich…“, rezitierte brüchig, weil mit und in ziemlich s e h r gehobener Stimme & Stimmung eine ältere Dame in Schottenrock und blaßroten Nylons darunter, die den Umstand nicht eigentlich verbargen, wieviel Wasser sie in Unter- und Oberschenkeln hatte. Sie hatte es dummerweise, trotz des deklamierten Goethes, auch im Kopf; vielleicht schüttete jener sogar Wasser, nämlich um den Gehalt seiner Verse, n a c h, die, gewissermaßen wie Luftblasen, über die Stampfer durch Bauch Brust Hals torkelnd hinaufstiegen, und an der nur leicht bewegten Oberfläche des Gehirntümpels zerploppten. Dabei hatte die Frau wie zum Gesang den rechten Arm ausgestreckt. Noch war da oben Platz zwischen dem Wasser und der Schädeldecke, sonst hätte sie Kopfschmerzen gekriegt. Aber nicht mehr für lange. Insofern konnte die Rezitatorin Michaela Ungefugger eigentlich nur dankbar sein, also weil die den Vortrag unterbrach. Dazu genügte es allerdings völlig, daß sie erschien; sie mußte gar nichts tun. Sie sprach auch nichts. War im Wortsinn sprachlos. Selbst der Gedanke an Jason und an ihre zickige Rache war, als sie die schranzige Gesellschaft erblickte, momentlang völlig verschwunden; man kann sagen, ihr Mund habe offengestanden. Tatsächlich sah sie zuerst die wasserrot verdickten Beine in den halbhoch klobigen Gesundheitsschuhen. Was daran lag, daß die Präsidentengattin vor den gläsernen Türflügeln zum terrassenartigen Balkon ein so hohes Podest hatte in den Saal zimmern lassen, daß man nur über ein kleines herangeschobenes Treppchen daraufkam. Davor, also recht eigentlich darunter, waren die Stühle gereiht, auf denen die lyrisch Begeisterten saßen und die Köpfe in die Nacken legen mußten, wollten sie der jeweiligen Bardin, dem jeweiligen Barden auf die in beiderlei Hinsicht bewegten Lippen schaun. Nun hatte Frau Ungefugger ein gutes, wenn auch simples Gefühl für repräsentative Architektur; deshalb war, ganz dem innenarchitektonischen Gedanken einer Konjunktur von Türflügeln und Terrassentürflügeln folgend, zwischen jenen und diesen ein Gang freigelassen, der genau mittig auf das Podest zuführte, hinter wiederum dem, jedenfalls tags, die neoklassizistische Sicht auf den weiten Balkon und dahinter die Berge des Juras zum dekorativen Rahmen wurde; jetzt, weil abends und hinter den Scheiben alles dunkel, formten bloß die oberen und seitlichen puttig verzierten Leisten der Fenstertürflügel diesen Rahmen; gewissermaßen wurde gespielt ohne gemalten Kulissenprospekt. Dennoch hatte, wer immer den Saal betrat, den Eindruck, er schaue auf eine Bühne; zumal wenn links und rechts auf den Stuhlreihen Hörer saßen. Aber der Blick ging eben, legte man den Kopf nicht zurück, zuerst auf die Beine. Also wenn man eine Bühne nicht eigentlich erwartete.
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