Arbeitsjournal. Sonntag, der 22. Oktober 2006.

8.27 Uhr:
[Berlin, Schönhauser Küchentisch.]
Einen langen Brief an das Kassen- und Steueramt Frankfurt am Main geschrieben, um die angedrohte Zwangsvollstreckung abzuwenden. Zu spät vielleicht, aber wir werden sehen. Auszüge, soweit sie nicht Privates betreffen, in das ein anderer Mensch eingebunden ist, habe ich Ihnen >>>> hier eingestellt. Ich sehe nicht ein, daß man dergleichen nicht öffentlich abhandeln soll. Im Gegenteil kann es gar nicht öffentlich genug sein; auch das ist ein Aspekt, der in jede Produktivitätstheorie hineingehört; verschwiege man ihn, wäre alle Überlegung, wie es denn zu diesen heftigen, existentiellen künstlerischen Impulsen kommt, müßig, bzw. verfälscht. Tatsache ist, daß künstlerische Arbeit sich nicht an ökonomischen Notwendigkeiten ausrichten, ja sie nicht einmal ins Auge nehmen darf, wenn sie denn den eigentlichen Prozessen und Sachverhalten ihrer Themen nahekommen, d.h. wenn sie sich nicht korrumpieren lassen will. Da aber nur wenige derart radikal mit ihrer Kunst umgehen, entstehen notwendigerweise Gegner-, ja Feindschaften, da jeder andere, der sich klug und furchtsam dem Weltlauf beugt, auf seine Schwäche hingewiesen wird und das geradezu naturgemäß als Angriff erlebt. Ich hingegen beuge mich n i c h t. Das nimmt man mir übel. Daraus mag sich auch der Eindruck von Arroganz herleiten, die man mir nachsagt. Und in der Tat, es i s t arrogant: gegenüber jedem, der sich pragmatisch verhält und nicht nach Maßgabe von Werk, Berufung und seelischem Gefühl.

20.39 Uhr:
Vorwiegend ein Kindertag war’s. Geschafft – n e u geschafft – ist heute nix. Ab morgen im Zug, ab mittags, soll sich das wieder ändern. Allerdings bin ich in der >>>> Menninghaus-Lektüre weiter und werde morgen einige Gedanken dazu formulieren. Ansonsten wird’s wieder an die Bamberger Elegien gehen, und ich will in Bamberg den ersten Sprechpart für PETTERSSON neu aufnehmen. Am Dienstag abend dann findet meine Lesung in der Villa Concordia Bamberg statt; aber ich werd – ebenfalls morgen – noch eigens darauf hinweisen.

6 thoughts on “Arbeitsjournal. Sonntag, der 22. Oktober 2006.

  1. Zum Pragmatismus Der Pragmatismus der Frauen scheint mir mit der ersten Plazenta zu wachsen und geht dann nicht mehr weg; als Mutter dreier Kinder mit Vätern, die kein Geld haben, spürte ich das allzusehr, er hat sich immer wieder gegen mich gewandt, aber nie so weit, dass ich mich v e r k a u f t hätte. Dass ein Öffentlichmachen wie das Ihre, lieber Herbst, in der hehren Welt der poetischen Diskussion ein schriller Aufschrei sei, eine unanständige Störung, eine Peinlichkeit, fällt auf diejenigen zurück, die dies so verstehen. Ihre Zahlen lassen die meinen gleich leichter wiegen, und läse ich nicht ständig anderswo, sondern konzentrierte mich auf meinen pragmatischen Text, dann wären es wieder ein paar Hunderter weniger.

    1. Der Pragmatismus der Frauen. Ist ein sehr spannendes und – glaube ich – auch evolutionstheoretisch wichtiges Thema. “Frauen lieben praktisch” schrieb ich einmal. Woraufhin eine Freundin, wohl mit Recht, einwandte: “Nein, sie lieben nicht praktisch, aber gehen ihre Lebensbeziehungen praktisch ein.”
      Darüber wäre weiter nachzudenken und einiges mehr zu verstehen – ginge es nicht allzu sehr gegen das land-auf-und-ab-läuftige Verständnis von political und vor allem gender correctness. Umgekehrt müßte aber genau so nachdrücklich dasjenige verstanden werden, was ich eine männliche Position nenne. Ohne daß einem sogleich ein angeblicher Machismo um die Ohren gehauen wird.

      (Es geht nicht darum, Sorgeverpflichtungen gegenüber seinen Kindern abzuwehren. Denen läßt es sich – wenn man liebt – auch mit wenig Geld sehr gut nachkommen, einigermaßen Geschick, Kenntnis und auch vorausgesetzt, daß man einer Schicht angehört, die Bildung erfuhr und insofern in gebildete Kreise eingebunden ist. Diese Bemerkung ist wichtig.)

    2. So habe ich also immer denkbar unpraktisch geliebt. Und mich lebensbezogen. Der Konflikt mit der männlichen Position ist auch immer ein Konflikt mit der anderen Position in sich selbst.

    3. “mit der anderen Position in sich selbst.” Es ist vielleicht eigenartig, aber ich habe – wenn es um meine Arbeit geht – nie eine andere Position in mir gehabt als die, die ich seit nunmehr dreißig Jahren verfolge. Und zwar auch dann nicht, wenn die existentielle Katastrophe deutlich voraussehbar war. Ich bin ja nicht blind, sondern habe einen ziemlch scharfen Verstand. Doch besser, s i e tritt ein, als daß das Werk zersäuert wird. Die Frau, die ich liebe, warf mir deshalb einmal heftig vor: “Du stellst dein Werk über alles – auch über Menschen.” Das ist zu einfach gedacht (wenn auch sicher wahrhaftig empfunden); Tatsache ist, daß ich ohne mein Werk gar nicht w ä r e. Man könnte mir also mit gleicher Berechtigung vorwerfen: “Du stellst, daß du weiteratmen kannst, über alles.” Was nicht einmal stimmt, denn ich hätte überhaupt kein Problem damit, für die, die ich liebe, mein physisches Leben hinzugeben. Das klingt pathetisch, ist aber eine sehr nüchterne, sehr klare Aussage. Das Werk hingegen hinzugeben, ist etwas anderes. Haltung bedeutet auch: was lebe ich meinen Kindern vor. Und: Wie ernst nehme ich, was ich tue, tatsächlich.
      Möglicherweise unterscheidet dies eine gewisse Spezies von Künstlern von anderen Menschen signifikant.

    4. verwachsen Ich sehe Ihre Position auch zunächst als die des Künstlers und nicht des Mannes. Zu –>Opfer und –>ohne Werk nichts sein gab es bereits mehr oder weniger ausführlich Beiträge; ich wollte nur dieses Gefühl des eingewachsenen Pragmatismus anmerken, das ich, ohne mir die Position einer Künstlerin anmaßen zu wollen, auch und oft als zuwiderlaufendes empfinde, das mit den Kindern gewachsen ist und zunehmend als unliebsam Verwachsenes entdeckt wird. Der Verweis auf evolutionstheoretische Fragestellungen ersetzt leider nicht das Infragestellen der eigenen Person.

    5. @ConAlma. Man muß hierüber nachdenken. Wobei evolutionäre Verständnisansätze eben Verständnis schaffen können, auch wenn man mit dem, w a s das verstanden würde, nicht einverstanden ist und die Neigung bestehen könnte, dagegenzusteuern. Unsere Verhaltensweisen decken sich nicht notwendigerweise mit moralischen Maximen, ja können ihnen – und zwar aus guten wie schlechten Gründen – grob zuwiderlaufen. Gute Gründe wären für mich alle diejenigen, die gesundheitlich und/oder seelisch Schaden zufügen, einem selbst und/oder anderen.
      Mitunter denke ich, daß die recht alte Idee d o c h nicht so von der Hand zu weisen ist, es sei radikale Kunstproduktion aus dem Willen geboren, ebenfalls gebären – also Leben geben – zu können und insofern primär-männlich konnotiert. Etwa weiß ich nicht, ob – im Falle weiblicher radikaler Kunsttätigkeit – schon je das Verhältnis etwaiger Kindlosigkeit zur Kunstproduktion untersucht worden ist. Als ich Ihre Zeilen las, gärte da in mir ein Verdacht. Vielleicht e n t s p r i c h t die mir eigene Kunstradikalität gerade dem aus der Plazenta begründeten Pragmatismus der Mütter. Ich habe die Eigenart, n i e m a l s moralisch zu präjudizieren, sondern ein Interesse an Erkenntnis. Insofern ist “Frauen wählen ihre Liebesbeziehungen praktisch” kein moralisches Verdikt, sondern allenfalls eine K l a g e dessen, der das nie tut. Ungekehrt ist es mir vergleichsweise wurscht, ob mich jemand einen Macho nennt. Auf solche Zuschreibungen kommt es nämlich nicht an.

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