Arbeitsjournal. Montag, der 23. Oktober 2006. Berlin. Bamberg.

5.43 Uhr:
[Berlin, Küchentisch.]
Noch lange mit dem Profi unterwegs gewesen, der von Schiffen sprach, von Jagdgewehren, von der Savanne: „Sie ist ein Meer“, erzählte er im >>>> Odessa, wo wir an der Bar hockten & heckten, nämlich aus-. „Hier eine Lesung“, sagte ich plötzlich, „das wär mal was.“ „Au ja“, so C., die Bedienung, „aber es gibt keine Patte.“ „Schöner Raum für eine Lesung, drei- oder viermal eine Viertelstunde, dazwischen Pausen wegen der Bedienung.“ Ich: „Nö, im Gegenteil, eine Langlesung, ein ganzes Buch, und bedient werden kann währenddem. Mich stört das nicht.“ Der Profi reichte mir 1100 Euro rüber, zählte sie zwischen den Rotweingläsern und dem Gläschen eines gesüßten Grappas, den ich kosten wollte, auf dem Tresen ab; es sah aus, als hätten wir ein dunkles Geschäft gemacht. Momentan kam der Freund mir vor wie ein anderer, wie >>>> Arndt. Es war aber ganz harmlos: Er hatte Geld für mich eingenommen, aus einem, will ich mal sagen, Mädchengeschäft – jedenfalls steht, daß ich solche bisweilen tätige, in einer Anthologie in den biografischen Angaben. Also, ich hatte noch zwölf Euro auf der Tasche, auf meinem Konto sind etwas mehr als hundert; das wär mir zu knapp gewesen, rein psychisch, um so nach Bamberg zu fahren und dann dazustehen.
Und zu dieser Lesung zurück: Ich hätte schon drauf Lust: sich mal wieder einen langen Text durch eine ganze Nacht entfalten zu lassen. Es wär ja nicht das erste mal, daß ich so etwas tu: selbst den WOLPERTINGER hab ich zweimal hintereinander ganz vorgetragen, da allerdings an je dreiundreißig aufeinanderfolgenden Abenden, 1993 und 1994, einmal in Frankfurt mit riesigem Erfolg, danach in Berlin mit großem; bei THETIS dann, 1998, mit nur noch mäßigem; aber da hatte es auch keine Pressearbeit gegeben, und ich war der Berliner Journaille und dem hiesigen Betrieb längst schon suspekt geworden. Dann las ich auch den DOLFINGER ganz, ich weiß nicht mehr, wann, es gab die Galerie und das Café Mora Manfred Gießlers noch. Acht Stunden las ich da am Stück, mit Pausen von je zwanzig Minuten, um zwischen den drei Kapiteln mal zu pinkeln. Rauschhaft rauschend, wie eine Sinfonie. Die Hörer hatten sich Kissen, teils Decken mitgebracht. Vergangenheit. Dabei würde ich gerne Hörbücher sprechen aus meinen Texten; aber das macht der Markt nicht mit; die Käufer kaufen nach Merchandising-Regeln: was ein Bestseller war, hat sehr gute Chancen, alles andere fällt raus, und es ist völlig egal, ob eine Dichtung für den Klang entstand oder nicht. Es geht nicht um den Text, sondern um die Aura, die ihm der Markt gibt. Da herrscht diktatorisch die reine Demokratie, der reine Kapitalismus: ökonomische Mehrheitsfähigkeit.
Morgen abend nun werd ich in der Villa Concorda lesen, vielleicht eine und eine Viertelstunde lang: >>>> LENA PONCE, vierfünf >>>> Gedichte zum Atemholen, die >>>> VERGANA. Ob Publikum kommen wird, steht in den Sternen.
Merken Sie? Ich bring mich gerade wieder in die Stimmung der Bamberger Elegien. Dabei ist nachher ein Interview zu führen und vorher mein Junge zur Schule zu bringen. Und ich muß ein paar Worte mit seiner Lehrerin sprechen; er hat, was Schönschreiben anbelangt, nahezu dieselben Probleme, wie ich sie als ABC-Schütze hatte; sie führten damals dazu, daß ich ein schlechter Schüler wurde, weil sich schon meine Handschrift nicht anpassen wollte (und bis heute unleserlich geblieben ist für die allermeisten Menschen); selbst im Fach Deutsch hatte ich bis in die zehnte Klasse hinein stets Fünfen. Dann, ich war vom Gymnasium geflogen und auf die Realschule gekommen, kam da zum ersten Mal ein Lehrer – ich will ihn ehren: Hermann Quast hieß er und war ein tiefgläubiger Mann – auf die Idee: „Kannst du mit einer Schreibmaschine schreiben?“ Er setzte mich zu den Klassenarbeiten in einen getrennten Raum, stellte eine Schreibmaschine vor mich hin, nannte mir die Aufgabe, ging und schloß mich ein. N a c h der Zeit schloß er wieder auf und nahm meine getippten Seiten entgegen. Fortan schrieb ich Einsen; es war insgesamt die Wendung: alle anderen Fächer folgten. Ohne diese Drehung hätte ich niemals Abendgymnasium gemacht und ganz sicher niemals den NC von 1,1 erreicht. In der Grundschule, statt dessen, war erwogen worden, mich auf eine Sonderschule für Minderbegabte zu geben. Ohne den erbitterten Widerstand meiner Großmutter – einer sehr einfachen Frau, die aber Wärme für mich hatte – wäre ich da auch gelandet. Auch sie ist zu ehren, posthum: Else Eggers. – Sowas fällt mir ein, wenn ich die Schreibschwierigkeiten meines Sohnes beobachte und absurderweise ausgerechnet ich daran arbeite, daß er sich an die normierte Schönschrift hält. Schreibt er in Druckbuchstaben (die in der Schule gegenwärtig zuerst gelernt werden), hat er die Schwierigkeiten n i c h t. Weshalb, frag ich mich, soll er sich da an Schönschrift/Schreibschrift h a l t e n, weshalb sich einer solchen Beengung aussetzen müssen? Nur, weil alle anderen so schreiben, weil alle anderen sich anpassen? „Paß dich endlich an!“ war ein stehendes Wort meiner Mutter, und heute habe ich immer sofort die Assoziation von Anschluß dazu. „Bitte mach d u das mit der Schönschrift mit ihm“, sag ich zur Geliebten; aber dennoch, sitzen wir über seinen Hausaufgaben, dann will ich ja, daß er Erfolg hat in der Schule – nichts ist quälender und führt zu stärkerem Ausschluß von der Gemeinschaft, als nicht mithalten zu können. Zwar, man entwickelt – h a t man die Kraft – dabei eine starke Eigenwilligkeit und wird sehr schnell zu einem Character… doch um welchen Preis für ein Kind! um welches Leid! Ich möchte nicht, daß sich mein Sohn anpaßt, ich möchte aber auch nicht, daß er leidet. Also muß ich seine Lehrerin seiner Eigenwilligkeiten halber auf eine ihm gewogene Schiene setzen. Auch wenn das für sie und ihren Tagesablauf Unbequemlichkeiten bedeutet. Mein literarischer Ruf mag dabei helfen, denn auch wenn ich mittlerweile wegen einiger meiner Schriften, etwa der Einlassungen zu BDSM wegen und wegen des verbotenen Buches, für unmoralisch gelten mag, so steh doch i c h im Brockhaus und nicht etwa die andere, ‚moralischere’ Elternschaft. Stirn zeigen, also. Und zeigen, daß mein Junge darin, und im Herzen, enthalten ist. Und scharf verteidigt werden wird.

Um 12.22 Uhr breche ich mit S-Bahn und dann ICE nach Bamberg auf. Abends muß ich mich um die Möglichkeit kümmern, in der Villa Concordia den ersten Hexameter-Part aus PETTERSSON aufzusprechen. Ah, mir kommt gerade eine Idee. Morgen abend wird die Lesung mitgeschnitten werden… ich könnte, das wäre für die Konstruktion des Hörstücks ziemlich gut, eingangs dieses Stück lesen und dann den Mitschnitt in das Requiem montieren… der Hexameter klänge dann wir ein O-Ton. Ja!

8.31 Uhr:
Na, das war ja richtig n e t t , dieses Gespräch. Also erstmal wieder alles im grünen Bereich. Dafür dann beim Heimradeln >>>> eine der grotesken Absurditäten, mit denen sich das Leben von Kleinbürgern schmückt und die ganz besonders Berlin so liebenswert machen. Wenn man denn ein Preuße ist.

13.57 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg. Gluck, Paride ed Elena.]
Die >>>> achte Bamberger Elegie wieder aufgenommen und ziemlich darüber ins Staunen geraten, w i e kräftig sie daherkommt, wie seelenvoll auch; und sofort standen die nächsten beiden Zeilen. Alles geht freilich längst auf den Abschluß und also die neunte Elegie zu, die vom Sterben handeln soll und von den ersten, zaghaften, Blicken des über Fünfzigjährigen darauf, auf das mögliche Sterben will das sagen und so sehr liebevoll dazu passen, daß über entstehendes Leben heute herauskam, was es denn werde, Mädchen u n d Junge nämlich, beides. Da wird der Blick auf den eigenen Tod ganz besonders mild, fast versöhnlich, da doch alles weitergeht und also auch gar keine Notwendigkeit besteht, bereits zu sterben, sondern, sagen wir, Leser, Freiheit.
Und dann ruft >>>> deshalb jemand vom Fränkischen Tag an, eine Dame, von der ich mir aber funklochshalber nicht klar bin, ob es sich um besagte Frau Mayer handelt. Herausgekommen ist nun: Ich möchte am Mittwoch doch s i e aufsuchen, in der Bamberger Innenstadt-Redaktion. Wogegen ich prinzipiell nichts habe, aber das ist der Tag n a c h meiner Lesung, und ich denke mir, es wäre sehr viel angemessener, die fränkische Tagesreporterin setzte sich morgen abend in meine Bamberger Lesung hinein; dann muß sie doch gar keine Fragen stellen, sondern kann zuhören und selbst entscheiden und schreiben, wie es und was eigenständigen Journalisten ansteht – bei Übernahme des gesamten Risikos, das darin besteht, wenn wer über einen wie mich schreibt. Aber das konnte ich ihr nicht mehr sagen, weil die Verbindung wegbrach.
Der ICE erreicht soeben Leipzig.

16.06 Uhr:
[Immer noch ICE Berlin Bamberg, nunmehr kurz vor Lichtenfels.
Immer noch Gluck.]

Also s o w a s von schön, diese Musik! Dabei antwortet man sogar gern auf Unfug und >>>> hab’s ihr also d o c h gesagt. Ist eh ein Tag des Absurden. Dabei fällt mir ein, daß ich Ihnen – eben, à propos – noch die Geschichte vom Concordia-Schlüssel erzählen muß. Weshalb erinnern Sie mich denn nicht dran? Selbst schuld, wenn’s jetzt noch braucht (ich komme gleich in Bamberg an und muß doch a u s h o l e n… w e i t ausholen).

21.34 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Mahler, Zehnte, Barschai-Komplettierung.]
Ein bißchen desolat sitz ich hier und bastele an der Achten Elegie. Aber ich mag noch nichts Neues davon einstellen. Und mein Barschai-Mitschnitt, also die kopierte CD, hat leider deutliche Macken. Und es regnet. Und die Studios aller anderen Stipendiaten sind völlig dunkel; es scheint niemand außer mir dazusein. Und der Federweiße, den ich vor anderthalb Wochen auf dem Markt erstand, ist immer noch zu süß. Aber ich hab grad auch keine Lust, Ihnen die Schlüsselgeschichte zu erzählen, sondern schreibe immer mal wieder drei Wörter zur Elegie hinzu. Auf diese Weise wird denn der Abend verrinnen.

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