Arbeitsjournal. Dienstag, der 14. November 2006. Berlin. Bamberg.

4.52 Uhr:
Eine dreiviertel Stunde einarbeiten, dann packen, dann nach Berlin Gesundbrunnen für den 6.42er ICE nach Bamberg. Die zwölfte Elegie ist tatsächlich lang, und ist die heikelste wohl, weil durch die spezielle Vatergeschichte sehr persönlich, also möglicherweise schwerer übertragbar, als die bisherigen Elegien waren. In diesem Fall werde ich s e h r auf das Urteil der anderen angewiesen sein, bzw. noch ganz besonders kräftige Bilder finden müssen. Es ist ja >>>> der Vater-Gesang eines, der keinen hatte, bzw. dem der Vater versagt war – woraus sich eine sehr spezielle Dynamik dann ergibt, wird er selbst Vater und will nicht alte Muster wiederholen. Die Verhältnisse, denen wir ausgesetzt waren und die uns geprägt haben, wirken in uns weiter, so oder so, die pragmatische Rede von der Emanzipation ist doch eine rein profan-funktionale und übersieht psychisch gewachsene Dispositionen.; der ganze Schwanz der Freiheits-, bzw. Autonomievorstellung hängt daran. Das gilt auch >>>> hierfür und sollte bei den Reaktionen, den BR’s gestriger Eintrag hervorgerufen hat, mitbedacht sein. Es gilt sogar für >>>> die „Schusseligkeit“, die a. dem Mann – objektiv zu recht – ankreidet; subjektiv kann es sich bei ihr um eine unbewußte Botschaft gehandelt haben, die geradezu gegen BR’s Willen von BR an die Frau ging. So etwas, solches Möglichkeiten-Feld, sollte aus der Vater-Elegie herauswehen; nur dann wird sie d e n Grad einer poetischen Verallgemeinerung erreichen, der der Kunst wesentlich ist, die aber wiederum das subjektiv-Persönliche t r ä g t, woraus sie ihre Seele bezieht. Die Anrufung einer Geliebten – diese Emphase ihr gegenüber, wie wir sie alle kennen, wenigstens aus der Jugend noch her (freilich später gernbequem als ‚pubertär’ denunziert) – reicht für die Vaterproblematik nicht hin, um eine identifizierende Basis zu schaffen. (Bei den Elegien insgesamt geht es um Identifizierung, u n d es geht um rationales Erfassen; dieses allein aber schüfe nicht die Kraft, die das lyrische Ich zu einem allgemeinen macht; Ratio erschafft keine Schönheit, die, übrigens, wahrscheinlich ein Phänomen der Wahrnehmung ist und deshalb wahrnehmungspsychologischen ‚Gesetzen’ folgt).
Ich hoffe, BR ist über die in ihrem Spott, ihrer Moral also, und in ihrer Leidenschaft durchaus heftige Reaktion der Leserinnen nicht verschreckt; aber dies auszuhalten, gehört, wenn man ein Öffentliches Tagebuch führt, unbedingt dazu. Übrigens schlagen diese Reaktionen einen innerhalb Der Dschungel geradezu ergänzenden Bogen zu dem, was in die Bamberger Elegien immer wieder als ‚Stolz’, bzw. sogar ‚männlicher Stolz’ thematisiert ist. Man kann daran gut ablesen, wie sehr Frauen ihn erwarten, auch wenn er sozial und/oder im Zeitgefühl längst ins Antiquierte weggerutscht ist. Ähnliches gilt für „Ehre“.
Mit diesen paar Gedanken grüße ich Sie zum Montagmorgen.

6.38 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg; „daheim“: Platz opus 111. Noch Station Gesundbrunnen.]
Bisher n i c h t s an der Zwölften getan. Statt dessen gingen mir vor dem und beim Zusammenpacken die Anfänge zweier Gedichte im Kopf herum, deren eines sich abermals um Geschlechtlichkeit dreht und sich gegen >>>> die Auflösung des Geschlechtsbegriffs wehrt. Was ich mehr hinwarf als skizzierte, geht so:

Credo.

Wenn wir von „Geschlechtern“ sprechen,
So meinen wir’s immer emphatisch.
Mit Leidenschaft sind wir anti-profan
und wie die Tropen erotisch:

Ein Wühlen, ein Schreien, ein Bluten.
Den Geist gibt’s dazu, er betrachtet’s.
Er wendet es nicht (doch versteht es
vielleicht – und dann, im Willen, achtet’s).


Das andere geb ich Ihnen auch als Kostprobe nicht, das ist sich nämlich noch unklar, worauf es hinauswill.

Was mir bei alledem immer deutlicher wird, das ist, wie unzeitgemäß ich bin (der Gedanke ist >>>> dort weiter ausgeführt), wie unzeitgemäß meine Arbeiten sind (auch in den kybernetischen, völlig modernen Feldern) und wie wenig kompatibel deshalb mit dem, was der Markt verlangt. (Was enorme ökonomische Folgen hat, zumal jetzt, wo ich eine – für westliche Verhältnisse – ungewöhnlich große Familie bekomme und, mit der Geliebten zusammen, sehen muß, daß wir existentiell irgendwie durchkommen. Hier aber greift – oder sollte greifen – wiederum Haltung: ‚vernünftig’ wäre, meine Ästhetik dem anzupassen, was einem Einkunft sichert, also zum Wohl der Kinder die Überzeugung zu opfern; das „Wohl der Kinder“ ist aber nicht nur ein existentielles, sondern es stellt sich die Frage auf das allerradikalste: Was gebe ich weiter? In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung zu sehen, die ganz besonders die zwölfte Elegie, die über Vater, haben wird, w e n n sie denn eine hat. Es wirkt der gleiche geschichtsobjektive – moralische, erkenntnistheoretische, ästhetische – Widerspruch, den ich gerade eben >>>> dort für die avantgardistische und ‚reaktionäre’ literarische Kunstform beschrieben (zu beschreiben versucht) habe; und er wirkt konkret. Die >>>> Diskussion über Gummimösen und Dildos gehört, übrigens, in ganz diesen selben Zusammenhang.)

:7.43 Uhr.
[ICE vor Bitterfeld.]

11.33 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Dallapiccola, Liriche greche (Cinque frammenti di Saffo).]Das erste, was ich stets tu, wenn ich mein Bamberger Studio nach etwas Abwesenheit wieder betrete, ist, die Terrassentür zu öffnen. Dann stelle ich die beiden Räder – mein geliehenes Mountainbike und das alte Kinderrad meines Jungen – hinaus. Und dann, sofort, wird der Laptop aufgebaut, mit den kleinen Aktivboxen verbunden und die Programmfolge hochgefahren. Dann erst geh ich dabei, das übrige auszupacken und einigermaßen, oft auch nur nachlässig, irgendwo zu verstauen; denn immer zieht’s mich gleich an die Arbeit.
Noch im Zug hab ich die zwölfte Elegie als Rohling >>>> abgeschlossen und sogar neu formatiert. Als nächstes werd ich sie einmal durchsehen und dann ins Gesamttyposkript einfügen, sowie sie an die Kritiker-Freunde und Freunde hinausmailen. Möglicherweise beginne ich gleich am Nachmittag, nach dem Stundesschlaf, mit der dreizehnten, deren Anfangszeilen ja längst geschrieben sind. Spätestens am Ende der nächsten Woche, Leser, wird das fertige Rohtyposkript der gesamten Elegien vorliegen. Eigentlich kaum zu fassen. Übern Daumen gepeilt, werden das dann 120 bis 130 Buchseiten sein, bei kleinem Druck.
Vorher nun jedoch will ich an diesem kleinen Gedichtchen friemeln, dessen Skizze mein Handgelenk um 6. 38 Uhr hier ins Arbeitsjournal geschüttelt hat. Na ja, wohl eher gestreut. Außerdem trage ich mich schon seit zwei oder drei Wochen mit der Idee eines Gedichtes über Die Eßkastanie, als mir nämlich auffiel, daß sie, ganz ähnlich dem Granatapfel, für mich so etwas wie d i e Frucht ist; und ich habe keine Ahnung, weshalb. Wie jedenfalls dieser mir stellvertretend für südliche Fruchtbarkeit steht, so jener für nördlich/östliche. Seltsam. Ich muß mal ein wenig in meinen mythologischen und symbolischen Lexika herumstöbern (nämlich s t i m m t das objektiv mit dem Nördlich/Östlichen nicht, da die Eßkastanie ebenfalls aus dem mediterranen Raum stammt).

3 thoughts on “Arbeitsjournal. Dienstag, der 14. November 2006. Berlin. Bamberg.

  1. Das Credo gefällt mir! Sowohl Leidenschaft als auch Geist nicken zustimmend.

    Es war übrigens svarupa und nicht ich, die „Schusseligkeiten“ bei PR angekreidet hatte. Ich hatte nur eine gewisse Bewunderung für svarupas Auftritt auf der Betriebsfeier geäußert. Und ein bisschen undeutlich (aber nicht beabsichtigt moralisierend) formuliert, dass Männern eine solch entschlossene Leidenschaft doch eigentlich gefallen könnte. Natürlich nicht svarupas Ex-Mann in jener Situation, das ist klar.

    Ich selber habe schon derartige „Schusseligkeiten“ erlebt, allerdings zu meinen Gunsten. Und meinen Kerl heimlich dafür GELIEBT. Und mich gleichzeitig mit Grausen gefragt, ob ich wohl irgendwann diejenige sein werde, die so behandelt wird. Interessant übrigens, dass in meinem (aber sicher nicht nur in meinem) Fall die Ex-Frau diese „unbewussten Botschaften“, wie Sie, ANH, das nennen, als bewusst von mir gesteuerte Aktionen interpretiert hat. Eiskalte Demütigungs- und Vernichtungsstrategien trauen Frauen sich offenbar eher untereinander als dem dazwischen stehenden Mann zu.

    Bei manchen Frauen habe ich den Eindruck, dass durch fortwährendes Herumgenörgel eine stolze und männliche Reaktion des Partners provoziert werden soll. Bleibt eine solche Antwort aus, wird der Frust nur größer und noch mehr genörgelt. Der Mann wiederum fühlt sich durch die ständige Kritik entwertet und in seiner Männlichkeit verletzt – woher soll er diese dann holen, wenn sie gebraucht wird? Ein Teufelskreis.

    1. „Eiskalte Demütigungs- und Vernichtungsstrategien trauen Frauen sich offenbar eher untereinander als dem dazwischen stehenden Mann zu.“ Sie sind darin auch signifikant besser. Selbst ‚großartige‘ männliche Intriganten versagen an der Frau nahezu immer – von der einzigartigen Intrige einmal abgesehen, die darin bestand und bis heute erfolgreich weiterwirkt, den Ursprung von Welt in den Himmel verlegen zu haben und Frauen rigoros glauben zu lassen, d a ß er sich dort und nicht etwa auf Erden befinde.

      Meine nun e i g e n e Schusseligkeit, >>>> svarupas und Ihren Kommentar durcheinandergeworfen zu haben, lasse ich jetzt stehen; sonst läse sich Ihr genaues Lesen ins Leere.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .