Arbeitsjournal. Montag, der 11. Dezember 2006.

6.17 Uhr:
[Berlin. Küchentisch.]
Nicht sehr viel vorangekommen gestern mit ARGO. Aber Kekse gebacken mit der Familie. Familienvater sein. Als wäre man ein harmonischer Mensch und nicht irgendwie herausgefallen aus der gewöhnlichen Ordnung. Was sich natürlich spürt, daß dem eigentlich alles ganz anders ist. Gespräch über Behaarung, eine, die andre und ich. Die andre erzählt, sie verwende Wachs auf den Armen, die eine wehrt ab: Haare hätten eine Funktion, Natur wisse, weshalb sie sie uns gegeben. Ich wende, leise scharf, ein: „Wir sind aber Kulturwesen. Und wir zeigen das. Manche sind weniger behaart als andere. D i e weniger behaart sind, tragen davon keinen Nachteil.“ In vielem spürbar der Wunsch nach einer Rückkehr in die natürliche Harmonie, von der i c h meine, daß es sie nicht gibt. Und nie gab. Harmonie der Natur meint: das stärkere Gen setzt sich durch. Alles andere ist nachrangig, wenn überhaupt im Focus der evolutionären Dynamik. Wieder kommt mir Freud in den Kopf: „… man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten.“ Glück ist ein chemischer Zustand, der sich zu Zeiten ergibt oder nicht, Ausgleich wahrscheinlich, dem, wie in einer Lösung, zugestrebt wird, der aber zerfällt, sowie ein anderes, neu hinzugekommenes Element schwerkraftartig auf die Moleküle einwirkt. Glück ist sehr wahrscheinlich, wie jeder andere natürliche Zustand auch, begriffslos: daß wir das Wort Glück daraus geformt haben, sagt kaum mehr, als daß wir es zum Ziel sublimierten. In diesem „kaum mehr“ ist die gesamte menschliche Kulturbewegung enthalten, über sämtliche Völker und Nationen hinweg.
Das ist möglicherweise auch der Sinn des Blattes von Maimonides: Indem man sich gebackene Kekse anschaut und sie verziert, kann man in jedem einzelnen Keks die gesamte Weltordnung anschaun. Daran, am Weihnachtsbackwerk, ist letztlich ebenfalls nichts harmonisch, es vollzieht sich alles nach unerbittlichen physikalischen, biologischen Gesetzen. Wir aber haben süßen Duft und Wohlfühlen daraus gemacht, haben einfach die Perspektive gewechselt. D a ß wir sie aber gewechselt haben, hat ganz genau so unerbittliche Gründe.
Bin erst kurz vor sechs auf, hab wieder an dem Afrodite-Gedicht gebastelt, als ich es eben geöffnet vorfand, bin aber noch längst nicht damit durch. Dabei soll es nur ein ganz kleines werden, immer – wie bei fast allen Gedichten – im Blick das Einzelne, das mit einem ungeheuren Allgemeinen konfrontiert, in diesem Fall: von ihm begabt ist. Dabei fiel mir auf, daß bereits das Wort ‚Begabung’ an seinem Grund ein religiöses ist. Genau deshalb, begriff ich, möchte ich Schönheit als eine Begabung erzählen, die sich von anderen ‚Begabungen’ a l s Begabung – von musikalischen, mathematischen, bildnerischen und auch sportlichen – gar nicht unterscheidet: eine Gabe haben. Nicht alle Menschen aber h a b e n Gaben. Schon aus diesem Wissen wird sehr deutlich, daß es keine Harmonie geben kann, keine dauerhafte, und zwar egal, ob man sich dieser Begabung stellt oder ob man selbst oder andere sie unterdrücken: jede Begabung bedeutet deshalb auch Not. Wenn man ‚das Glück’ so sehr in das Leben hineingenommen hat, wie wir es haben. An diesem Gedanken setzt der Buddhismus an. An diesem Gedanken setzt auch das Christentum an. Heidnisch wäre hingegen, die Not als notwendig nicht nur zu begreifen, sondern auch zu fühlen: und selbst im Prozeß zu stehen und stehen zu wollen: T e i l dieses Prozesses, des Lebensprozesses, zu sein. Und daraus so viele Funken zu schlagen, wie es nur geht. Wenn ich mir, übrigens, meinen Schuldenberg unter diesem Blickwinkel betrachte und die – evolutionär gesehen: kleine – Gefährdung durch Zahlungsfehle, Offenbarungseids-Androhungen usw., macht er ganz ruhig, fast zuversichtlich: die von mir aus der Gefährdung geschlagenen Funken sind Dichtungen, und es fragt sich sehr, ob sie o h n e solche Gefährdung überhaupt entstanden wären. Genau das meine ich mit ‚die Gefährdung als einen Teil des Prozesses zu begreifen’ und dann eben: sie zu wollen. Man muß nur dieses leidige Schuldgefühl abstreifen und sich anschauen: was schon entstanden ist, neu entstanden… das alles, all diese Bücher und Hörstücke und und und hätte es nie gegeben; die hab ich aus dem Kampf herausgeschlagen: d a s sind die Funken, Schneide schlägt gegen Schneide. Und eben n i c h t: Wir setzen uns einträchtig zusammen und entwickeln gemeinsam – harmonisch – Kultur.

Gleich bring ich meinen Buben zur Schule; dann seh ich mal weiter, wie dieser Tag wird. Nach Bamberg fahr ich erst morgen zurück.

14 Uhr:
Heute finde ich in die Arbeit überhaupt nicht hinein! Keine Konzentration, sogar ein wenig Überdruß… hin und wieder bastle ich am Aphrodite-Text, dann laß ich wieder ab, schweife hier herum, schweife im Netz, chatte, führe Email-Korrespondenz… aber alles, fast alles, eher fahrig. Seltsamer, loser, auseinanderfallender Tag.

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