Der Bedeutungskitsch und die saugende Magie der Musik. Ferruccio Busonis „Doktor Faust“ an der Staatsoper Unter den Linden.

S e h r langsam, ja dräuend hebt die Musik unter Barenboim an in der Staatskapelle Berlin, wälzt sich sozusagen zu allen Seiten aus und wird Grund und Sog für das Stück, quillt auf, überquillt’s, einige Phrasen drängen sich heraus, scharf konturiert, nicht selten drohend konturiert, man ist ganz benommen. Von allem Anfang an. Nie läßt der musikalische Zug n a c h, der von einem ganz anderen, von einem Antipoden nämlich, gelernt zu haben scheint, von Wagner: wie Leitmotivtechnik, semantische, klingt, was absolut-musikalisch gemeint ist; dies aber hält in Barenboims musikalischer Auffassung und vor allem in der Umsetzung, im drängenden, nie loslassenden Musizieren des Orchesters, die ganze so archetypische und nicht zuletzt deshalb rätselhafte Oper strukturell zusammen. Jede Intonation sagt: Ich habe, Hörer, mir d i r zu tun, d u bist mein Thema! Und wie Warnungen aus uns selbst biegt sich hier mal ein Streicherthema scharf hinauf, biegt sich zum Publikum hinüber: Faß mich nur an, faß mich nur an! Benommen steht man in der ersten Pause vorm Opernhaus, und die Musik warnt und warnt in einem immer weiter – gerade dann, wenn der Blick auf den riesigen Weihnachtsmarkt geht, und davor spielen zwei Indianer angepopte, laut verstärkte Folklore.
Und nicht etwa läßt dieser Sog später nach; wie er sich ziehend und ziehend unter das Stück selber legt, so auch unter den Hörer: machtvoll, unablässig, von Innen überwältigend, schön zugleich wie abschreckend mit der gesamten Magie einer unablässigen Ambivalenz. Nach Naganos Interpretation dieser Faust-Oper von 1997 und einer g a n z anders gelagerten aus den Achtzigern unter Michael Gielen in Frankfurtmain ist Barenboims ganz sicher eine der wirkmächtigsten; sie kittet nicht auf geschlossene Fläche, sie reißt auf, ist aber dennoch nicht ‚nur’ expressiv, sondern hat auch viel von einem postmodern-bewußten Gewebe, das die Ambivalenzen miteinander vermitteln will – überhaupt: Wille ist zu spüren, permanenter, Handschrift zu gestalten und sie durchzusetzen. Was gelingt.
Dazu eine, muß ich sagen, Idealbesetzung. Wenn bei Nagano Dietrich Henschels Faust immer auch nach Fischer-Dieskau klingt, an dessen Interpretation von 1969 er ganz offensichtlich gelernt hat, so ist Roman Trekel ein n i c h t-brüchig vortragender Faust, er geht n i e in die Deklamation, sondern gestaltet seine Rolle mit aller Hoffart, die der Figur eigen ist, ohne daß sich Leid bewußt auf die Zunge legt und einen, so Adorno über Wagners Leitmotive, permanent am Ärmel zupft. Und Jürgen Müller stellt einen Mefistofeles vor, wie man ihn sich heller und kräftiger – um es s o zu sagen: böser, nämlich gemütlos – gar nicht vorstellen mag – die schmalen, zynischen, auch parodistischen Teufelslippen sind hier ganz im Klang zusammengepreßt. Nur Carola Höhn, so schön sie auch singt, gewinnt keinen Ausdruck; ihre Herzogin von Parma, ihre Helena, wirkt erstarrt, auch im musikalischen Ausdruck, aber das – nun, eben – ist der Inszenierung und ist dem Bühnenbild und der Maske… ja: verschuldet. Sie wird nicht als ein Sehnsuchtsbild vorgeführt, sondern wie Olympia in Hoffmanns Erzählungen: weibliche Sexualität als Mechanik. Den weiblichen Eros hat das Regieteam sozusagen desinfiziert, nämlich festgesetzt und mit Gold angestrichen. Da kann Frau Höhn singen, wie sie nur will: ein Weib hat in dieser Inszenierung absolut nichts zu suchen.

Erich Wonder hat schöne, flächige Bilder geschaffen, Postmoderne rundum; und Peter Mussbachs Inszenierung ist die Inszenierung dieser Bilder: in sie geht die Personenführung rein ein. Da Busoni sich auf das Puppenspiel von Doktor Faust bezog und den unterschwellig freilich miterzählten Goethe mied (was für seine auf Struktur und Archetypos angelegte allegorische Konzeption aber eigentlich nur für Faust I verständlich ist; Faust II – abgesehen vom ‚falschen’, erlösenden Schluß der humanistischen Klassik – hätte Busoni doch mehr als nur entgegenkommen müssen), mied er gerade das Erzählmodell der Identifikation. Er stellt T y p o i dar – menschliche Erscheinungen ‚ewiger’ platonischer Ideen, also personifizierte Allegorien und nicht etwa Personen mit individueller Psychologie. Dem trägt Mussbach Rechnung, aber hier auch, genau hier, liegen die Probleme. Denn wenn solche Typoi in Bilder gebettet werden, deren jedes in all seiner Schönheit (bis zum Kitsch des auf die Bühne fallenden Schnees) selbst ein Typos ist, geht die Reibung an der Realität verloren, also die M a c h t der Allegorie, und es stellt sich eine Einheitlichkeit her, die genau jenes Harmonische und Gefällige aufbereitet, das Busoni eigentlich mied. Mag die musikalische Interpretation deshalb auch glutvoll warnen: das Bild kleistert’s wieder zu. Darüber hinaus hilft es wenig, ja schadet, wenn die vorgestellten Typoi auch noch von Klischees abgekupfert zu sein scheinen, und seien es Klischees der unmittelbar zurückliegenden Moderne. Zwar ist Mussbachs Konzept völlig schlüssig, diesen Faust ganz nach innen zu verlegen, ihn als eine Traumfantasie anzulegen; aber zum einen macht ihn das glatt – wir bekommen sozusagen eine „Erklärung“ für das Unverbundene der busoni’schen Konzeption; Mussbach liefert uns die beruhigende, eine aber eben t ä u s c h e n d e ‚Bindung’, deshalb kann man dann d o c h getröstet heimgehn -, zum anderen m ü s s e n die ungeheuren Figuren doch nicht unbedingt aussehen wie aus einem mit Robert Wilson verschnittenen Lehrbuch der träumenden Psychose: die drei Studenten als bechterewgebeugte Methusalixe von Kafka, in denen sich noch der hagere Sargbauer aus dem Wilden Westen zitiert; dazu eine Spur hungernder Nosferatu… aber Kafka sowieso, gemixt mit den Zeitdieben Michael Endes (!), geben dieser Inszenierung die Typ-Ideen geradezu banal vor. Man tritt allgemein im schwarzen (oder grauen) Anzug auf, auch Auerbach ist mit gar nichts andrem als Ende’schen Zeitdieben voll, die sich für die commedia dell’arte ausstaffiert haben; selbst allzu intensive Betrachtung von >>>> „Dark City“ scheint vorausgegangen zu sein; was, ich geb’s zu, eine ungerechtfertigte Assoziation ist, weil Mussbachs Inszenierung, wie dieser Film, eigentlich aus dem Jahr 1999 stammt; die Staatsoper nahm mit der jetzigen Premiere eine damalige Produktion der Salzburger Festspiele wieder auf. Aber schon „Dark City“ bezog sich sehrsehr deutlich auf die einschlägigen Stanzen der ‚Ungeheueren Person’, letzlich von ‚Geistern’ als personifizierten Bildern unbewußter Ängste. Da tut, außer Travestie, Mussbach nichts hinzu.
Sondern glättet es noch. Und nennt das im – ausgesprochen empfehlenswerten – Programmbuch den „Rahmen“, den man diesem Busoni-Faust geben m ü s s e; das Stück sei derart unverbunden, daß es sonst auseinanderfalle. Ja, selbstverständlich! Es gibt den identifikatorischen Rahmen nicht bei Busoni, der s o l l t e ja gerade nicht sein, sondern sein Bezug auf das Puppenspiel ist a u c h einer auf den Moritatengesang (was die in dieser Inszenierung gestrichenen Pro- und Epiloge deutlich genug gemacht hätten). Solch ein Gesang in Tableaux blättert halt Szene für Szene u m. E r ist der Rahmen, da muß kein anderer hinzu. (Der Rahmen ist das Theater selbst, ist die Bühne; davon führt w e g, wenn man die Bühne noch einmal als Bühne inszeniert.) Mussbach übersieht, daß den klammernden Rahmen hier zudem – und vollkommen – die M u s i k gibt. S i e hält die Erzählung zusammen, da muß kein Bildzauberer kommen, um sie zu rechtfertigen – auch nicht, um die Handlung zu rechtfertigen. Die Handlung g e s c h i e h t, punktum. Wie Schicksal. Und wie dieses ist sie rätselhaft und voller Widersprüche. Die Mussbach ebenfalls banalisiert, also ihr eine Bedeutung ‚gibt’, die doch längst schon da ist. Etwa wenn Mefistofeles als Nachtwächter zum Schluß, die Leiche Fausts entdeckend, den rästelhaften Satz spricht: „Sollte dieser Mann verunglückt sein?“ Mussbach/Wonder verdoppeln das Rätsel, machen aber eben ein banales daraus. Denn es schneit und schneit, man sieht eine weite verschneite Fläche, darin ist Faust tot umgesunken. So liegt er da, jenseits von Straße und Haus (auch wenn Mussbachs Konzeption vorsieht, daß „Herr Faust“, wie er ihn in einem Beitrag intentiös permanent nennt, Wittenberg in „Wirklichkeit“ nie verläßt; ein Wittenberg ist in dieser Inszenierung nun überhaupt nicht vorhanden) … so liegt Faust in der verlorenen Ebene tot, und das Rätselvolle an Mefistofeles Frage wird in ein Rätselvolles aus purer Absurdität gedeutet: welche Art ‚Unfall’ sollte hier denn passiert sein können? Indem man darüber nachdenkt, geht das Eigentliche, worüber nachzudenken wäre, verloren: daß ‚verunglückt’ nämlich meint, hier g e s c h a h Unglück. Nicht jemandem, sondern jemandem-für-alle. Unglück-an-sich.
Das Programmbuch übrigens w e i ß diese Spur. Und zitiert Freud: „… man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten.“ Wobei das Programmheft Freud, und zwar n u r hier, in schick-designter Kleinschreibung zitiert. Ebbes. Aus Sinn wird lackschicker Schmock.

Dennoch findet eine wirkliche Reise ins Innere s t a t t: nicht aber der Inszenierung ist das gedankt, sondern Barenboims und der Staatskapelle intensiver Musikführung. Schließt man die Augen, d a n n fällt man hinab. Und zwar ganz so, wie Mussbach/Wonder es wollten: in sich. Nur daß es dazu Mussbach und Wonder nicht braucht. Was s i e dem Stück hinzugegeben haben, ist eine – schöne Verpackung. Leuchtender, doch stereotyper Bedeutungskitsch. Oberfläche halt. Aber. Seien wir froh! Seien wir froh, daß Busonis großes Musiktheater weiterhin gespielt wird. Denn Intensität ist, letztlich, auch Mussbach und Wonder nicht abzusprechen. Wenn es auch eine handliche ist. Doch auch sie reicht Doktor Faustus weiter.

[Geschrieben für >>>> Opernnetz.]

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