Paul Reichenbachs Dienstag, der 30. Januar 2007. Vanitas.

Warum fürchtest du dich vor dem Tod? fragt mich B.
Das ist ein individualistisches und kleinliches Problem.
Und in der Tat, der Mensch ist kleinlich:
Das Problem des Todes ist ein menschliches Problem.
Die Kuh denkt nicht. Die Kuh ist nicht kleinlich.

(Eugene Ionesco: Hunger und Durst.)

Fährbrücke, im Juli 1987

Lieber Paul,
heute feierst Du Deinen 40. Geburtstag. Es ist 20 Jahre her, als wir in Zwickau im Ringcafe saßen. Du hattest Dir für diesen Tag extra frei genommen. Deine kleine Freundin, die Opernsängerin werden wollte, brachtest Du mit. Ihr ständiges Geplapper ließ zwischen uns kein Gespräch zu. Und dabei hatte ich Dir soviel zu erzählen. Von Mizzi, meiner Freundin, die in Wien lebt. Ja, Paul, mit der ehelichen Treue habe ich es nicht sehr genau genommen in meinem Leben. Und ich vermute, Du wirst ähnlich gestrickt sein. Ob Du jemals geheiratet hast und wen und wo Du lebst, weiß ich nicht, hoffe es aber zu erfahren. Denn Deine Sängerin singt morgen im Robert-Schumann -Theater. Ihr Mann begleitet sie am Flügel, so stand es jedenfalls in der Zeitung. Paul ist also nicht ihr Ehemann geworden, dachte ich, als ich den Namen las. Vielleicht hat sie eine Ahnung, wo Du abgeblieben bist. Die Frauen haben mir kein Glück gebracht, ich bin jetzt 68. >>>Mizzi starb vor zwei Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs, wie mir ihr Lebensgefährte in einem erschütterten Brief schrieb.Sie war die einzige die verstand, dass für mich jede Bindung einer Fessel gleich kommt, die so lange an mir scheuert, bis das Blut aus den Adern springt. Es war ein Fehler, kein Irrtum, sich an Bequemlichkeiten zu binden. Ehe und Familie sind faule Gesellen mit denen man Dach und Bett teilt, um auf angenehme Weise dem Tag entgegen zu gehen,wo die Flucht vor sich selbst enden wird. Alle Haken, die ich wie ein Hase schlug, hat das Gedächtnis, dieser unheimliche, grauenvolle Apparat, aufbewahrt. Alles ist Wiederholung. Denn in der Nacht, als Du geboren wurdest, lag ich der bei, die ich dann heiratete, und zeugte Paula, Deine Halbschwester. Meine Frau war eine liebevolle Gattin, einfach von Gemüt, ohne zweifelnde Interessen. Paula ist ihr Ebenbild und das, was die Allgemeinheit als gute Tochter bezeichnet. Sie kümmert sich und ahnt nicht, wie sie mich nervös macht. Jeder Penner hat mehr Freiheit, als ich. Als ich Dich damals im Cafe sah und reden hörte, und Dein Blick sehnsüchtig dem Arsch der Bedienung nachstarrte, Du schautest wie gebannt, wusste ich, dass Du, wenn Du von Freiheit und Gerechtigkeit sprachst, nur zurück zur Möse wolltest. Gleich mir. Die Mütter sind unser Fluch und die Väter werden erst dann unser Abenteuer, wenn wir die Mutter verlassen wirklich verlassen, vergessen haben. Sie können uns nicht entlassen, egal ob gute oder schlechte Sorgerinnen. Das ist ihr Schicksal. Ich hoffe Du hast die Deine verlassen. Sie war eine solche dumme Kuh, einzig mein Blick auf ihren Prachtarsch, machte Dich möglich. Kennst Du Ionesco, in der DDR ist er ja verboten. Die bekloppte, hiesige marxistische Meinung sieht in ihm einen dekadenten Dramatiker, der “fortschrittsfeindlich die führende Rolle der Arbeiterklasse negiert.” Ich habe alle Dramen von ihm gelesen, Mizzi, brachte sie eines Tages, es war ungefähr 1967, nach Prag mit, ein Jahr vor dem illusorischen Frühling. Und ich fand sie wunderbar verstörend. Lies mal die „Nashörner“, „Die kahle Sängerin“ oder „Hunger und Durst“ und Du wirst irritiert von der Komik des Protestes sein, der sich dagegen wendet alles und allem einen sozialen Sinn zu zuweisen. Wir sind Biologie, Paul. Anderes ist Gerede. Wunsch und Illusion. Und Revolte ist nur Gebärde. Freiheit, freier Wille lassen sich nur noch in der Kunst und Literatur illusionär gestalten und sind auch da nur eitles, kleinliches Etikett. Ich hoffe für Dich, dass Du abgelassen hast von Deinem Gesellschaftsveränderungswahn, und einigermaßen klar kommst im Leben.

Dein Vater.

21.00 Uhr .
Wer solche Briefe schreibt, ich war nahe dran sie zu verbrennen, dessen Sohn kann ich nicht sein.

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