Ich weiß heute nicht mehr genau, was gestern alles so geschah. Denn als ich mich stadtfein für einen Empfang machte, zu dem ich vom Bürgermeister eingeladen worden war, ahnte ich noch nicht, dass mich Wein und Sekt hinstrecken werden. Anlass war die öffentliche Ehrung eines Bekannten, den ich sehr schätze, obwohl wir Welten auseinander liegen. Aus Gründen der Diskretion spare ich hier mir die Details. Über das steife Zeremoniell, das in der Regel solche Veranstaltungen fast unerträglich werden lässt, will ich auch kein Wort verlieren. Jeder, der sich schon einmal bei ähnlichen Anlässen in einen Anzug zwängen musste, weiß schon vorher, frühestens beim Rasieren, dass er sich auf einen Lebenszeitverlust einlässt, der durch nichts wieder wettgemacht werden kann. Und trotzdem kann es bei derartigen Ereignissen passieren, dass plötzlich Ungewöhnliches eintritt. So auch gestern. Ich hatte Appetit auf eine Zigarette und suchte nach dem Rauchereck, das sich leicht fand und gesellte mich zu drei Frauen, eine davon, so um die Fünfzig, rothaarig, schlank, mit vom Leben gegerbten Gesicht, standen dort. Schwätzten, tranken und rauchten. Das Gespräch drehte sich um den Überfall von Rechtsextremen im Anhaltinischen auf eine Theatertruppe. Sie alle drei heftig an ihren Zigaretten ziehend, schienen von dieser Angelegenheit sehr betroffen. Ich fand das, immerhin liegen Halberstadt und Dessau nicht in Hessen, recht merkwürdig. Erst als die Rothaarige mich ansprach wurde mir einiges klar. „Ich kenne sie, wir haben eine Bekannte gemeinsam“, sagte sie mit leicht jiddischen Akzent und ergänzte, ihre Augen strahlten, „die Malerin X.“ Und da wusste ich Bescheid. Denn die Künstlerin, Jüdin, wer das TB von Anfang an mit gelesen hat wird sich erinnern, war jene >>>Frau, die mir einmal zum Geburtstag einen Mantel geschenkt hatte. Im Nachhinein erklärte sich manches.
Die drei Frauen, extra zur Feier aus Israel angereist, hatten auf den alltäglichen Rechtextremismus einen ganz anderen Blick als ich, der sich, angeekelt von brauner Gewalt, lieber gern bei Jean Paul, statt in die Zeitung verkriecht. Was mich gestern Nachmittag sehr selbstkritisch und nachdenklich stimmte. Nach dem dritten Glas Wein, von der Politik waren wir längst abgekommen, gingen wir zum Du über, verließen die Festivität und suchten in einer russischen Kneipe neue Heimat. Es war 2 Uhr als ich ziemlich betrunken mich ins Bett legte. Sentimental und mit zerknittertem Gesicht sang ich heute Morgen vor dem Spiegel im Bad mit krächzender Raucherstimme Villon:
Im Sommer war das Gras so tief,
dass jeder Wind daran vorüberlief.
Ich habe da dein Blut gespürt
und wie es heiss zu mir herüberrann.
Du hast nur leise mein Gesicht berührt,
da starb er einfach hin, der harte Mann,
weils solche Liebe nicht mehr gibt…
Ich hab mich in dein rotes Haar verliebt.
>>>Wir treffen uns heute am Abend im Klingspor in Offenbach.
Rote Haare … sind immer anziehend, finde ich. 😉
Die steifen Festivitäten haben Sie sehr gut beschrieben- aber wenn es fruchtbringende Gespräche gibt, hat man wenigstens noch etwas davon.
Viel Spaß in der Ausstellung!
P.s.: Michael Perkampus hat ja Villon ganz fantastisch vertont, wie Sie sicher schon bemerkt haben.