Ein Jahr Tagebuch!
Kinder, wie die Zeit vergeht. Das vergangene Jahr bestätigt diese banale Feststellung, die mein Großvater, mit leicht resigniertem Klang in der Stimme, immer an seinem Geburtstag zu machen pflegte, wenn wir Enkel ihm selbstgebastelte Geschenke überreichten. Seine Zigarre, Marke Handelsgold, glühte in solchen Momenten im Aschenbecher vor sich hin, ihr Rauch schwebte wie feine Fäden, die sich irgendwann im Nichts verloren, durch das Wohnzimmer, die Gute Stube. Nur zu besonderen Anlässen wurde sie genutzt und Geburtstag war ein solcher Anlass. Neben dem Sessel, indem er mit weißem Hemd und Fliege die Beine überkreuzt saß, auf einem kleinen Tisch ein Weinglas voller Kognak, erwartete er unsere Glückwünsche und strich jeden, wir waren 3 Jungs, lange und zärtlich über den Kopf, um dann lapidar festzustellen: Ihr müsst mal wieder zu Otton. Otto, sein Barbier, ein kleiner Mann, leicht gedrungen mit Glatze, die zu seinem selbstgebrauten Haarwuchsmittel einen schreienden Widerspruch darstellte, hieß eigentlich Oskar Zengel, war Umsiedler aus dem Sudetenland, im Westen nannte man sie Flüchtlinge, und Witwer. Seine Frau war auf dem Treck in die damalige Ostzone an „Kummersucht“ gestorben.
Im Güterwagen zwischen Decin und Dresden, so berichten in meiner Heimatstadt die Alten noch heute, habe sie seufzend ihren letzten Atemzug ausgeatmet.
Seit dem habe ich keine Haare mehr, büschelweise fielen sie mir innerhalb zweier Tage aus, sagt er, nervös klappert die Schere, und erzählt ausführlich einem jeden Kunden, ob der das nun hören will oder nicht, die Todesgeschichte seiner Frau. Um dann nach einigen Minuten Stille, die Unterhaltung wendet sich nun wieder den Haaren zu, zu ergänzen, als der Kunde leicht süffisant auf die offenkundige Kollision von Friseurglatze und Haarwässerchen hinweist, der Tschechendeibel hat sie mir geklaut. Die eigene Rührung unterdrückend, wie um sich selbst zu trösten, beendet er das Gespräch, dabei hält er einen Handspiegel hinter den Kopf des frisch Frisierten, und murmelt vor sich hin: Kinder, wie die Zeit vergeht….
Zufrieden, der Herr? Das macht 1,10.
„Raum und Zeit verschwinden mit den Dingen.“ behauptet Einstein. Das mag sein. Nicht aber verschwinden für mich die Menschen, auch wenn sie schon lange eine neue Tulpenart in Schwung bringen. Otto, Oskar Zengel, erhängte sich im fremden Wald, im Kirchenholz, an einer starken Birke. Es war der 13. August 1961. In Berlin hatten sie eine Mauer gebaut. >>>An jenem Tag, ich war in Erfurt, sollte ich Heidi begegnen. Sie hatte volles, blondes Haar und einen weichen Mund.